Thomas hieß er also. Lächelnd ergriff Jonathan die angebotene Hand und schüttelte sie kurz. Er würde mit ihm reden! Erleichterung durchflutete ihn – endlich würde er Fragen stellen, falsche Annahmen korrigieren, antworten können! Begeistert ließ er seinen Worten freien Lauf.
„Es freut mich, endlich deinen Namen zu erfahren, Thomas. Wirst du dich diesmal mit mir unterhalten? Ich würde dir gerne mal antworten können, wenn du mir etwas erzählst, auch, wenn du meine Meinung zur Kaninchenjagd erstaunlich gut erraten hast.“
Verlegen sah Thomas zur Seite. „Das tut mir leid ... ich wusste ja nicht, dass der Wolf ... dass du mich verstehst.“ Dann gab er sich einen Ruck, sein fester Blick fand Jonathans und hielt ihn. „Du bist ein Gestaltwandler, oder?“
Jonathan atmete tief durch. Thomas war ein Freund klarer Worte – er sollte besser nicht ausschweifen.
Dann nickte er. „Ja. Ich bin der Wolf.“
„Scheiße“, fluchte Thomas leise und starrte ihn an.
Sofort schob Jonathan eilig hinterher: „Ich würde es dir gern ausführlicher erklären. Ich habe deine Gesellschaft immer sehr genossen, ich wäre froh, wenn du mir eine Chance gibst und mit mir redest.“
Kopfschüttelnd stieß Thomas die unbewusst angehaltene Luft aus und rieb sich über die Augen. „Oh Mann. Und ich dachte immer, das seien Fantasiegeschichten“, murmelte er und seufzte.
Energisch rief er seine sich überschlagenden Gedanken zur Ordnung. Alles klar, es gab Gestaltwandler, und dieser Jonathan hier war tatsächlich einer. Verstanden. Das war zwar überraschend, aber mit unerwarteten Wendungen kam er klar. Die angeblichen Verbündeten wendeten sich gegen einen, ein Patient, der eben noch mit einem gescherzt hatte, fiel plötzlich ins Koma, sein wölfischer Kumpel war ein gestaltwandelnder Mensch – akzeptiert. Er würde sich wie üblich an die Situation anpassen und reagieren und erst später genauer nachdenken – jetzt galt es, die Lage erfolgreich zu überstehen.
„Setzen wir uns.“ Er deutete an die Stelle vor der Hütte, an der er sich häufiger aufhielt.
Jonathan war enttäuscht, dass er nicht wie sonst ins Innere der Hütte gebeten wurde, fügte sich aber wortlos und nahm auf dem Boden neben Thomas Platz, der sofort ein Stück von ihm abrückte.
Er ermahnte sich, Geduld mit ihm zu haben – er durfte nicht erwarten, dass Thomas die soeben erhaltenen Informationen einfach hinnahm. Jonathan musste ihm Zeit geben, das alles zu akzeptieren, und dazu war es wichtig, ihn nicht zu bedrängen und seine Fragen zu beantworten. Und damit wollte er nun endlich anfangen.
Dennoch fühlte er sich betrogen. Er wusste, dass Thomas eigentlich sein Freund war, dass er ihm gegenüber Vertrauen gefasst hatte, mit ihm redete. Das Misstrauen und die offensichtliche Vorsicht, die ihm in menschlicher Gestalt entgegenschlugen, verletzten ihn. Woher auch immer die Gewissheit kam, er wusste ganz genau, dass es anders sein müsste, dass Thomas ihn akzeptieren müsste, wie er war, egal in welcher Form! Warum tat er das nicht?
Er riss sich zusammen. Das war Quatsch – Thomas war immerhin nur ein Mensch, oder? Er drängte seine Emotionen in den Hintergrund.
„Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich sanft und sah auf Thomas‘ Hände, die der im Stoff seiner Hose verkrampft hatte.
