Es hatte Thomas Spaß gemacht, mit Jonathan, Sebastian und insbesondere Steffi zu Abend zu essen. Sie war ihm gegenüber genauso herzlich und aufgeschlossen gewesen wie Mareike. Kinfolk stand ihm als Neuling wohl recht positiv gegenüber.
Wie war das wohl mit den Werwölfen? Würden die eher offen wie Jonathan oder abweisend wie Sebastian sein?
Morgen würde er es erfahren.
Kurz sah er den Rücklichtern des Autos nach, dann ließ er seinen Blick über das Gebäude schweifen, vor dem Steffi und Sebastian ihn und Jonathan gerade abgesetzt hatten. Obwohl es sechs oder sieben Stockwerke hoch war, entzogen großgewachsene Fichten es der direkten Sicht. Aus einigen Fenstern fiel gedämpftes Licht, was in der abendlichen Ruhe sehr einladend wirkte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein kleines Laubwäldchen, links und rechts des Hauses standen zwei ganz ähnliche Wohnhäuser.
„Sieht nett aus“, kommentierte er, während sie sich der Haustür näherten. „Wo wohnst du?“
Jonathan lächelte. „Ist auch echt nett. Meine Wohnung ist im sechsten Stock. Du wirst den Ausblick mögen.“ Er zog seinen Schlüsselbund aus der Tasche. „Dann lernst du gleich noch Matthias kennen. Der ist um die Zeit ganz sicher noch wach.“
Ach ja. Thomas hatte beinahe vergessen, dass Jonathan einen Mitbewohner hatte. Schicksalsergeben seufzte er und folgte seinem Freund ins Treppenhaus.
„Was ist los?“
Der aufmerksame Blick, mit dem Jonathan ihn musterte, ließ Thomas lächeln. „Nichts. Ich hatte nur Matthias total vergessen. War ja echt ein schöner Abend, aber langsam hab ich genug Leute um mich rum gehabt, glaub ich. Ich muss mich da erst wieder dran gewöhnen.“
„Willst du lieber ein bisschen allein sein? Du kannst dich gern in mein Zimmer zurückziehen, dann spiele ich mit Matthias noch irgendein Spiel.“
„Hm, mal gucken. Danke.“
Aber Thomas glaubte nicht wirklich, dass er das Angebot annehmen würde. Zwar strengte ihn die Anwesenheit anderer Leute gerade an, doch in Jonathans Gesellschaft fühlte er sich wohl, sogar wohler als alleine. Selbst das Schweigen, das während der Aufzugfahrt zwischen ihnen hing, war angenehm.
~~~
Steffi wusste nicht genau, wie sie das Thema angehen sollte. Seitdem sie Jonathan und Thomas abgesetzt hatten, war Sebastian ungewöhnlich schweigsam. Schon beim Abendessen war ihr aufgefallen, dass ihr Gefährte sich praktisch gar nicht am Gespräch beteiligt hatte. Das galt zwar auch für Jonathan, doch dem hatte man deutlich angesehen, wie faszinierend er die Unterhaltung über das Leben und das Rudel aus Kinfolk-Sicht fand. Sein Bruder hingegen hatte kaum zugehört, nur immer wieder aus den Augenwinkeln Thomas gemustert und sich in Grübeleien verloren.
„Worüber denkst du nach?“, fragte sie nach einer Weile direkt.
Es dauerte einen Moment, bis Sebastian mit einer Gegenfrage reagierte. „Du magst ihn, oder?“
„Ja“, antwortete sie, ohne zu zögern. „Er ist freundlich, ehrlich, zwar ein bisschen zurückhaltend, was manche Themen angeht, aber sonst aufgeschlossen und liegt mit Jona wirklich auf einer Wellenlänge. Hast du gesehen, wie sie sich ab und zu angeschaut haben, wenn sie was lustig fanden? Da haben sich zwei gefunden!“ Die Erinnerung ließ sie lächeln.
Sebastian hingegen sah weiterhin ernst nach draußen, wo der Lichtkegel der Scheinwerfer die ruhigen Straßen ihres Wohngebiets erleuchtete. Erst, als Steffi den Wagen vor ihrem Haus abstellte, sprach er weiter.
„Ich habe immer noch ein komisches Gefühl, was Thomas angeht. Irgendwie mag ich ihn ja auch, aber ...“ Er seufzte frustriert, als er keine Worte fand.
Gerne wäre Steffi sofort auf den Punkt gekommen, doch sie wusste, dass es das Gespräch einfacher machte, wenn sie Sebastian erst Gelegenheit zum Nachdenken gab. Manche Themen brauchten Zeit.
Sie war schon fast eingeschlafen, als Sebastian neben ihr endlich das Smartphone weglegte und sich an ihren Rücken kuschelte.
