„Er weiß es einfach nicht besser, Sebastian. Ganz sicher. Bitte sei nicht so!“
Immer wieder gingen Sebastian diese Worte durch den Kopf, die Jonathan gemurmelt hatte, sobald Mike für einen Moment außer Hörweite gewesen war.
Zuerst hatte er sich geärgert, dass sein kleiner Bruder ihn so unverhohlen beeinflussen wollte. Das tat er praktisch nie. Aber genau diese Erkenntnis hatte den Leitwolf nach kurzer Zeit nachdenklich werden lassen. War er tatsächlich unfair gegenüber dem Neuen? Handelte der wirklich aus Unwissenheit? Wie würden Menschen dessen Verhalten beurteilen? Er brauchte einen verlässlichen Rat in dieser Frage und hatte nicht viel Zeit, bis Mareike und Thomas mit der Pizza zurückkehren würden. Also ergriff er die nächste sich bietende Gelegenheit und zog sich für ein kurzes Telefonat mit Steffi zurück.
„Frag ihn einfach“, lautete ihr Rat. „Er hatte sicher einen Grund, im Garten auf euch zu warten. Ich könnte nur spekulieren, glaube aber nicht, dass er absichtlich unhöflich sein wollte.“
Es dauerte im Anschluss an ihr Gespräch noch einige Minuten, bis Sebastian diesen Rat akzeptierte. Es gefiel ihm nicht, für Thomas eine Ausnahme machen zu müssen – respektloses Verhalten sollte immer geahndet werden. Konsequenz bot allen Rudelmitgliedern Stabilität und Verlässlichkeit. Andererseits war Thomas kein Rudelmitglied, zumindest noch nicht. Es musste sich sogar erst noch herausstellen, ob er überhaupt Kinfolk war. Sebastian konnte ihm gegenüber also ein wenig nachsichtiger sein, ohne dass sein Ruf als Leittier darunter litt.
Daher bemühte er sich um ein Lächeln, als Mareike und Thomas mit dem Abendessen zurück waren. „Danke fürs Holen“, sagte er, nahm ihnen die Kartons ab und bedeutete Thomas mit einer Kopfbewegung, ihm in die Küche zu folgen. „Hilf mir mal.“ Es war Zeit, offen mit diesem Mann zu reden.
„Warum hast du im Garten auf uns gewartet?“, erkundigte Sebastian sich direkt, kaum dass die Küchentür hinter ihnen geschlossen war.
Thomas verzog keine Miene und sah ihm ehrlich ins Gesicht. „Ich wollte kein Aufsehen erregen. Die Nachbarn hätten sich gewundert, wenn ich vor dem Grundstück herumgelungert wäre.“
Die Erklärung überraschte Sebastian. Er hatte die Menschen, die in dieser Straße wohnten, immer als freundlich wahrgenommen. „Warum sollten sie das?“
„Die Leute hier halten mich für einen komischen Kauz. Wenn so einer sich länger vor einem leer stehenden Haus herumtreibt, weckt das ihr Misstrauen.“
Das klang erstaunlich einleuchtend. Sebastian dachte darüber nach, während er Messer und Gabeln aus der Besteckschublade nahm. Als er sich wieder Thomas zuwandte, überraschte der ihn damit, dass er das Wort ergriff.
„Kann ich offen mit dir reden?“
Das machte Sebastian neugierig. Er nickte.
„Wir hatten einen echt schlechten Start“, fing Thomas an. „Ich weiß jetzt, dass ich verdammt unhöflich zu dir war. Das tut mir ehrlich leid, es war keine Absicht.“ Ein kurzes Lächeln zuckte über seine Lippen. „Krieg ich noch eine Chance, das zu beweisen?“
Er verbarg es zwar, doch insgeheim gefiel Sebastian Thomas‘ knappe, präzise Art. Aber als stellvertretender Leitwolf war es seine Pflicht, einen Anwärter erbarmungslos unter die Lupe zu nehmen. Er durfte sich nicht von ansprechenden Eigenheiten des Neulings oder den Sympathien seines Bruders leiten lassen. Und welches Interesse hatte Thomas eigentlich an Jonathan? Diese Frage nagte beständig in seinem Hinterkopf, doch er schob sie vorerst beiseite.
„Unwissenheit ist keine Entschuldigung“, erwiderte er in möglichst neutralem Tonfall. „Dennoch bekommst du noch eine, nicht zuletzt, weil du es von dir aus angesprochen hast. Sieh zu, dass du schnell lernst – andere werden dir vielleicht nicht so leicht verzeihen.“ Dann drückte er ihm das Besteck in die Hand. „Die Pizza wird kalt. Die anderen warten bestimmt schon – bring das raus, ich hole noch Servietten und was zu trinken.“
Er war froh, dass Thomas dieses Gesprächsende und damit auch seine Autorität akzeptierte.
