Steffi sah Jonathan fragend an, als Sebastian den Raum verlassen hatte. „Ist alles in Ordnung mit ihm?“ Es war normal, dass ihr Lebensgefährte sie begrüßte, wenn er nach Hause kam, doch heute hatte er sich fast eine halbe Minute lang so fest an sie gedrückt, als suche er Trost in ihren Armen. Das war ungewöhnlich.
„Ich bin mir, ehrlich gesagt, nicht sicher“, antwortete Jonathan vorsichtig. „Du weißt ja, wie er ist – er vergräbt seine Gefühle unter Arbeit, damit er nicht über Mums Tod nachdenken muss.“ Ein kurzes Zögern, dann fuhr er fort. „Aber irgendwas ist noch. Ich verstehe nur nicht, was.“
Ein bedauerndes Lächeln umspielte Steffis Lippen. Sie kannte ihren Gefährten gut, doch so wie sein Bruder konnte sich vermutlich niemand in ihn hineinfühlen. Und das lag nicht nur daran, dass sie kein Werwolf, sondern Kinfolk war – zwischen den beiden herrschte eine ganz besondere Verbundenheit. Wenn Jonathan sagte, dass Sebastian etwas auf der Seele lag, dann war das so.
„Irgendwelche Tipps?“ Sie nutzte die Zeit, bis ihr Gefährte zurückkam.
Diesmal war es an Jonathan, zu lächeln. Er hatte Steffis pragmatische Art schon immer sehr gemocht. „Stell keine Fragen, gib ihm Zeit. Mit dir redet er irgendwann von selbst.“
Sebastians Schritte näherten sich bereits wieder, und Steffi nickte Jonathan kurz zu. Sie würde ihn anrufen oder ihm eine Nachricht schicken – genau wie er ihr. So lief das schon seit Jahren zwischen ihnen, sei es wegen Geburtstagsgeschenken, geplanten Spieleabenden oder eben, wenn sie sich Gedanken um ihren Partner und Bruder machten.
„Bleibst du zum Abendessen?“, fragte sie.
„Oder willst du übernachten?“, fügte Sebastian an, der gerade wieder ins Wohnzimmer kam.
Jonathan lachte. „Und eure so lang aufgeschobene Zweisamkeit stören? Nein danke, ich würde mich wie das fünfte Rad am Wagen fühlen! Außerdem hab ich mich schon mit Matthias zum Spielen verabredet.“ Sein Mitbewohner hatte per Chat versprochen, alles aufzubauen, sodass sie sofort loslegen konnten, wenn er nach Hause kam. Das hatte Jonathan schon während der Fahrt organisiert – er kannte seinen Bruder und wusste, wie dringend der sich nach Körperkontakt mit seiner Freundin sehnte. Ausgiebigem Körperkontakt. Ganzkörperkontakt. Da wollte er wirklich nicht im Gästezimmer liegen!
Außerdem hoffte er, dass Sebastian Steffi erzählen würde, was ihn belastete. Denn da war irgendetwas, das spürte Jonathan genau – doch ihm wollte sein Bruder es offenbar nicht verraten. Das war in Ordnung, solange er sich seiner Gefährtin anvertraute.
Er verabschiedete sich also mit einer herzlichen Umarmung von den beiden und stieg in sein eigenes Auto, das während der Abwesenheit der Brüder in der Doppelgarage geparkt worden war.
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„Hey Alter! Wie geht’s?“ Matthias hatte die Füße auf den Couchtisch gelegt und las sich auf dem Smartphonedisplay irgendetwas durch, als Jonathan zur Tür hereinkam.
Der schmunzelte über den Anblick. Es hatte etwas verdammt Vertrautes an sich, den jungen Mann so vorzufinden. Entweder spielte er, oder er starrte auf das Telefondisplay.
„Ganz ok“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Und selbst? Wie läuft’s in der Uni?“
Matthias studierte mehr oder weniger Elektrotechnik. Das Fach stand zwar fest, aber Jonathan war sich oft nicht sicher, ob er denn jetzt wirklich studierte. Er sah ihn kaum einmal lernen. Aber dass der Junge gerne Computer- und andere Spiele spielte, war ja eines der Kriterien gewesen, nach denen er seinen Mitbewohner ausgewählt hatte.
