Sebastian lächelte entschuldigend, als Steffi ihn halb amüsiert, halb genervt von der Seite ansah. Er zappelte seit gut zehn Minuten auf dem Beifahrersitz herum, wippte mit den Beinen, trommelte mit den Fingern auf den Knien und veränderte gefühlt jede Minute seine Sitzposition. Natürlich lenkte sie das vom Fahren ab, aber Sebastian konnte es einfach nicht abstellen: Er spürte den Ruf des Vollmonds schon jetzt und war so voll Energie, die er irgendwie abbauen musste, dass er einfach nicht still sitzenbleiben konnte.
Jonathan erging es genauso. Als sie in die Straße einbogen, in der er arbeitete, stand, nein, tigerte er bereits vor dem Gebäude auf und ab. Kaum hatte Steffi den Wagen angehalten, sprang Sebastian auch schon aus dem Auto, dankbar für den Auslauf, und zog seinen Bruder in eine kurze, feste Umarmung, bevor er ihn ungeduldig zur hinteren Tür schob. Doch das war völlig unnötig – genau wie er strahlte Jonathan so viel Vorfreude aus, dass jede Aufforderung überflüssig war.
Die Fahrt dauerte zwar nur eine halbe Stunde, aber Steffi legte dennoch zwischendrin eine Pause ein, um den Brüdern ein wenig Bewegung zu ermöglichen. Aus Erzählungen wusste Steffi, dass es immer anstrengender wurde, den Wolf in sich zu unterdrücken, je näher der Vollmond kam. Sie wollte ihre beiden Lieblingswölfe nicht unnötig leiden lassen. Still schmunzelnd stand sie am Auto, während die beiden kurz den Parkplatz erkundeten. Sie verhielten sich schon jetzt fast wie energiegeladene Wölfe.
Den Freitag vor großen Rudeltreffen nahm sich sie gerne frei, um die beiden von der Arbeit abzuholen. Sie konnte sich trotz des nahen Vollmonds problemlos auf den Straßenverkehr konzentrieren und war deshalb froh, die Brüder fahren zu können.
Nach der zweiten Hälfte der kurzen Fahrt, die sie über enge Straßen stetig bergauf durch den Wald führte, erreichten sie den winzigen Ort, an dessen Rand das Elternhaus von Barbara, ihrer Leitwölfin, lag. Obwohl es erst kurz vor dreizehn Uhr war, standen bereits mehrere Fahrzeuge vor dem alten Gebäude. Obwohl der Vollmond erst abends aufgehen würde, hatten sich offenbar viele Rudelmitglieder den Freitag freigenommen, um das Beisammensein am Nachmittag zu genießen.
Sie ignorierten die Haustür und begaben sich direkt in den großen Garten hinter dem Haus. Julius mit Familie, Adrian, Drifa und ein paar Kinfolk waren schon da. Kaum waren die drei Neuankömmlinge entdeckt, wurden sie mit fröhlichem Lachen und lautstarken Begrüßungen willkommengeheißen.
Julius, der heute ausgesprochen gut gelaunt war, stellte ihnen seine Frau und seinen kleinen Sohn vor, der die fremden Leute aus der Sicherheit von Papas Armen heraus neugierig musterte. Mareike begrüßte Jonathan mit großem Hallo, Adrian umarmte alle herzlich und Drifa tat es ihm gleich.
Sebastian war insgeheim erleichtert, dass Drifa nicht mehr jedes Rudelmitglied küsste, wenn sie es begrüßte. Für ihn, der fast ausschließlich unter Menschen aufgewachsen war, fühlte es sich einfach falsch an. Aber er vermutete, dass es umgekehrt für Drifa schwierig sein musste, es zu unterlassen – sie lebte seit ihrer Geburt als Wolf und verstand viele menschliche Verhaltensweisen bis heute nicht, versuchte nur, sie zu kopieren. Für sie war eine Umarmung, egal wie herzlich, ein schlechter Ersatz für das Schnauzelecken, mit dem sich Wölfe begrüßten.
Mit einem Ohr lauschte Sebastian den Komplimenten, die Adrian Steffi für ihr Aussehen machte. Der Junge konnte es einfach nicht lassen! Doch Sebastian wusste, dass die Flirtversuche mehr Gewohnheit denn ernst gemeinte Avancen waren, und so unterdrückte er den Instinkt, den Jüngeren anzuknurren. Adrian war nicht dumm – er wusste, dass er ihn nicht zu einem Kampf herausfordern sollte, indem er seine Partnerin umwarb!
Unwillig schüttelte den Kopf. Er dachte schon viel zu sehr wie ein Wolf ... Nur noch ein bisschen durchhalten!, ermahnte er sich selbst und machte sich daran, das anwesende Kinfolk zu begrüßen und ihnen beim Aufstellen der Tische und Bänke unter dem Pavillon zu helfen.
Gemeinsam hatten sie den Aufbau schnell erledigt und die Leckereien und Getränke, die Barbara aus der Küche brachte, auf den Tischen verteilt. Ohne Aufgabe fühlte Sebastian sich wieder unruhig. Wann würden die anderen endlich eintreffen?
„Um wie viel Uhr geht der Mond auf?“, fragte ihn Marie, Barbaras Tochter.
„Vier vor acht“, antwortete er prompt. Natürlich hatte er nachgesehen, wie immer.
