„Du willst was?“ Entgeistert starrte Sebastian seinen Bruder an. „Vergiss es – Thomas zum Rudel einzuladen ist definitiv keine gute Idee!“
Jonathan sah bittend zu ihm hinüber. „Doch, das ist es! Er ist Kinfolk! Darum wird sie es bestimmt erlauben!“
Seufzend fuhr sich Sebastian durchs Haar. Er hätte es sich denken müssen, worum es ging, wenn Jonathan abends plötzlich vor seiner Tür stand und erklärte, er müsse etwas Wichtiges mit ihm besprechen: immer noch um diesen Thomas. Er musste ihm diese Flausen austreiben!
„Jona“, sagte er mit möglichst vernünftiger Stimme, „Du weißt nicht, ob Thomas wirklich Kinfolk ist. Selbst, falls deine Vermutung zutrifft, wäre es für ihn wirklich gefährlich hier. Er hat keine Ahnung, wie man mit einem Rudel umgeht.“
Jonathan konnte unmöglich wollen, dass Thomas etwas zustieß. Doch obwohl Sebastian diesen Trumpf gezogen hatte, gab sein kleiner Bruder nicht nach. Das war ungewöhnlich – normalerweise folgte Jonathan seinen Ratschlägen.
„Dann lernt er es eben! Mareike hat angeboten, es ihm beizubringen – sie kommt mit, wenn wir das nächste Mal zum Haus fahren!“
Wie bitte? Sebastian war der Leitwolf in ihrer Familie, und auch im Rudel stand er in der Hierarchie über seinem Bruder. Das Haus ihrer Mutter war damit vor allem sein Territorium! „Du hast ihr von ihm erzählt? Und sie eingeladen, mitzukommen? Ohne mich vorher zu fragen?“
Doch ungeachtet seines Blicks und dem leisen Grollen seiner Stimme, sah Jonathan ihn trotzig weiter an. „Nein“, erwiderte er. „Zwar habe ich Mareike alles erzählt, so wie immer, das weißt du! Aber ich hab sie nicht eingeladen – sie hat sich selbst eingeladen. Sie findet auch, dass man Thomas nicht einfach allein lassen darf.“
Jonathans beharrlicher Widerstand verärgerte Sebastian immer mehr. „Dann soll sich ein Rudel in seiner Nähe um ihn kümmern! Wir sind zu weit weg für so etwas. Ich werde herausfinden, wer dort in der Nähe lebt, und sie informieren – basta!“
Seine Körpersprache zeigte deutlich, dass er keinen Widerspruch mehr dulden würde. Mit verengten Augen und zu seiner vollen Größe aufgerichtet sah er seinen Bruder an. Ihm jetzt zu widersprechen hieße, ihn zu einem Kampf um die Rangfolge herauszufordern.
Zufrieden sah er, wie Jonathan in sich zusammensank und ergeben den Blick niederschlug. Er akzeptierte die Entscheidung. Dass Steffi, die sich bei dem Gespräch im Hintergrund gehalten hatte, nun vortrat und seinem Bruder tröstend einen Arm um die Schultern legte, betrachtete er mit Wohlwollen. Obwohl selbst kein Wolf, hatte sie immer das richtige Gespür dafür, was die Rudelmitglieder brauchten.
Er hatte sich schon abgewendet, um den beiden einen Moment für sich zu geben, als Jonathans Stimme erneut erklang.
„Sebastian ... bitte. Er ist doch ganz allein!“
Diese Worte, und vor allem ihr Tonfall, ließen Sebastian innehalten.
Einerseits appellierte sein Bruder damit an das Mitgefühl und die Verantwortung, die er als hochrangiger Wolf zeigen musste. Einsam zu sein war schrecklich – und es lag in seiner Macht, Thomas zumindest ein Kennenlernen mit dem Rudel zu ermöglichen. Und andererseits schwang das, was Jonathan nicht ausgesprochen hatte, deutlich in seiner Stimme mit: Er bat seinen großen Bruder um Hilfe. Er forderte ihn nicht heraus – er bat, wie es dem Rangniedrigeren gebührte, um seine Fürsprache. Er bat darum, einen Freund behalten zu dürfen. Und war es nicht die Pflicht eines Anführers, sei es nur innerhalb einer Familie oder gar eines Rudels, dafür zu sorgen, dass es denen unter ihm gut ging? Der Klang von Jonathans Stimme bezeugte, wie wichtig ihm die Freundschaft zu diesem Sanitäter war.
Es gab keine rationalen Gründe, aus denen Sebastian die Bitte ablehnen konnte. Und da es nun keine Forderung mehr war, würde er auch nicht sein Gesicht verlieren, wenn er seine Meinung änderte.
Er drehte sich um und sah Jonathan, der sich immer noch eng an Steffis Seite schmiegte. Sebastian warf seiner Gefährtin einen kurzen Blick zu, mit dem er um ihre Ansicht bat, und ihr kaum merkliches Nicken verriet ihm ihre Überzeugung in dieser Sache.
Er wandte sich möglichst streng an seinen Bruder. „Du bist für ihn verantwortlich. Er muss die Regeln im Rudel einhalten, sonst kann niemand für seine Sicherheit garantieren. Ist dir das bewusst?“
Jonathan nickte stumm, aber heftig. Seine Augen leuchteten vor Dankbarkeit, die Sebastians Herz wärmte – genau diesen Ausdruck hatte er im Blick seines kleinen Bruders vermisst.
„Dann werde ich die Rudelführerin um Erlaubnis bitten, ihn dem Rudel vorstellen zu dürfen.“
Er lachte, als Jonathan ihn förmlich ansprang, um ihn in die Arme zu schließen und das Gesicht an seinem zu reiben. Sein kleiner Bruder hatte generell Schwierigkeiten damit, das wölfische Bedürfnis nach Körperkontakt in menschlicher Form zu unterdrücken, doch wenn er sich freute, klappte das oft überhaupt nicht. Die Menschen in ihrer Umgebung hatten ihn deswegen schon immer als seltsam empfunden. Gut, dass Sebastians Schwachstelle bezüglich der Unterdrückung der Instinkte seines Wolfs nicht ganz so offensichtlich war ...
Während er Jonathans Umarmung erwiderte, sah er über dessen Schulter zu Steffi hinüber. Die warf Sebastian ein Lächeln zu, zugleich Lob und Dank für die Entscheidung, die er getroffen hatte.
Aber hätte sein Entschluss wirklich auch anders ausfallen können? Sebastian lächelte. Er hatte es doch in den Bergen schon realisiert: Wenn sein kleiner Bruder sich fest für etwas entschieden hatte, würde er ihm dabei helfen. Und wenn dann auch noch Steffi Partei für ihn ergriff, konnte diese Entscheidung einfach nicht falsch sein.