Obwohl es vertraut wirkte, wie Jonathan sich in die Decke gewickelt auf den Hocker vor den Ofen setzte, wusste Thomas nicht, wie genau er diese Unterhaltung beginnen sollte. Es gab da ein paar Dinge, die er einfach wissen musste, unter anderem, was das Verhältnis zwischen den beiden Brüdern ausmachte. Mareikes diesbezügliche Zurückhaltung hatte ihm jedoch klar gemacht, dass das ein möglicherweise heikles Thema war.
Er wollte Jonathan nicht bedrängen. Wenn er auf diese Weise einen Keil zwischen sie beide triebe, wäre seine Hoffnung auf das Rudel Geschichte: Jonathan war seine einzige bisher noch schwache Verbindung zu einem Haufen fremder Leute, von denen er nicht wusste, ob er überhaupt mit ihnen klar kam. Doch natürlich war der Werwolf nicht nur Mittel zum Zweck. Er war vor allem auch sein Freund. Thomas mochte ihn sehr. Trotzdem brauchte er dringend Antworten und Erklärungen. Er würde sich mit seinen Fragen also vorsichtig vorantasten, bis er erfuhr, was er wissen musste.
„Willst du was trinken? Soll ich uns einen Tee machen?“
Er war nicht durstig, doch instinktiv spürte Jonathan, dass es nicht wirklich um Tee ging. Also nahm er das Angebot an, beobachtete die routinierten Handgriffe, mit denen sein Freund einen Campingkocher anwarf, Wasser in einem kleinen Topf erhitzte und ein paar getrocknete Kräuter hineingab. Pfefferminzduft breitete sich langsam in der Hütte aus.
„Warum hast du dir überlegt, doch nicht mitzukommen?“, fragte Jonathan nach einer Weile.
Thomas ließ sich einen Moment Zeit, bevor er, den Blick weiterhin auf den Tee fokussiert, antwortete. „Dein Bruder kann mich nicht besonders gut leiden.“
„Ach, das stimmt nicht. Er braucht nur ein bisschen, glaub mir!“
Doch die aufmunternden Worte verfehlten ihre Wirkung. Bedächtig schüttelte Thomas den Kopf. „Ich glaub, ich wär kein gutes Rudelmitglied.“ Dann erst hob er den Blick und sah Jonathan an. „Auch, wenn Mareike versucht hat, mir ein paar Dinge zu erklären – ich versteh nicht, warum du so komisch bist, wenn er in der Nähe ist.“
Diese Worte ließen Jonathan stutzen. „Inwiefern komisch?“
Der Anflug eines Lächelns huschte über Thomas‘ Gesicht. Er fischte die Kräuter aus dem Wasser und goss die Hälfte des Tees in einen Becher, den er Jonathan reichte. Dann erst setzte er sich auf sein Bett, stellte den Topf auf einem Regalbrett ab und konzentrierte sich auf ihr Gespräch.
„Du lächelst noch nicht mal zur Begrüßung, solange er sich noch nicht entschieden hat, wie er sich verhält. Egal, was du tust, du schaust immer erst zu ihm rüber und checkst, ob auch wirklich okay ist, was du vorhast. Du redest noch nicht mal unbefangen. Wenn das das Leben als Rudelmitglied ist, man irgendeine Strafe fürchten muss, weil man nicht genau so agiert, wie der Leitwolf das mag oder man gegen irgendeine ungeschriebene Regel verstößt, dann ist das Rudel nichts für mich.“
Jonathan war völlig verblüfft. „Nein“, stammelte er, „So ist das doch gar nicht.“ Wie konnte er dieses Missverständnis nur aufklären?
Thomas nickte, als habe er diese Reaktion erwartet. „Mareike verhält sich tatsächlich anders als du. Nicht ganz so ... unterwürfig.“
Dieses letzte Wort traf Jonathan. Er war ein Werwolf, Unterwürfigkeit war keine Eigenschaft, mit der er beschrieben werden wollte. Und Sebastian war ja nicht nur sein Leitwolf, wodurch er Respekt verdiente, sondern auch sein großer Bruder – ihre Beziehung war anders, etwas Besonderes. Er war Jonathans einzige enge Familie – dass ihr Verhältnis einzigartig war, konnte man doch leicht nachvollziehen, oder etwa nicht?