Jonathan fühlte sich elend. Er hatte sich so sehr auf dieses Wiedersehen mit Thomas gefreut, doch seit sie hier waren, schien alles schiefzugehen.
Sebastian hatte wohl eine ziemlich anstrengende Woche hinter sich. Er war schon auf der Autofahrt wortkarg gewesen, hatte aber jedes Angebot zu einem Fahrerwechsel abgelehnt. Jonathan hatte gehofft, dass er sich entspannen würde, wenn sie ankamen – doch so war es nicht gekommen.
Thomas hatte sie im Garten erwartet. Im Garten! Auf dem Grundstück! Jonathan war das Herz bis in die Kniekehlen gerutscht, als er ihn dort entdeckt hatte. Und obwohl die Zeichen vergleichsweise subtil waren, hatte er die Wut seines großen Bruders sofort bemerkt. Vermutlich war es nur Mikes Anwesenheit zu verdanken, dass Sebastian sich zusammengerissen hatte ...
Mareike hatte wohl recht: Menschen und Werwölfe konnten nicht ohne Vorbereitungen miteinander auskommen. Thomas verhielt sich merkwürdig, seit er hier war, und gerade bei der Szene im Garten war Jonathan aufgefallen, wie sehr sich Menschen von Kinfolk unterschieden. Galt es denn in Thomas‘ Welt nicht als gefährlich, ungefragt Territoriumsgrenzen zu verletzen? Bat man bei einem offenkundigen und derartig eklatanten Verstoß gegen die Regeln nicht um Verzeihung? Vermutlich nicht, ansonsten hätte sein Freund diese Respektlosigkeit ganz bewusst begangen, und das konnte Jonathan sich nicht vorstellen.
Verstand Sebastian, dass Thomas das aus Unkenntnis tat und nicht, um ihn zu ärgern?
„Hey“, unterbracht Mareike Jonathans besorgte Gedanken. „Das wird schon!“
Er wandte seinen Blick von der geschlossenen Küchentür ab und sah sie an. „Was denkt er jetzt bloß von mir?“
Mike hob überrascht die Augenbrauen. „Thomas? Weil du nicht verhindert hast, dass er in die schlechte Laune deines Bruders reingeraten ist? Ach, mach dir keinen Kopf! So einen schlechten Tag hat doch jeder Mal! Wahrscheinlich entschuldigt sich Sebastian grade bei ihm.“
Mareike lachte leise und gab ihrem Freund einen Kuss auf die Wange. Manchmal beneidete sie ihn um seine Unwissenheit bezüglich der Werwolfwelt. „Ich hab Thomas beim Pizzaholen ein paar Tipps gegeben, wie er besser mit unserem Herrn Anwalt klarkommen kann. Das wird schon!“
Die letzten Worte verfehlten die geplante Wirkung auf Jonathan, den eigentlichen Adressaten dieser Information, nicht. „Danke“, sagte der so voll Erleichterung, dass Mike ihm einen verwirrten Blick zuwarf. Aber wie konnte der Mensch auch ahnen, wie kompliziert das Aufeinandertreffen von Thomas und Sebastian wirklich war.
Während des gemeinsamen Abendessens herrschte eine angenehme Stimmung. Mareike, Sebastian und Thomas unterhielten sich über schöne Spazier- und Wanderwege in der Gegend, Jonathan schmiedete mit Mike Pläne für ihr morgiges Vorhaben. Zunächst wollten sie sich einen groben Überblick verschaffen, am besten gleich nach dem Essen, und am nächsten Tag so viel in Angriff nehmen wie möglich. Das Loch im Dach des Gartenschuppens war bereits untersucht, doch auch der Keller war dafür bekannt, regelmäßig mit kleineren bis größeren Überraschungen aufzuwarten.
Thomas beteiligte sich zwar rege an der Unterhaltung mit Mareike und Sebastian, warf aber immer wieder einen Blick zu Jonathan hinüber und grübelte. Er hatte sich sehr darauf gefreut, ihn wiederzusehen, und nun war der so distanziert. Woran lag das? Hatte Thomas sich nicht nur Sebastian, sondern auch Jonathan gegenüber irgendwie falsch verhalten? Himmel, wie kompliziert war diese Werwolfwelt? Oder lag es daran, dass die anderen dabei waren? Bislang waren sie sich immer nur zu zweit begegnet – beeinflusste die Anwesenheit anderer Leute seinen Kumpel so sehr? Dass er sich dem Leitwolf gegenüber respektvoll verhielt, leuchtete Thomas dank Mareikes Erklärung inzwischen ein, auch, wenn er nicht verstand, wie sich jemand derartig von der Laune des eigenen Bruders abhängig machen konnte. Und wenn er Mareikes Gesichtsausdruck richtig gedeutet hatte, war das geradezu unterwürfige Verhalten Jonathans auch nicht unbedingt normal. Er sollte ihn dazu besser selbst befragen, hatte sie gemeint – und das hatte Thomas fest vor. Sobald er endlich mal in Ruhe mit seinem Kumpel reden konnte!