„Äh, ja. Klar.“
Die Antwort kam ein bisschen zu schnell, und Jonathan seufzte. Wie sollte er dieses Gespräch nur angehen?
Ach, er würde einfach aussprechen, was er dachte. Was sollte schlimmstenfalls passieren? Er war sich ganz sicher, dass Thomas alles verstehen und akzeptieren würde!
„Weißt du, ich hatte mir echt überlegt, ob ich noch mal herkomme. Als Mensch, meine ich. Ich habe mich unheimlich wohlgefühlt mit dir, habe wahnsinnig gern deine Geschichten angehört. Als Mensch hast du mich immer verjagt, so wie scheinbar alle anderen auch, aber als Wolf hatte ich das Gefühl, du freust dich, mich zu sehen. Lag ich da falsch?“ Er warf Thomas einen zögerlichen Blick zu.
Der sah ihn zwar nicht an, schüttelte aber den Kopf. „Nein“, beantwortete er Jonathans Frage. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust und sah ins Tal hinunter, dorthin, wo das Dorf lag. „Es war schön, wenn der Wolf hier war. Es ... Ach, ich weiß auch nicht.“ Eine überraschende Erkenntnis formte sich in seinem Geist. „War schön, nicht allein zu sein“, gestand er sich selbst dann leise ein.
Na also! Jonathans Augen leuchteten auf: Genau diesen Gedanken musste er in Thomas vertiefen. Eifrig erwiderte er: „Wenn es dir gefallen hat, warum verweigerst du dann jeglichen Kontakt? Du musst hier oben nicht so alleine sein, das weißt du doch, oder?“
Thomas schnaubte abfällig. „Ja, klar. Ich bin freiwillig hier, Mann! Irgendwann zeigen doch alle ihr wahres Gesicht, das kann ich mir auch ersparen.“ Er fühlte sich offenkundig unwohl, seine ganze Körperhaltung war angespannt und abweisend.
Das war die falsche Frage gewesen. Die barsche, unzugängliche Art, mit der Thomas Menschen zu begegnen pflegte, war zurück – dabei war Jonathan doch so nah dran gewesen! Verärgert über sich selbst biss er sich auf die Unterlippe. Er musste die Sache behutsamer angehen! Also bemühte er sich um Geduld, gab dem Anderen Zeit für weitere Erklärungen, doch offenbar hatte der kein Interesse daran, seine Worte näher zu erläutern.
Nach einigen Minuten brach Jonathan das unangenehme Schweigen. „Tut mir leid“, sagte er leise. „Ich bin es inzwischen gewohnt, dass du mir solche Sachen offen erzählst. Ich habe dir immer interessiert zugehört, und jetzt, wo ich endlich die Möglichkeit habe, dir Fragen zu stellen, vertraust du mir nicht mehr ... Ich bin wirklich derselbe, als Wolf wie als Mensch!“ Thomas wusste das, ganz sicher! Jeden Moment musste er es erkennen, und dann würde alles wieder so sein wie zuvor!
Zaghaft lächelte Jonathan ihn an. „Ich erkläre es dir.“ Ohne darüber nachzudenken streckte er die Hand aus, um sie auf Thomas‘ Schulter zu legen, Nähe herzustellen, doch der wich ihm verärgert aus.
„Lass das“, fauchte er. „Es ist schon seltsam genug, zu wissen, dass du mit mir gekuschelt und im selben Bett geschlafen hast. Was willst du wirklich?“ Ärger blitzte in seinen Augen auf, mit denen er Jonathan argwöhnisch musterte.
Der starrte ihn entgeistert an. Er warf ihm ernsthaft sein Verhalten als Wolf vor, erwartete, dass er in dieser Form genauso agierte wie ein gewöhnlicher Mensch? So sehr er sich auch um Ruhe bemüht hatte, jetzt riss sein Geduldsfaden. Warum verstand Thomas nicht endlich? Jonathans Instinkt sagte ganz eindeutig, dass der andere das konnte!