„Warum mag ich ihn nicht?“
Na also. Steffi lächelte, drehte sich um und strich ihm eine Haarsträhne aus dem ernsten Gesicht. „Ich glaube, du hast Angst vor ihm“, erklärte sie.
Sebastian hob einen Mundwinkel. „Nein, bestimmt nicht. Ja, er war mal Soldat, aber ich bin ein Werwolf.“
Sie schüttelte den Kopf. „Das meine ich nicht. Körperlich musst du ihn wirklich nicht fürchten.“ Dann verfiel sie in Schweigen und wartete, dass er es erkannte.
Als er nachdachte, fiel Sebastian seine Erkenntnis vom heutigen Morgen wieder ein: Er war eifersüchtig auf Thomas. Das war etwas anderes als Furcht – irrte Steffi sich also? Oder missdeutete er seine eigenen Emotionen?
„Ich ...“ Er war sich der Deutung seiner Gefühle so unsicher, dass er selbst seiner Gefährtin gegenüber einen Moment zögerte. „Ich glaube ... ich bin eifersüchtig, weil er so viel Zeit mit Jona verbringt?“
„Das auch“, antwortete Steffi. „Und du hast Angst, dass Jona ihn liebt, aber –“
„Nein!“ Reflexartig wandte er sich von ihr ab. „Das tut er nicht!“
Seine Stimme hörte sich selbst in seinen eigenen Ohren rau an. So oft schon hatte er seinen Bruder vor dieser Behauptung und der damit verbundenen Verletzung beschützt. Jona wünschte sich so sehr, normal zu sein. Sebastian konnte sich nicht erinnern, wie oft er seinen kleinen Bruder tröstend in den Armen gehalten hatte, während der Tränen der Verzweiflung und Frustration über sich selbst vergoss.
„Was?“ Steffi sah ihn verwirrt an.
„Jona ist nicht schwul!“, beharrte er.
Es gelang Steffi nicht, ein Seufzen zu unterdrücken. Sie hatte geahnt, dass Sebastian auf ihre Worte nicht gut reagieren würde. Doch wenn er ihre Theorie hören wollte, musste er auch mit diesem Teil leben.
„Ist ja gut“, sagte sie, nachdem sie mühsam den Ärger aus ihrer Stimme verdrängt hatte. „Das habe ich auch gar nicht gesagt, denn –“
Sebastian sah sie zwar nicht an, unterbrach sie aber erneut. „Doch, natürlich hast du das! Wenn du behauptest, Jona könnte Thomas lieben, unterstellst du ihm doch, er sei schwul, oder etwa nicht?“
Jetzt war Steffis Geduld am Ende. „Nein, Himmelherrgottnochmal!“, schimpfte sie. „Du liebst ihn doch auch, oder? Macht dich das schwul?“
„Er ist mein Bruder!“
„Eben! Es gibt Geschwisterliebe! Es gibt die Liebe zur eigenen Familie! Und schon mal was von platonischer Liebe gehört? Zu Freunden? Das alles hat nichts, überhaupt gar nichts mit sexueller Anziehung zu tun!“
Sie verstand es.
Bestürzt realisierte Sebastian, dass er Kinfolk, sogar seine eigene Gefährtin bisher völlig unterschätzt hatte. Er hatte geglaubt, Menschen verstünden nicht, dass es keinen Unterschied machte, auf welcher Basis man jemanden liebte. Wie viel einfacher wäre es gewesen, mit Steffi über seinen Bruder zu sprechen, wenn er verstanden hätte, dass nicht nur Wölfe das begriffen? Er sollte sich entschuldigen. Und er musste es Jona erzählen, unbedingt!
Doch etwas nagte an seinem Unterbewusstsein und verhinderte, dass er diese Gedanken weiter verfolgte. Ein Wort, das Steffi benutzt hatte: Geschwisterliebe. Bruderliebe?
Plötzlich verspürte er einen Kloß im Hals. „Glaubst du, Thomas ist wie ein Bruder für ihn?“
Angespannt hielt er den Blick an die Zimmerdecke geheftet, während Steffi sich an ihn schmiegte und eine Hand an sein Gesicht legte.
„Nein“, antwortete sie leise. „Das wollte ich vorhin sagen. Du bist sein Bruder, Schatz, sein einziger Bruder. Du verlierst seine Liebe nicht, falls er auch jemand anderen liebt. Überleg doch mal – ich habe eure Beziehung doch auch nicht verändert, oder?“
Sebastian schloss seufzend die Augen. Eine erste, sanfte Welle von Erleichterung breitete sich zögernd in ihm aus.
„Nein“, räumte er ein. „Aber du warst Teil des Rudels. Wir kannten dich beide, nicht nur ich.“
„Na, dann ist ja offensichtlich, was du tun musst.“ Steffi lächelte und küsste ihn auf die Wange. „Lern ihn kennen.“