„Hey.“ Thomas‘ sanfte Stimme lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch. „Das war kein Vorwurf oder so. Ich versuch einfach nur, es zu verstehen.“ Dann lächelte er. „Ich mag, wie du bist, wenn wir hier sind. Offen und gut gelaunt und irgendwie du selbst. Sobald aber dein Bruder in der Nähe ist, bist du nicht mehr mein Kumpel, mein Freund, sondern ... ich weiß auch nicht. Bitte erklär’s mir. Wenn das im Rudel nicht normal ist, was ist das dann zwischen euch beiden?“
Jonathan sah ihn eine Weile an, ohne etwas zu erwidern. Einerseits wollte er Thomas einfach erzählen, wie alles angefangen hatte, wie Sebastian schon immer der gewesen war, der für ihn da war. Andererseits würde er dazu weit ausholen müssen – und vielleicht über Dinge sprechen, die er niemandem außer seinem Bruder je anvertraut hatte. Und eigentlich kannte er Thomas nicht besonders gut. Er hatte nur ein starkes, aber unbestimmtes Gefühl von Verbundenheit, von Auf-einer-Wellenlänge-Sein, das ihm vermittelte, dass er diesem Mann vertrauen konnte. Aber trog ihn diese Empfindung wirklich nicht? Was, wenn er sich irrte?
Endlich rang er sich zu einer Entscheidung durch. Er würde es tun. Thomas war sein Freund, ihm konnte er vieles, vielleicht sogar alles erzählen. Und falls sich dieses Bauchgefühl doch als falsch herausstellen sollte, dann lieber jetzt gleich.
„Sebastian ist mein großer Bruder. Unser Vater, Theodor, war ein Werwolf, unsere Mutter wohl Kinfolk. Sie hat sich aber selbst nie so bezeichnet.“ Die Erinnerung an seine Eltern erzeugte ein Lächeln auf Jonathans Gesicht, das jedoch verschwand, als er weitersprach. „Es gibt Werwolfjäger, Thomas. Leute, die überzeugt sind, dass unsere Spezies ausgerottet werden muss, und die den Großteil ihrer Freizeit damit verbringen, uns aufzuspüren und kreative und völlig unverdächtige tödliche Unfälle für uns zu arrangieren. Und solche Leute haben wohl meinen Vater erwischt.“
Er schluckte, konzentrierte sich darauf, die Erzählung möglichst an einem roten Faden entlang zu führen. Daher hob er bittend die Hand, als Thomas ihm eine Frage stellen wollte, und war dankbar für die Geduld seines Freundes.
„Ich weiß gar nicht genau, was passiert ist. Ich war damals noch ziemlich klein, fünf vielleicht – so klein jedenfalls, dass ich noch nichts von Werwölfen und all diesen Dingen verstand. Alles, was ich wusste, war, dass mein Vater tot war und meine Mutter mit uns fortzog. Hierher.“
Er nahm einen Schluck Pfefferminztee. Er war zu heiß, aber er brauchte gerade dringend etwas, um seine Kehle zu befeuchten. Werwölfe heilten schnell.
„Meine Mutter hat immer gehofft, dass Sebastian und ich uns nicht verwandeln würden. Sie hat uns erzogen wie Menschenkinder – dachte ich zumindest. Inzwischen weiß ich, dass ich vieles aus der Welt der Nicht-Kinfolk-Menschen immer noch nicht wirklich verstehe, aber das ist ein anderes Thema.“
Nachdenklich drehte er die Tasse in den Händen. „Sebastians erster Vollmond war entsetzlich. Er hat geheult, geschrien, sich vor Schmerzen gekrümmt und fast die ganze Zeit geweint. Ich saß hilflos daneben, bis meine Mutter mich weggeholt und in mein Zimmer gebracht hat. Sie dachte, es wäre weniger schlimm, wenn ich es nicht mit ansehen müsste, aber ich hab es ja nicht einmal verstanden, weißt du? Ich hab ihn nur gehört, den ganzen Abend und die ganze Nacht durch. Ich hatte jahrelang Albträume davon.“
Er wandte den Blick zum Ofen, um sich möglichst unauffällig eine Träne aus dem Augenwinkel zu wischen. Rasch sprach er weiter.