Mühsam unterdrückte er die Wut, die aus seiner Frustration erwuchs, und sagte: „Himmel, ich verstehe ja, dass du dich komisch fühlst, dass es nicht leicht ist, Dinge zu akzeptieren, die ihr Menschen für übernatürlich haltet. Aber das ist doch kein Grund, mir plötzlich mit Misstrauen und sogar Ablehnung zu begegnen! Was soll ich denn noch tun, um dein Vertrauen zurückzugewinnen?“ Er wurde immer lauter, rang frustriert die Hände und suchte in Thomas‘ Gesicht nach dem erwarteten Verständnis.
Doch aus dessen verengten Augen traf ihn nur ein stummer, abweisender Blick.
Thomas kannte dieses Spiel zur Genüge. Immer und überall wurde Verständnis von ihm verlangt. Er sollte einem Gestaltwandler vertrauen? Wer wusste schon, was der wirklich von ihm wollte! Er ließ ihn reden – vielleicht offenbarte er ja etwas, wenn er die Nerven verlor. In menschlicher Gestalt würde er ganz sicher mit ihm fertigwerden.
Da Thomas nicht reagierte, biss Jonathan die Zähne zusammen und atmete tief durch. Er würde es mit Erklärungen versuchen. „Du bist ein netter Mensch, ich mochte dich von Anfang an, und das nicht nur, weil du mir geholfen hast. Ich will dir ein Freund sein, und das nicht nur als Wolf – aber ausgerechnet in der Form, in der ich mit dir reden kann, weist du mich immer ab! Aber ich bin nun mal beides, und ich kann es nicht trennen!“ Seine Stimme hatte mittlerweile einen flehenden Ton angenommen, doch es war ihm egal.
Dann endlich ergriff Thomas wieder das Wort. „Ich hab dich nie darum gebeten“, knurrte er. „Mir ging es prima hier oben, bevor du aufgetaucht bist! Mir hat nichts, rein gar nichts gefehlt!“
Diese offensichtliche Lüge brachte Jonathan vollends in Rage. Allen guten Vorsätzen zum Trotz übernahmen Enttäuschung und Frustration die Worte, die er ihm nun an den Kopf warf: „Dann erklär mir doch um Himmels willen einfach, was ich nicht verstehe!“ Fordernd wies er auf die Hütte. „Warum verkriechst du dich hier in deinem Schneckenhaus? Bist du nie auf den Gedanken gekommen, dass dir vielleicht doch was fehlt, wenn dir schon die Gesellschaft eines Wolfs so gut tut?“
Jetzt reichte es! Wütend sprang Thomas auf die Füße und sah mit geballten Fäusten auf Jonathan hinunter. „Das geht dich überhaupt nichts an, verdammt! Lass mich doch einfach in Frieden!“
Jonathans Miene verhärtete sich. Langsam erhob er sich und griff nach dem Rucksack. Er war verletzt, obwohl er sich bemühte, es nicht zu zeigen, die Kiefermuskeln anspannte, als verhindere das, dass man in seinem Gesicht las. Seine Augen brannten vor maßloser Enttäuschung, aber er war entschlossen, keine einzige Zornesträne zu vergießen, solange der Andere es sehen und als Schwäche auslegen konnte.
Bitter sah er Thomas an.
„Gut. Ich gehe“, erwiderte er nüchtern und ruhig. „Keine Sorge, ich werde dich nicht weiter belästigen. Ich habe dir mein Vertrauen geschenkt, dich in mein Geheimnis eingeweiht, und alles, was ich wollte, war ein einfaches Gespräch. Doch selbst das willst du nicht, meine Freundschaft schon gar nicht. Denk mal drüber nach – wenn du jeden abweist, der dich mag, findest du nie wieder Gesellschaft.“
Dann drehte er sich um und verließ ihn, ohne zurückzublicken.