Sie nickte. „Du weißt, dass du dich vorher schon verwandeln kannst, wenn du magst – der Garten ist gut abgeschirmt. Du darfst nur nicht heulen.“
Er lächelte ihr dankbar zu. „Ja. Danke. Ich warte noch auf die anderen.“
Es fiel ihm zusehends schwerer, Mensch zu bleiben, doch er würde ausharren. Einerseits war es eine gute Übung in Selbstkontrolle, andererseits wollte er nicht, dass ausgerechnet er als Erster nachgab. Von einem Leitwolf erwartete man, dass er das Rudel stets verantwortungsvoll im Blick behielt und sich Versuchungen erst hingab, wenn er wusste, dass alle sicher und vereint waren. Er war fest entschlossen, Leitwolf zu werden – also musste er sich auch dementsprechend verhalten.
Hoffentlich würden die anderen nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen.
Die Letzten, die neunjährige Svenja und ihre Eltern, trafen erst kurz vor Mondaufgang ein. Sebastian spürte den Zwang, sich zu verwandeln, inzwischen so stark, dass es ihm schwerfiel, an etwas anderes zu denken. Dementsprechend knapp fiel auch seine Begrüßung aus.
„Da seid ihr ja.“ Er schenkte den drei Kinfolk, die den Garten betraten, ein mattes Lächeln.
Barbara hatte sie ebenfalls entdeckt und kam zu ihnen herüber. Sie zeigte kaum Anzeichen, dass der nahende Vollmond an ihrer Selbstbeherrschung zerrte – eine Eigenschaft, die in Sebastian immer wieder Bewunderung auslöste. Barbara war allgemein dafür bekannt, dass sie durch kaum etwas aus der Ruhe zu bringen war.
„Wo sind Laura und Martin?“, fragte sie ohne Einleitung nach den beiden anderen Kindern des Paares.
Der Vater, Wolfgang, sah betreten zu Boden. „Laura ist im Kofferraum“, gestand er dann. „Wir würden gern in die Garage fahren, damit sie durch das hintere Garagentor in den Garten kommen kann, ohne dass sie jemand sieht. Martin ist bei ihr im Auto geblieben, damit sie sich nicht alleine fühlt.“
Der Tadel, den er von der Leitwölfin offenbar erwartet hatte, blieb aus. Barbara nickte nur und lächelte. „Mach dir keine Sorgen“, sagte sie dann. „Es ist normal, dass sie dem Drang, sich zu verwandeln, noch nicht so lange widerstehen kann. Sie ist ja fast noch ein Kind.“ Dann wurde ihre Miene ein wenig strenger. „Warum seid ihr nicht einfach früher gekommen?“
Angelika, die Mutter, ergriff das Wort. „Wir wollten schon um 14 Uhr losfahren. Aber dann hat sie es nicht mehr ausgehalten und wurde eine halbe Stunde vorher Wolf – und wir mussten warten, bis die Nachbarn nicht im Garten waren, damit wir sie zur Garage bringen konnten.“ Sie seufzte, frustriert und besorgt zugleich. „Wie soll man so etwas einplanen?“
Sebastian schüttelte den Kopf. „Gar nicht. Aber glaub mir, sie wird es schon bald besser kontrollieren können. Es ist erst ihre ... fünfte Verwandlung, richtig?“
Die Eltern tauschten einen Blick. „Ja“, bestätigte Angelika dann. Ihre Augen schweiften durch den Garten, in dem schon einige Wölfe umhertollten und insbesondere mit den anwesenden Kindern spielten. „Aber ... wann ist ‚bald‘?“
Barbara lachte. „Alle, die ihr hier seht, könnten durchaus auch jetzt, eine Stunde vor Mondaufgang, noch Mensch werden. Es ist einfach nur angenehmer, nicht gegen den nahen Vollmond ankämpfen zu müssen. Na los – hier ist der Schlüssel, fahrt in die Garage. Befreien wir Laura aus dem engen Kofferraum!“
Erst, als auch die jüngste Werwölfin zum Rudel gestoßen und von den anderen begeistert begrüßt und beschnüffelt oder gekrault worden war, legten auch Sebastian und Barbara ihre Kleidung ab.
„Pass mir auf den Haufen hier auf“, sagte Sebastian lächelnd zu Steffi, als er ihr das Bündel überreichte.
„Und du auf den da drüben.“ Sie deutete mit einer Kopfbewegung zu den aufgeregten Wölfen hinüber, die sehnsüchtig darauf warteten, dass die Leitwölfin und ihr Stellvertreter sich endlich zu ihnen gesellten. Dann küsste sie Sebastian zum Abschied und trat zwei Schritte zurück.
Auch, wenn sie das Schauspiel schon häufiger gesehen hatte, faszinierte die Verwandlung ihres Gefährten sie immer wieder. Aufgrund seiner Erfahrung dauerte der Gestaltwechsel weniger als eine halbe Minute, und am Ende stand anstatt ihres gutgebauten, attraktiven Gefährten ein großer, schwarzer Wolf mit grauem Bauch vor ihr. Der leckte ihr einmal begeistert übers Gesicht, bevor er zu den anderen hinübersprang und mit dem ganzen Rudel durch eine Lücke im Zaun in den nahen Wald schlüpfte.