Sebastian seufzte, als sein Mobiltelefon vibrierte und seine Aufmerksamkeit von der aktuellen Akte ablenkte. Hätte er es doch nur ausgeschaltet, anstatt es lediglich stumm zu stellen! Andererseits brauchte er nach einer Stunde konzentrierten Arbeitens ohnehin eine Pause. Schicksalsergeben klappte er den Laptop zu und griff nach dem Telefon.
Stirnrunzelnd las er die eingegangene Nachricht ein zweites Mal. Sie stammte von Lukas und warnte ihn, dass „der Verrückte aus den Bergen“ Jonathan suche. Nachdenklich tippte er ein schlichtes „Danke für die Info“ als Antwort und legte dann sein Telefon beiseite.
Was sollte das denn jetzt? Was hatte den plötzlichen Sinneswandel bei diesem Thomas ausgelöst? Weshalb ging die Nachricht an ihn, nicht an Jonathan? Und warum warnte Lukas ihn, statt ihn nur zu informieren? Empfand er Thomas etwa als Bedrohung?
Sein Blick verfinsterte sich. Er würde diesen Kerl auf keinen Fall an seinen kleinen Bruder heranlassen, wenn Lukas ihn als Gefahr einschätzte. Außerdem hatte der Kerl Jonathan schon genug Kummer bereitet – erst gestern Abend hatte der sich entschlossen, so schnell wie möglich wieder heimfahren zu wollen, bevor er die halbe Nacht mit seinem Videospiel Frust abbaute. Sebastian würde ihn nicht mit Thomas‘ unberechenbarem Sinneswandel weiter belasten. Es reichte!
In diesem Moment klingelte das Festnetztelefon. Sebastian beeilte sich, den Hörer abzunehmen, damit Jonathan durch das Klingeln nicht geweckt wurde.
„Hallo?“
„Grüß dich, Sebastian. Hier ist Clara.“ Das wusste er bereits. Er hatte ihre Stimme sofort erkannt, sie hatte sich seit ihrer gemeinsamen Schulzeit kaum verändert. Wenn er wegen des möglichen Hausverkaufs bei der Bank gewesen war, hatte er auch immer Clara begrüßt, die dort inzwischen hinter dem Schalter arbeitete. Was wollte sie wohl samstagmorgens um diese Zeit von ihm? Fehlte etwas in den Unterlagen?
„Hallo Clara“, erwiderte er den Gruß. „Wie kann ich dir helfen?“
„Ich wollte dir nur kurz Bescheid geben, dass der Mann, der Jonathan die Holzfigur verkauft hat, auf dem Weg zu euch ist.“
Er stutzte. „Was für eine Holzfigur?“ Doch noch bevor Clara antwortete, kam ihm ein Verdacht. Hatte Thomas Clara benutzt, um an ihre Adresse zu kommen? Eine derartige List hätte er ihm gar nicht zugetraut – da hatte er ihn wohl unterschätzt.
„Na, die hübsche Wolfsfigur! Jonathan hat sie schon bezahlt, aber der Verkäufer hat den Zettel mit eurer Adresse zuhause vergessen. Ich dachte, ich sag rasch Bescheid, damit er euch nicht beim Frühstück überrascht.“
Claras fröhliche Stimme bewies, dass sie gerne geholfen hatte. Sie hatte ja keine Ahnung, was sie da angerichtet hatte!
Doch Sebastian war dank einiger seltsamer Klienten an Situationen gewöhnt, in denen er freundlich bleiben musste, und verbarg routiniert seine wahren Gedanken. „Ah, verstehe! Vielen Dank für die Information, Clara! Leider muss ich schon wieder Schluss machen – dir noch einen schönen Tag!“
„Klar, ich helf doch gerne. Bis bald!“ Damit beendete sie das Gespräch.
Sebastian starrte für einen Moment verärgert auf das Telefon hinunter. Dann drehte er sich abrupt um und zog sich Schuhe an, um Thomas entgegenzugehen.
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Eine dichte Hecke versperrte den Blick auf das Grundstück, auf dem das zweistöckige Haus mit großem Garten stand, dem Thomas sich näherte. Er schmunzelte – wer außer ihm vermutete wohl noch den wahren Anlass für den gepflegten Sichtschutz?
Er wollte gerade nach einer Klingel suchen, als sich das Tor, das in die Sträucher eingebettet war, öffnete. Vor ihm stand Jonathans Bruder, den er bereits von dessen unerwartetem Besuch am Morgen nach dem Unfall kannte. Sein eigener Besuch schien hingegen keine Überraschung zu sein – der Mann vor ihm musterte ihn kurz, bevor er ihm mit verschränkten Armen demonstrativ den Weg versperrte.
