Die Reaktion kam so plötzlich, dass er nicht mehr ausweichen konnte. Verdammt!
Doch der Wolf biss nicht wirklich zu. Er hielt ihn nur fest, als wolle er ihn aufhalten. Die Spitzen der Reißzähne drückten sich zwar in seine Haut und der heiße Atem des Tiers bereitete ihm Gänsehaut, doch es floss kein Blut. Es war eine Warnung.
Mühsam unterdrückte er die Angst in seiner Stimme. „Hey, ganz ruhig, Kumpel – das hier ist wichtig. Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe.“ Er redete ein wenig weiter, erklärte Desinfektionsmittel, als spräche er wirklich mit einem panischen Kameraden. Der Griff der Kiefer ließ nach, bis der Wolf ihn tatsächlich freigab, winselte und sich wieder auf dem Fels ausstreckte.
Ließ er ihn etwa gewähren?
Behutsam berührte der Mann einen der verletzten Hinterläufe. Der Wolf zuckte vor Schmerz, winselte wieder ein wenig, wehrte sich jedoch nicht mehr. Er hob nur den Kopf und blickte auf die Hände des Mannes, die bedächtig und sorgsam die Wunden verbanden.
„So, das wäre geschafft. Jetzt muss ich unbedingt was trinken, und du bestimmt auch. Was zu essen wäre auch nicht schlecht. Ich müsste auch für dich noch was auftreiben können.“
Prüfend musterte der Mann seine Umgebung. Nur der Mond und seine Laterne erleuchteten die Landschaft, die nun von bizarr geformten Schatten dominiert wurde. Und in jedem Schatten konnte sich der Feind so lange verstecken, bis seine Aufmerksamkeit nachließ.
Der andere Wolf, korrigierte er sich. Der konnte überall lauern.
„Hör zu, ich glaube, hier draußen zu bleiben wird ein wenig kompliziert. Lass uns in meine Hütte gehen. Ich hoffe sehr, du fühlst dich dort nicht allzu sehr eingesperrt, aber ich will es versuchen. Ich könnte ja die Tür vielleicht ein Stück offenlassen und ... ja, das könnte gehen. Ich nehme dich mit. So, los geht’s.“
Der Wolf ließ sich anstandslos aufheben und auf dem Boden der Hütte ablegen. Erst, als der Mann die Tür schließen wollte, regte er sich wieder, versuchte, sich zum Ausgang zu ziehen.
„Nein nein, keine Sorge, ich sperre dich nicht ein.“ Da er nicht wusste, was er noch reden sollte, beschrieb er dem Wolf genau, was er tat, während er einen Hocker vor die immer noch leicht geöffnete Tür stellte.
Der Hocker würde geräuschvoll über den Boden schaben, wenn er verschoben wurde – eine einfache, aber wirkungsvolle Alarmanlage, die dem Wolf aber jederzeit erlaubte, die Hütte selbstständig zu verlassen. Der Mann war zufrieden mit seinem Werk, und auch der Wolf schien den geöffneten Türspalt für ausreichend groß zu halten.
In seiner Vorratskiste fand der Mann neben Knäckebrot, das er für sich selbst nahm, noch etwas Trockenfleisch, das er zusammen mit einer Schüssel Wasser in die Nähe des Wolfes auf den Boden legte. Mehr konnte er für das Tier nicht tun.
Es war spät, und verzog er sich mit einer Decke und einem Messer in die andere Ecke seiner Hütte, möglichst weit von seinem Gast entfernt. Es war zwar schön und gut, dass der Wolf bislang so friedlich gewesen war, doch er wollte sein Glück nicht überstrapazieren.
Stille breitete sich in der Hütte aus, während die beiden ungleichen Kameraden sich über die Distanz der Ecken hinweg in die Augen sahen.
„Schlaf gut, Kumpel“, murmelte der Mann mit rauer Stimme. Leichte Halsschmerzen erinnerten ihn daran, dass er schon lange nicht mehr so viel gesprochen hatte wie heute. Doch es war richtig gewesen – der Wolf hatte sich davon tatsächlich beruhigen lassen.
Mit dem Rücken in die Ecke der Hütte gelehnt, die Hand um den Griff des Messers geschlossen und seine Sinne wachsam, fiel der Mann in einen leichten, traumlosen Schlaf.
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Ein tappendes Geräusch und die Helligkeit des anbrechenden Tages weckten ihn. Er wechselte übergangslos vom Schlaf zum Wachzustand, wie er es seit seiner Militärzeit gewohnt war.
Als er die Augen aufschlug, sah er, wie der Wolf langsam auf ihn zukam, einen guten Meter vor ihm stehenblieb und den Kopf zur Seite legte. Es sah aus, als überlege er, was er tun sollte, und ein leises, erfreutes Lachen entrang sich der schmerzenden Kehle des Mannes.
„Hey, guten Morgen, Kumpel.“ Seine Stimme war heiser und er brauchte dringend etwas kühlendes Wasser. „Du kannst ja wieder stehen! Damit hätte ich nie gerechnet!“
Ächzend erhob er sich aus der unbequemen Haltung, in der er die Nacht verbracht hatte, und streckte seine verkrampften Muskeln. Der Wolf ließ ihm dabei Platz, als wolle er nicht bedrohlich erscheinen, ließ ihn aber nicht aus den Augen.
Dann humpelte er zur Tür und steckte die Schnauze nach draußen.
„Du willst gehen, hm?“
Unerwartete Traurigkeit schwang in seiner malträtierten Stimme mit.
„Natürlich. Komm, ich nehme dir noch die Verbände ab, damit du nicht am nächstbesten Strauch hängenbleibst.“
Mit diesen Worten sank er auf die Knie, und der Wolf trottete zu ihm, als wisse er genau, worum es ging. Regungslos ließ er sich die Stoffstreifen abnehmen und wartete geduldig, bis der Mann seinem Erstaunen über den schnellen Heilungsprozess Luft gemacht hatte.
Dann standen beziehungsweise knieten sie sich auf Augenhöhe gegenüber.
„Leb wohl, Kumpel“, flüsterte der Mann nach einem Augenblick, in dem sich ihre Blicke begegneten.
Der Wolf machte einen weiteren Schritt nach vorne und rieb seinen Kopf am leicht feuchten Gesicht des Mannes.
Dann wandte er sich um, schob die angelehnte Tür mit seinem Körper auf und verschwand.