Wie sollte er das Gespräch nun beginnen? Thomas setzte sich auf die Bettkante und sah unschlüssig zu Jonathan, der sich den Hocker in die Nähe des Ofens geschoben hatte.
„Der ist leider nicht an“, erklärte er, dankbar für das Gesprächsthema. „Soll ich wärmer machen? Ist dir kalt?“
Jonathan schüttelte den Kopf. „Nein.“
Dann verstummte er, und wieder kehrte Stille in die Hütte ein.
Obwohl Thomas im Geiste so viele Sätze durchgegangen war, die er sagen könnte, sich so viele mögliche Gesprächsanfänge überlegt hatte, brachte er nun kein Wort über die Lippen. Er hatte zu viele Fragen, die in seinem Kopf um Aufmerksamkeit bettelten und sich gegenseitig übertönten – das war doch früher nicht so gewesen! Hatte ihn der Rückzug in die Einsamkeit so verändert?
Jonathan übernahm es schließlich, das Schweigen zu brechen. „Vielen Dank für die Decke“, sagte er lächelnd. „Ich hatte das Ganze hier wohl nicht so richtig durchdacht, als ich aufgebrochen bin.“
Thomas schmunzelte. „Kein Problem. Dass Gestaltwandler keine Kleidung ... erschaffen können, hat mich letztes Mal schon gewundert.“
Ein amüsiertes Zucken umspielte Jonathans Mundwinkel. „Gestaltwandler? Das klingt ... vielseitig. Ich bin ein Werwolf, Thomas. Mehr als Mensch, Werwolf und Wolf kann ich nicht sein.“
„Werwolf“, wiederholte Thomas murmelnd. „So wie in den Geschichten?“ Sein Blick verriet leichte Unruhe, doch er sah sein Gegenüber offen an.
Jonathan zuckte mit den Schultern. „Kommt auf die Geschichten an. Wir verwandeln uns bei Vollmond in Wölfe. Wir können uns aber auch willentlich verwandeln, sowohl zum Wolf als auch zum Werwolf oder zum Mensch.“
Die Antwort erzeugte eine ganze Handvoll neuer Fragen in Thomas‘ Verstand. Fasziniert schüttelte er den Kopf. Mensch, Wolf und Werwolf ... war Letzteres dann eine Mischung aus beidem? War Jonathan in dieser Form gefährlich? Wie fühlte sich die Verwandlung an? Konnte man sich vor dem Vollmond verstecken? Und – Moment. Eins nach dem anderen. Was hatte er Jonathan unbedingt fragen wollen?
„Denkst du als Wolf wie ein Wolf? Und verhältst dich wie einer?“
Jonathan dachte nach. Wie sollte er etwas erklären, das für ihn völlig selbstverständlich war?
„Nein. Ich denke immer wie ein Werwolf. Ich bin nicht wie du, Thomas. Ich bin ... sowohl Wolf als auch Mensch.“ Er war mit seinem Erklärungsversuch nicht ganz zufrieden, doch für jetzt würde es genügen müssen. „Mein Verstand ist von Instinkten, Sinneseindrücken und Gefühlen wohl viel stärker durchsetzt als deiner, eben ähnlich wie bei einem Wolf. Oft ist es schwierig, sich wie ein gewöhnlicher Mensch zu verhalten. Die Form, die mein Körper annimmt, bestimmt, welcher Teil in meinem Geist überwiegt, der Wolf oder der Mensch. Aber beide Teile sind immer da.“
Es sei denn, man verlor sich in einer der Gestalten. Doch das würde für eine erste Erklärung zu sehr ins Detail gehen.
Dann erkannte er, welche Frage Thomas wohl wirklich umtrieb. Er lächelte. „Wir sind keine instinktgetriebenen Bestien, die Jagd auf Menschen machen“, versicherte er ihm. „Wenn dieser Teil der Geschichten wahr wäre, wäre unsere Existenz längst wieder aufgeflogen.“
Wieder aufgeflogen? Noch eine Frage, die Thomas später würde stellen müssen! Doch jetzt konzentrierte er sich auf die ausreichend faszinierende Gegenwart. „Wie viele von euch gibt es?“
Jonathans Miene wurde ernst. „Nicht mehr so viele wie früher.“ Kurz zögerte er. „Es gibt Personen, die Jagd auf uns machen, und leider bekämpfen sich die verschiedenen Rudel oft genug untereinander, anstatt an einem Strang zu ziehen. Wir heilen zwar sehr schnell, aber dennoch kann man uns töten.“
Insbesondere Vampire waren dazu in der Lage. Doch er wollte Thomas zunächst mit der Welt der Werwölfe vertraut machen, nicht all den anderen Subkulturen, die auf diesem Planeten lebten. Es würde für ihn so schon schwierig genug werden.
Thomas runzelte die Stirn. „Könnt ihr dann nicht einfach Leute beißen und eure Reihen wieder auffüllen?“
Diesmal lachte Jonathan. „Nein, das ist ein Märchen. Das Werwolfdasein wird vererbt!“
„Vererbt? Lebt ihr also in Familien – bist du deshalb mit deinem Bruder hier?“ Thomas war wirklich interessiert.