Er bemühte sich, seine Ungeduld zu zügeln, doch langsam fiel es ihm schwer. Es war schön, die anderen drei kennenzulernen, mal wieder eine Pizza zu essen, sich zu unterhalten. Aber er merkte auch, dass er es nicht mehr gewohnt war, seine Pläne an andere Personen anzupassen – er wollte nicht weiter warten, sondern jetzt mit Jonathan reden und dessen ungewöhnlichem Verhalten auf den Grund gehen.
Außerdem wurde ihm die Gesellschaft und die Aufmerksamkeit der anderen langsam zu viel. Es war paradox – einerseits sehnte er sich danach, wieder Teil einer Gemeinschaft, eines Rudels, wie Jonathan es ausgedrückt hatte, zu sein, aber andererseits überforderte ihn der Trubel um ihn herum.
„Ich sollte langsam aufbrechen“, sagte er daher in die Runde. „Es dauert ‘ne Weile, bis ich zuhause bin.“
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Jonathan den Mund öffnete, um etwas zu sagen, doch Sebastian war schneller. „Alles klar“, sagte der Leitwolf, „Komm gut heim und gute Nacht. Wann kannst du morgen hier sein?“
Thomas zuckte mit den Schultern. „Prinzipiell jederzeit. Wann soll ich?“
„Eigentlich ist das völlig egal“, meinte Sebastian, bevor er sich Mareike zuwandte. „Du wolltest dir von ihm die Gegend zeigen lassen, richtig? Dann entscheide du.“
Das war die Geschichte, die sie sich für Mike ausgedacht hatten. Der kannte Mareikes Wanderleidenschaft. Sein Gesichtsausdruck verriet jedoch, dass er nicht allzu begeistert war, dass seine Freundin den ganzen Tag mit einem ihm völlig unbekannten Kerl durch die Botanik spazieren wollte.
Dieses leichte Missfallen verstärkte Thomas‘ Unruhe zusätzlich. Er hatte schon genug damit zu tun, Jonathans Verhalten zu ergründen, da konnte er weitere Spannungen wirklich nicht gebrauchen. Er musste hier dringend raus und sich diese ganze Ausflugssache noch einmal durch den Kopf gehen lassen! Ein Leitwolf, der ihn nicht leiden konnte, eine freundliche Kinfolk-Dame mit ihrem potenziell eifersüchtigen Freund und sein Kumpel, der ihm wie verwandelt vorkam. Wollte er mit denen wirklich mitfahren?
„Komm doch einfach, wenn du morgens wach bist und deine Sachen gepackt hast“, schlug Mareike vor. „Wir werden dann schon sehen, was hier alles zu tun ist, ob wir besser irgendwo helfen oder wirklich ein bisschen wandern gehen können.“
Sebastians Nicken erklärte diesen Vorschlag zum Beschluss, ohne dass irgendjemand anderes etwas dazu sagen musste. In Thomas brodelte es – nicht mal da hatte er ein echtes Mitspracherecht? Jonathan schuldete ihm eindeutig einen ganzen Haufen Erklärungen!
Er stand auf. „Ich mach mich dann mal auf den Weg. Danke für die Pizza.“ Dann warf er seinem Kumpel einen hoffnungsvollen Blick zu. „Begleitest du mich noch ein Stück?“
Doch Mikes Einwurf machte diese Hoffnung zunichte. „Wir müssen das Tageslicht noch für einen Überblick der Außenfassade nutzen, Jonathan.“
Nur für einen ganz kurzen Augenblick sah Thomas so etwas wie Bedauern über dessen Züge huschen.
„Na gut.“ Jonathan warf Thomas einen entschuldigenden Blick zu. „Wir sehen uns dann später.“
Hatte Mareike nicht behauptet, Werwölfe seien viel emotionaler als Menschen? Also, davon war hier überhaupt nichts zu bemerken! Thomas hingegen hatte Mühe, seinen Ärger und seine Enttäuschung zurückzuhalten. Ohne weitere Worte nickte er in die Runde und verließ frustriert das Haus. Er hatte gerade wirklich die Nase voll von diesen Werwölfen!