„Er war völlig fertig, als ich mich am nächsten Morgen in sein Zimmer geschlichen habe. Aber trotzdem hat er mich unter seine Decke schlüpfen lassen und mich in den Arm genommen. Er hat mir an diesem Morgen so viel erzählt. All das, was unser Vater ihm erzählt hat, übers Werwolfdasein. Über die Verwandlung. Dass es immer einfacher wird und nur am Anfang schlimm ist, wenn man es noch nicht richtig kann. Und er hat mir versprochen, dass er mir alles beibringt, falls ich auch ein Wandler bin.“ Diesmal wischte er sich unverhohlen über die Augen.
„Und er hat immer Wort gehalten. Er hat mir alles beigebracht, Thomas. Das Wandeln. Das Pirschen. Das Schleichen. Das Ausredenerfinden für Vollmondtermine. Das Verbergen von Werwolfeigenheiten – na ja, so weit es eben möglich ist. Jedem von uns merkt man es irgendwie ein bisschen an.“ Für einen Augenblick huschte ein Lächeln über sein Gesicht. „Meine Mutter war großartig, versteh mich nicht falsch, aber sie war kein Werwolf. Sie hielt das für einen Fluch. Er nicht. Er war mein ganzes Rudel. Mein einziger Bezugspunkt und meine einzige Informationsquelle. Von klein auf war er nicht nur mein großer Bruder, sondern auch mein Leitwolf – verstehst du das? Er hat immer auf mich aufgepasst, insbesondere, wenn andere mich wegen meiner Eigenheiten gehänselt haben. Und das macht er bis heute. Das ist das zwischen uns.“
Und Thomas verstand. Er hatte sich über die Beziehung der Brüder im besten Fall gewundert, sie im schlimmsten sogar verlacht. Er hätte nie vermutet, dass eine so tiefgründige Geschichte dahintersteckte. Mit diesem Hintergrundwissen durchschaute er plötzlich so einiges: Zum Beispiel die absolute Autorität, die Sebastian ausstrahlte – einerseits, weil er es wohl gewohnt war, sich allein durch alles durchkämpfen zu müssen, andererseits, weil er Verantwortung für Jonathan empfand. Oder dessen Verehrung für seinen Leitwolf und Bruder und die übertriebene Angst, die einzige Person zu verärgern, die einem wirklich nahestand. Und auch, was Mareike meinte, als sie ihn warnte, nicht zwischen die Geschwister zu geraten. Sie hatten offenbar jahrelang nur einander gehabt – so etwas schweißte zusammen.
Und in diesem Moment wurde ihm klar, warum Sebastian ihm so ablehnend gegenüberstand. Thomas hatte immer gedacht, der Leitwolf könne ihn einfach nicht leiden – doch jetzt vermutete er, dass er schlicht Angst vor ihm hatte. Angst, dass der Neue sein Territorium zumindest teilweise beanspruchen könnte. Und sein Territorium, das war in diesem Fall sein kleiner Bruder.
Thomas fragte sich, wie seine Freundschaft zu Jonathan wohl verstanden wurde. Er mochte ihn, er mochte ihn sogar sehr, aber er war nicht an einer romantischen Beziehung zu ihm interessiert. Ja, der Werwolf war sympathisch und beileibe nicht unattraktiv – aber das hier war einfach etwas anderes. Es war wie mit Sam ...
Rasch schob er die Erinnerungen an seinen ehemals besten Freund beiseite. Dafür hatte er jetzt keine Zeit. Er musste dafür sorgen, dass seine Freundschaft mit Jonathan nicht in einem Chaos aus Missverständnissen unterging.
Wie reagierte er am besten auf das Vertrauen, das ihm mit dieser persönlichen Geschichte geschenkt worden war? Er wollte nicht nachbohren, traurige Eindrücke weiter ausgraben, als sie ohnehin schon frei lagen. Es war ihm ein Bedürfnis, positiv auf das Gesagte zu reagieren – dass Jonathan mit der Verehrung seines Bruders eindeutig übertrieb, konnte er auch ein andermal ansprechen. Da fiel ihm die Stelle ein, die seinen Freund kurz zum Lächeln gebracht hatte.