Wegen der Kosten brauchte Jonathan niemanden, der sich die Wohnung mit ihm teilte. Er könnte die gesamte Miete dank seines Jobs problemlos zahlen. Aber wie die meisten Werwölfe mochte er es nicht, alleine zu sein. Er ging zwar viel aus, doch schon der Gedanke, einige Abende einsam vor dem Computer verbringen zu müssen, bereitete ihm Unwohlsein. Seit Sebastian mit Steffi zusammengezogen war, behalf Jonathan sich mit menschlichen Mitbewohnern. Von denen gab es in der Region um Heidelberg mehr als genug, und es war immer schön, neue Leute kennenzulernen.
Matthias machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, passt schon. Dieses Semester muss ich nur Mathe unbedingt bestehen, der Rest hat Zeit. Aber jetzt zu den wirklich wichtigen Dingen im Leben!“ Er hielt Jonathan sein Telefon entgegen. „Wo wollen wir bestellen und bist du mit God of War als Abendbeschäftigung einverstanden?“
Oh, das war Jonathan! Voll Vorfreude ließ er sich neben seinem Mitbewohner aufs Sofa fallen, wählte in der App eine Pizza aus und nahm sich einen der Controller. Das würde ein sehr entspannender Sonntagabend werden! Und für morgen Abend hatte er sich mit Mareike verabredet – er konnte es kaum erwarten, ihr von seinen Erlebnissen zu erzählen!
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Der Wind stand wieder einmal so günstig, dass er das Läuten der Kirchenglocken hören konnte. Die Katholiken im Ort versammelten sich zu ihrem Abendgottesdienst.
Thomas legte sein Messer beiseite und betrachtete die Figur, die er aus einem stark gewundenen Holzstück herausgearbeitet hatte. Die Form hatte ihn sofort an eine Schlange erinnert, und genau das hatte er jetzt auch daraus gemacht: Eine spitze, gespaltene Zunge streckte sich ein kleines Stück aus dem leicht geöffneten Maul, als wolle das hölzerne Tier behutsam die Umgebung erkunden. Die Augen, die mit ihren runden Pupillen klar zeigten, dass es sich hier streng genommen nicht um eine Schlange, sondern um eine Blindschleiche handelte, spähten ebenfalls aufmerksam nach vorne. Jede einzelne Schuppe hatte er herausgearbeitet – wenn er die Figur vorsichtig polierte, würden sie fast so stark glänzen wie die des lebenden Vorbilds!
Er war sehr zufrieden mit seinem Werk. Nicht nur, dass es wirklich schön aussah, es hatte ihn auch ausgesprochen effizient beschäftigt.
Doch nun war es fertig.
Er legte die Figur neben sich, erhob sich von seinem Felsen und streckte die gebeugten Glieder. Wieder erreichte das Läuten der Kirchenglocken seine Ohren, und er ertappte sich bei einem Gefühl, das er seit vielen Monaten nicht mehr gehabt hatte: Er fühlte sich einsam. Unangenehm einsam.
Nicht, dass er daran jetzt sofort etwas ändern konnte. Aber die letzten Tage hatten ihm gezeigt, dass er sich wirklich bemühen sollte, wieder Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen. Nur: wie?
Sein Blick fiel auf die geschnitzte Blindschleiche, die auf dem Wolfsfelsen aussah, als wäre sie lebendig.
Wolfsfelsen? Er schmunzelte. Kein schlechter Name für diesen Felsklotz. Der würde Jonathan sicherlich auch gefallen.
Seufzend fuhr er sich durchs Haar.
Dann fasste er einen Entschluss. Es war zwar noch nicht wieder Zeit, Vorräte zu besorgen, doch er würde morgen dennoch ins Dorf hinunterwandern und mit dem Ladeninhaber sprechen. Lukas. Ursprünglich war es eine Lüge gewesen, eine List, um an Jonathans Adresse zu kommen, aber vielleicht ließen sich seine Holzfiguren ja tatsächlich an Touristen verkaufen? Wenn er dem Mann ein gutes Angebot machte, könnte er seine bisherige Unhöflichkeit vielleicht ausbügeln. Es wäre ein Anfang.