Lukas schnaubte verächtlich, als Jonathan ihn nach dem Mann in den Bergen fragte. „Der? Oh je – das ist ein echtes Arschloch! Wie kommst du drauf? Begegnet bist du ihm ja offensichtlich nicht, sonst wüsstest du das selbst.“
Sprachen sie von derselben Person? Jonathan war irritiert von der Antwort seines ehemaligen Schulkameraden. Er ließ sich Zeit mit seiner Erwiderung und sah zu, wie der das Brot zu den anderen Einkäufen in die Tüte legte.
Lukas hatte schon während der Schulzeit im Dorfladen seiner Eltern ausgeholfen, und Jonathan hatte sich sehr gefreut, dass er dabei geblieben war. Jedes vertraute, freundliche Gesicht half ihm, diesen Ort immer noch als seine Heimat anzusehen.
Schließlich hatte er sich für eine Geschichte entschieden. „Sebastian und ich waren ein bisschen wandern, und da haben wir seine Hütte gesehen. Und ihn. Aber wir haben nicht mit ihm geredet. Was kannst du mir über ihn erzählen?“ Strenggenommen entsprach das alles der Wahrheit.
Lukas‘ Seufzen zeigte deutlich, wie wenig er von dem Mann hielt. „Das ist ein Verrückter. Ich weiß nicht viel über ihn. Er lebt seit vielleicht eineinhalb Jahren da oben. Er redet mit niemandem, kommt nur alle paar Wochen einige Vorräte einkaufen. Ich glaube, der hat noch nicht mal 'nen Kühlschrank, weil er immer nur haltbares Zeug mitnimmt. Und wehe, man spricht ihn an – er ist echt gut darin, jede Unterhaltung im Keim zu ersticken, als könnte er sich durch Reden mit irgendwas Gefährlichem anstecken. Unhöflich und unfreundlich. Das ist der Typ.“
Er hat tatsächlich keinen Kühlschrank in seiner Hütte, dachte sich Jonathan, sprach es aber natürlich nicht aus. Aber die Charakterbeschreibung schien so gar nicht auf den Mann zu passen, den er letzte Nacht kennengelernt hatte. Ob Lukas jemand anderen meinte?
Andererseits war es zu bezweifeln, dass es hier mehr als einen seltsamen Einsiedler gab, oder? Er würde fragen müssen.
„Ist das irgend so ein neuer Trend – fast autark in den Bergen leben? Ich meine – machen das viele?“
Wieder machte Lukas ein abfälliges Geräusch. Sein Blick zeigte, dass er allein wegen der Frage ein wenig an Jonathans Verstand zweifelte.
„Was? Nein! Das ist doch total bescheuert! Ich hab noch nie von jemandem gehört, der das macht – außer diesem Typen. Man munkelt, er sei so ein Survivalfan oder so was. Der alte Josef besteht darauf, dass er beim Militär gewesen sein müsse, wegen der Art, wie er sich bewegt und dauernd umsieht. Du solltest mal hören, was meine Mutter und ihre Freundinnen angeblich alles schon gehört haben wollen! Ich glaube ja eher, der hat 'nen Knacks.“ Sein an die Stirn tippender Finger machte klar, wovon er sprach.
Jonathan konnte das alles einfach nicht glauben. Es schienen nur Gerüchte im Umlauf zu sein. Irgendjemand musste doch etwas über den Mann wissen!
Lukas‘ Worte rissen ihn aus seinen Grübeleien. „Hey, mal was Anderes. Heute Abend treffen wir uns bei Anna zum Grillen. Wollt ihr auch kommen? Falls ja, solltest du nämlich unbedingt noch ein paar Steaks mitnehmen.“ Er bot Jonathan eine Packung fertig marinierter, eingeschweißter Rindersteaks an.
„Oh, klar! Gerne!“ Jonathan freute sich aufrichtig darauf. Früher hatten sie sich häufig bei Annas Eltern im Garten getroffen – schön, dass diese Tradition immer noch Bestand hatte! Er fügte seinen Einkäufen einige Kartoffeln hinzu, um eine Beilage mitbringen zu können, bezahlte und brachte Neuigkeiten und Einkäufe nach Hause zu seinem Bruder.
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Der Abend war großartig gewesen. Der Garten hatte sich kaum verändert, auch, wenn er jetzt nicht mehr Annas Eltern, sondern Anna selbst gehörte. Und auch sonst war es wie früher gewesen: Das ach so harmlose Treffen war zu einer richtigen Party ausgeartet, lustig und fröhlich, und es war jetzt, als Jonathan und Sebastian mit vollen Bäuchen langsam die Straße zu ihrem Haus hinauf gingen, schon sehr spät.
Es war wieder eine so wunderschöne, warme Nacht wie gestern.
„Hast du eigentlich was über den Mann in den Bergen erfahren?“, fragte Sebastian unvermittelt.
Das war ihr Spitzname für ihn geworden. Jonathan wollte unbedingt seinen Namen erfahren, doch niemand hatte ihm da weiterhelfen können.
„Nein. Aber ich habe die wildesten Spekulationen gehört. Je nachdem, wen du fragst, ist er ein kauziger Survivalfan, ein menschenhassender Exsoldat oder ein Auftragskiller, der sich hier vor der Polizei versteckt.“
Sebastian lachte. „Na ja, in allen Gerüchten steckt ein Körnchen Wahrheit! In diesem Fall, dass er sich wirklich sehr isoliert hält und möglichst wenig herunter ins Dorf kommt. Na ja. Ist ja auch nicht so wichtig.“ Er zuckte gleichgültig mit den Schultern.
Doch aus Gründen, die ihm selbst nicht klar waren, war es für Jonathan wichtig. Er wollte das Thema nicht einfach fallenlassen. Das Bild, das die Leute vom Mann in den Bergen hatten, war so grundlegend anders als der Eindruck, den er von ihm gewonnen hatte. Woran lag das?
Sebastian deutete sein Schweigen richtig. „Du willst weiterhin mehr erfahren, stimmt’s?“
Jonathan nickte nur.