Das gemeinsame Mittagessen war schon lange vorbei, als sich die fröhliche Gemeinschaft langsam auflöste. Es kam selten vor, dass Vollmond so perfekt auf ein Wochenende fiel, sodass nicht nur die Werwölfe, sondern auch fast das gesamte Kinfolk Zeit für ein gemütliches Beisammensein hatten. Erst im Januar würde sich wieder die Gelegenheit für ein großes Rudeltreffen bieten – schade, dass es dann zu kalt sein würde, um den weitläufigen Garten ausgiebig zu nutzen.
Es war bereits später Nachmittag, als Sebastian, Jonathan und Steffi aufbrachen. Wieder übernahm sie das Steuer.
„Ich glaube, ich brauche heute kein Abendessen mehr“, sagte sie nach einigen Minuten zu Sebastian. „Was auch immer Julius da alles gezaubert hat, es macht pappsatt.“
Der Angesprochene nickte träge. Die körperliche Verausgabung der Vollmondnacht und das gute Essen hatten ihn schläfrig werden lassen. „Ich auch nicht.“ Er gähnte verstohlen hinter einer Hand, bevor er weitersprach. „Das war ein wirklich schönes Rudeltreffen.“
Jonathan kicherte auf dem Rücksitz. „Und die Eichhörnchen waren am Freitagabend echt noch aktiv!“
Sebastian prustete vor Lachen, und Steffi warf den beiden einen irritierten Blick zu.
„Wovon redet ihr?“
„Laura“, erklärte Sebastian, als er sich wieder gefangen hatte. „Sie liebt es, Eichhörnchen zu jagen. Zum Glück hat sie nur eins erwischt.“
Steffi verzog das Gesicht. Sie mochte die possierlichen kleinen Tierchen und fand es furchtbar, wenn die Wölfe ihnen nachstellten. Es gab keinerlei Grund dafür außer den Spieltrieb, der bei Laura als sehr junger Werwölfin noch ausgesprochen dominant war.
Sebastian, der den Gesichtsausdruck seiner Freundin registrierte, wechselte das Thema. „Ich habe mit Barbara über Thomas gesprochen, Jona.“
Der wurde schlagartig ernst und sah seinen Bruder erwartungsvoll an. „Und?“
Sebastians Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Du kannst ihn einladen. Zwar nicht zum nächsten Rudeltreffen, sondern nur so und ein paar Rudelmitglieder kommen ihn dann beschnuppern, aber immerhin.“
Einen Augenblick herrschte Stille im Auto, dann lachte Jonathan erfreut auf. „Das heißt, ich muss nicht bis zum nächsten Voll- oder Neumond warten!“, stellte er das Offensichtliche fest. „Wann fahren wir wieder zum Haus, Sebastian? Wir könnten ihn direkt mitnehmen!“
Keiner der beiden Brüder hatte während des Gesprächs auf Steffi geachtet. Die hatte jedoch alle Aufmerksamkeit, die sie nicht für den Verkehr aufbringen musste, auf den Wortwechsel gerichtet.
„Ihr solltet das möglichst bald erledigen“, mischte sie sich nun ein. „Je früher all das mit der Erbschaft angegangen wird, desto besser. Fahrt doch nächstes Wochenende! Vielleicht hilft euch das bei der Entscheidung, ob ihr das Haus behalten wollt oder nicht.“
Als Jonathan sofort begeistert darauf ansprang, lächelte sie still in sich hinein. Je früher die Brüder die Sache angingen, desto mehr Zeit war, das mit Thomas bis zum nächsten Rudeltreffen zu klären.
Doch Sebastian schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich habe am Sonntag eine Verabredung, die ich nicht verschieben kann.“ Es tat ihm ehrlich leid, Jonathan zu enttäuschen. „Und übernächstes Wochenende ist Neumond, da kommt Drifa zu uns.“
Jonathan gab sich jedoch nicht so leicht geschlagen. „Dann fahren wir einfach Sonntagmorgen zurück“, schlug er vor. „Würde dir das reichen? Wenn wir am Freitagnachmittag losfahren, sind wir am Abend dort, du kannst dich, falls nötig, am Samstag noch um offizielle Dinge kümmern, während ich mich mit Mike mit dem Haus beschäftige und Mareike sich mit Thomas zusammensetzt. Dann können wir alle miteinander essen und am nächsten Morgen ganz früh zurückfahren.“
Sebastian schmunzelte. Es war ungewohnt, dass sein Bruder ein Ziel so hartnäckig verfolgte und Schlupflöcher in Sebastians Argumenten suchte. Doch wenn er ehrlich war, gefiel ihm Jonathans Zielstrebigkeit. Und der Vorschlag war wirklich nicht schlecht.