Missmutig realisierte Thomas, dass er sich zwar überlegt hatte, was er zu Jonathan sagen könnte, dessen Bruder aber bei seinen Vorformulierungen völlig außer Acht gelassen hatte. Schlechte Vorbereitung! War er so aus der Übung, wenn es um die Planung von Missionen ging? Und warum reagierte der Bruder plötzlich so ablehnend auf ihn?
Bevor er eine Gelegenheit bekam, die Frage zu stellen, sprach der Andere ihn an. „Was willst du?“ Die Höflichkeit, die er trotz seiner Sorge in der Hütte noch an den Tag gelegt hatte, war verschwunden.
Thomas kam ohne Umschweife zur Sache. „Ich möchte mit deinem Bruder reden.“
„Er will aber vielleicht nicht mit dir reden!“ Der Tonfall verriet deutlich, dass sein Gegenüber nur mühsam Aggression unterdrückte. Verdammt, was lief hier schief?
„Vielleicht? Könntest du ihn das nicht einfach fragen?“
Die Frage veränderte die Situation. Die Körperhaltung des Anderen zeigte klare Kampfbereitschaft, als wolle er das Grundstück verteidigen, und er ließ ein grollendes Knurren hören.
Als er in die vor unterdrückter Wut verengten Augen sah, kam Thomas die Situation plötzlich bekannt vor.
„Du bist der andere Wolf“, stellte er verblüfft fest. Wieso war ihm das nicht gleich klar gewesen? „Du wolltest ihn vor mir beschützen –“
„Ja.“ Sein Gegenüber versuchte gar nicht, es zu leugnen. Leise, bedrohlich fuhr er fort: „Und diesmal werde ich es richtig machen. Du hast ihm schon ausreichend Kummer bereitet – verschwinde und lass ihn in Ruhe!“
Thomas ließ sich das Unwohlsein, das Sebastian mit seinem Verhalten in ihm auslöste, nicht anmerken und hielt seine Position. „Hey, ich habe inzwischen kapiert, dass ich mich wie ein Arschloch verhalten habe. Ich will mich entschuldigen!“
„Tja, zu spät!“ Siegesgewissheit glomm in Sebastians Augen. „Wir verschwinden morgen. Ich glaube wirklich nicht, dass er noch mal mit dir reden wird.“
Das hier war also wirklich seine letzte Chance? Das weckte zusätzlichen Kampfgeist in Thomas. „Komm schon, Mann – frag ihn einfach selbst!“, forderte er.
Mit einem geringschätzigen Lächeln auf den Lippen sah der Andere ihn an. „Sonst was?“
Thomas griff nach dem ersten Gedanken, der ihm in den Sinn kam. „Ich könnte allen erzählen, was ihr seid!“
Nun lachte sein Gegenüber verächtlich auf. „Als ob dir Verrücktem irgendwer glauben würde!“
Diese Worte ernüchterten Thomas wie ein Eimer kalten Wassers und ließen ihn resignieren. Den Ruf des verrückten Einsiedlers hatte er tatsächlich, und er hatte ihn mit Hingabe gepflegt, um seine Ruhe zu garantieren. Das rächte sich jetzt. Er hatte nichts in der Hand – für ihn war die Schlacht verloren. Eine seltsame Leere breitete sich in ihm aus.
„Gut. Ich gehe“, gestand er seine Niederlage ein. „Aber bitte – richte Jonathan aus, dass es mir leidtut. Ich würde gerne noch mal mit ihm reden. Er weiß ja, wo er mich findet, falls er sich doch anders überlegt.“
Mit diesen Worten drückte er dem vom leichten Sieg überraschten Sebastian die Wolfsschnitzerei in die Hand und wandte sich ab. Wenn Jonathan, der einzige Mensch oder was auch immer, der ihm in den letzten Jahren mit Offenheit begegnet war, nicht mehr mit ihm redete, würde er keine Antworten auf seine Fragen, keinen weiteren Einblick in diese interessante Welt erhalten. Sebastian hatte ihm gerade eindrücklich die Tür vor der Nase zugeschlagen, und er hatte zu wenig Zeit, um sich einen Plan B auszudenken. Er wusste, wann sich das Kämpfen nicht mehr lohnte - und dies war eine der Situationen, in denen Rückzug die einzig sinnvolle Option war.