„Ja, das müsste funktionieren“, erwiderte er daher. Dann seufzte er schicksalsergeben. „Das wird wohl schon wieder ein ganz schön anstrengendes Wochenende.“ Erneut gähnte er hinter vorgehaltener Hand, lehnte sich im Beifahrersitz zurück und schloss die Augen. Nur für einen kurzen Augenblick.
Das Letzte, was er während dieser Fahrt wahrnahm, war Jonathans Stimme dicht an seinem Ohr: „Das wird toll, ganz bestimmt! Und ich revanchiere mich, versprochen!“
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Noch im Auto hatte Jonathan Mareike per Textnachricht über den Plan für das kommende Wochenende informiert. Er hoffte inbrünstig, dass sie sich für den Ausflug würde Zeit nehmen können und überprüfte immer wieder, ob sie bereits geantwortet hatte. Doch auch, als er sich von Steffi und Sebastian verabschiedet hatte und die Treppen seines Wohnhauses hinaufjoggte, hatte er noch keine Reaktion von seiner besten Freundin erhalten. Von der eigenen Ungeduld leicht frustriert betrat er die Wohnung und stieß beinahe mit Matthias zusammen.
Der strahlte, als er Jonathan sah. „Hey! Ich hatte dich gar nicht so früh zurückerwartet!“
Jonathan sah seinen Mitbewohner irritiert an. „Wieso früh?“ Erst dann fiel ihm auf, dass Matthias bereits Turnschuhe und Jacke trug. „Du gehst aus? Ist wieder Pubquiz?“
Lachend antwortete der: „Mann, es ist doch erst Samstag! Ich gehe einkaufen, wir haben kaum noch was da.“
Über sich selbst verwundert schüttelte Jonathan den Kopf. Pubquiz war jeden Sonntagabend. Durch den Vollmond war wohl sein Zeitgefühl durcheinandergekommen. Einen weiteren freien Tag begrüßte er aber sehr.
Er hatte gemeinsam mit Matthias noch nie etwas unternommen, erst recht nichts derartig Profanes wie Einkaufen. Doch ihre Unterhaltung bezüglich der Briefschreiberei hatte ihm gezeigt, dass es sich lohnen könnte, auch mit einem Menschen eine etwas freundschaftlichere Beziehung zu führen, und mit seinem Mitbewohner wollte es gerne versuchen. „Soll ich dich begleiten?“, fragte er daher spontan.
Matthias wirkte für einen Moment überrumpelt, strahlte dann aber. „Gerne! Dann können wir uns fürs Zocken sogar mal selbst was machen, anstatt immer nur was zu bestellen!“
Jonathan war verblüfft. Er hatte angenommen, sie bestellten ihr Essen aus Bequemlichkeit. Dass sein Mitbewohner auch gerne mal selbst etwas zubereiten würde, war ihm nie in den Sinn gekommen. Warum hatte der nur nie mit ihm darüber gesprochen? Wirkte Jonathan gegenüber Menschen so abweisend? Und wie würde sich ihr gemeinsamer Spieleabend durch vorheriges Kochen verändern? Neugierig folgte er Matthias die Treppen hinunter.
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Die beiden Taschen, die sie vom Supermarkt nach Hause schleppten, waren ganz schön schwer. Jonathan staunte, mit wie viel Vorfreude Matthias Zutaten zusammengesucht und das Essen geplant hatte. Tatsächlich würde es wieder Pizza geben, aber heute ausnahmsweise eine selbst gemachte. Der Appetit ließ Jonathan ein wenig ungeduldig werden, während er die Fahrstuhltür für seinen Mitbewohner offenhielt, der noch am Briefkasten vorbeigegangen war.
Kurz darauf zwängte der sich mit einem triumphierenden Grinsen ebenfalls in den engen Fahrstuhl und hielt Jonathan mit einer theatralischen Geste einen Brief unter die Nase. „Handgeschrieben und für dich! Ist der vielleicht von diesem Kumpel?“
Jonathan schnappte sich das Kuvert und drehte es eilig um. Er hatte keine Ahnung, wie Thomas mit Nachnamen hieß, doch die Absenderadresse passte!
Matthias‘ Lachen und ein freundschaftlicher Knuff in die Seite zogen Jonathans Aufmerksamkeit auf sich. „Siehst du, ich hatte dir gesagt, mach dir keinen Kopf! Sieht das aus, als ob ihn dein Brief nicht interessiert hätte?“
„Nein“, gestand er lächelnd ein. „Eher, als ob es wie bei deinem Freund aus Stockholm wäre!“ Es war Jonathan zwar peinlich, doch der Name dieses Freundes fiel ihm beim besten Willen nicht mehr ein.
Matthias aber überging diese Tatsache großzügig. „Na komm, schaffen wir das Zeug in die Küche, dann kannst du lesen und ich mach den Pizzateig. Der braucht eh eine Weile und den schaff ich auch alleine.“
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Jonathans Befürchtung, dass Thomas sich nicht für seine Belanglosigkeiten interessieren könnte, stellten sich tatsächlich als unbegründet heraus. Im Gegenteil: Er freute sich über die Einblicke in „die Familie“, die er offensichtlich sofort als das Rudel erkannt hatte. Im Gegenzug erzählte er ein wenig von seinem Alltag, davon, wie ihr Kennenlernen ihm gezeigt hatte, dass er sich in Wirklichkeit doch wieder Gesellschaft wünschte und sich daher eine Weile mit dem Wanderschäfer unterhalten hatte, den er sonst immer mied. Und Jonathan staunte nicht schlecht, als er erfuhr, dass Thomas die vielen Schnitzwerke, die sich in seiner Hütte befunden hatten, über Lukas nach und nach an Touristen verkaufte. Damit war er ganz eindeutig nicht mehr der kauzige Einsiedler, den der Ladenbesitzer stets in ihm gesehen hatte, und die Vorstellung, wie der wohl auf den Vorschlag zur Kooperation reagiert hatte, ließ Jonathan grinsen.
Besonders freute er sich aber über den Abschnitt, in dem Thomas schrieb, dass ihm ihre Gespräche fehlten und er erwog, sich ein Mobiltelefon zu kaufen. Es wäre großartig, ihn einfach anrufen zu können und ihm von der Entscheidung Barbaras, seinen Besuch hier zu erlauben, zu erzählen!
Für einen Moment kamen Jonathan Zweifel. Thomas hatte das letzte Mal, als er ihn aufgefordert hatte, ihn zu begleiten, abgelehnt. Überforderte ihn Jonathans Art, manche Dinge am liebsten sofort anzupacken, oder war er nicht wirklich an einem Besuch interessiert?
Nein, er hatte selbst geschrieben, dass er sich darauf freute, alle kennenzulernen. Jonathan beschloss also, auf Thomas‘ geschriebene Worte zu vertrauen – wenn der sagte, er freue sich, dann stimmte das sicherlich.
Ein Punkt bereitete Jonathan jedoch immer noch Kopfzerbrechen: Die ganze Aktion war verdammt kurzfristig. Hoffentlich nicht zu kurzfristig für Thomas. Der würde ja erst davon erfahren, wenn er einen Antwortbrief las, und der benötigte sicherlich zwei, drei Tage Zeit, bis er Lukas‘ Laden erreichte. Und dann war nicht gesagt, dass Thomas an genau diesem Tag auch hinunter ins Tal wanderte ...
Seufzend fuhr Jonathan sich mit einer Hand durch die Haare. Was hatte er da nur losgetreten? Wie sollte das zeitlich alles funktionieren, wo er doch noch nicht einmal wusste, ob Mareike und Mike Zeit finden würden, am Freitagmittag mitzufahren? Und würde er sich freinehmen können? Vielleicht, wenn er ein paar Überstunden an den übrigen Tagen einschob ...
Ach, das würde schon irgendwie alles klappen! Irgendwann würde Mareike sich melden. Vorher konnte er die Antwort an Thomas ohnehin nicht verfassen, und einwerfen konnte er sie erst am Montag. Er sollte sich jetzt einen netten Abend mit Matthias gönnen, die Pizza machen, ein bisschen Zocken, dabei futtern und quatschen. Vielleicht nachfragen, wie es diesem Freund in Stockholm inzwischen ging. Wie es mit dem Mathelernen lief.