„Jein. Das Rudel ist für uns wie eine Familie. Das ist wie bei Wölfen. Oft sind Verwandte in einem Rudel. Aber du kannst ein Rudel verlassen und dich einem anderen anschließen, oder auch ganz alleine bleiben. Aber Wölfe sind soziale Wesen, genau wie Menschen. Allein zu sein macht uns auf Dauer unglücklich.“
Damit war Jonathan bei dem Thema angelangt, das ihn interessierte. Er warf Thomas einen vielsagenden Blick zu. „Wie ist es bei dir? Hast du keine Familie? Bist du deshalb alleine hier oben?“
Der Augenblick, mehr über sich selbst preiszugeben, war gekommen. Unwohlsein befiel Thomas – er vermied diese Gedanken gerne. Wenn es nach ihm ging, könnten sie die ganze Nacht nur über Werwölfe reden!
Doch er wollte fair sein und auch Jonathans Fragen beantworten. Wie würde der reagieren, wenn er seine Geschichte erfuhr? Nun, es gab nur einen Weg, es herauszufinden.
„Ich hab keine Geschwister, und meine Eltern sind vor einigen Jahren gestorben“, begann er zögerlich. „Aber ich hatte, wie du, trotzdem eine Art Familie. Ich war einer der letzten Jahrgänge, die Wehrdienst leisten mussten, und was soll ich sagen – es hat mir gefallen. Die Wehrpflichtigen waren oft Knalllköpfe, aber die, die länger bei der Truppe waren, nicht. Die legen im Ernstfall einen Zusammenhalt an den Tag, der mich beeindruckt hat. Klar hat man sich teilweise gestritten, beneidet, angeschrien oder einfach nicht leiden können, aber wenn einer die Gemeinschaft von außen angemacht hat, standen alle wie ein Mann zusammen. Und es war interessant! Es gibt wirklich viele Spezialisierungsmöglichkeiten. Als mein Wehrdienst vorbei war, bin ich Berufssoldat geworden. Sanitätssoldat, um genau zu sein. Ich mochte es, anderen helfen zu können.“
So viel zum angenehmen Teil seiner Erlebnisse.
Jonathan bemerkte, dass der Bericht ins Stocken gekommen war. „Warum bist du nicht dabei geblieben?“
Thomas lächelte traurig. „Ich bin dabei geblieben – ich war gut zehn Jahre lang dabei. Es war ein tolles Gefühl, den Kameraden in jeder Situation zur Seite stehen zu können, sei es Verteidigung oder Rettung. Jeder Einsatz war anders, besonders die im Ausland. Nie kam langweilige Routine auf. Und wir haben auch den Menschen vor Ort oft medizinisch und militärisch geholfen. Aber ...“ Er schluckte und konzentrierte sich auf Jonathan. Er wollte nicht wieder an die Erlebnisse denken, die ihn zum Teil noch im Traum verfolgten. „Man sieht schon ziemlich viel. Und man kann nicht jeden retten. Das hat mich irgendwann ganz schön mitgenommen.“
Jonathan konnte sich das gut vorstellen. Auch er hatte schon schlimme Dinge erlebt, doch das Rudel hatte ihn stets aufgefangen. War es bei Soldaten nicht genauso? Er wollte nicht glauben, dass man in einer wie auch immer gearteten guten Kameradschaft mit negativen Erlebnissen alleingelassen wurde. „Hat dich niemand unterstützt, als es dir zu viel wurde?“
„Oh doch“, versicherte Thomas. „Es gab viele hilfreiche Angebote, und ich habe sie auch genutzt. Aber nach einer Weile hab ich beschlossen, dass ich einfach genug hatte. Ich wollte was anderes ausprobieren und hab meinen Abschied genommen.“ Er seufzte. „Das war die schwierigste Entscheidung meines Lebens. Ich frage mich inzwischen oft, ob ich die richtige Wahl getroffen habe.“
Jonathan nickte mitfühlend. Allein beim Gedanken daran, sein Rudel zu verlassen, zog sich sein Magen wie ein Stein zusammen. Er glaubte, Thomas‘ Gefühle nachempfinden zu können.
„Was hast du danach gemacht?“, erkundigte er sich.
Thomas seufzte. „Meine Eltern nahmen mich gern wieder bei sich auf, damit ich mir in Ruhe ein neues Leben aufbauen konnte – aber alle anderen nicht. Viele Leute waren wegen der Zeitungsartikel über rechte Netzwerke in der Bundeswehr sauer, und sie ließen ihre gehässigen Kommentare an mir aus. Einige unterstellten mir, ich sei rausgeworfen worden, weil ich Nazi sei!“ Er spie das Wort förmlich aus. Diese Unterstellung hatte ihn offenbar sehr getroffen. Doch so schnell, wie sein Ärger aufgekommen war, verflog er wieder. Traurigkeit schwang in seiner Stimme mit, als er fortfuhr.
„Dann kam irgendwie raus, dass es mir zu viel geworden war – und von da an mieden mich alle, weil ich, ein angeblicher ‚Exsoldat mit psychischen Störungen‘, in ihren Augen eine tickende Zeitbombe war. Du weißt schon – an Waffen ausgebildet, psychisch labil – was übrigens nicht stimmt! – und dann auch noch angeblich Nazi. Die Nachrichten über Amokläufe in den USA haben die Leute paranoid gemacht. Überall bekam ich nur Ablehnung zu spüren, egal, was ich sagte oder tat. Irgendwann brauchte ich ganz dringend einfach Ruhe. Vor allem! Und als meine Eltern dann umkamen, hab ich das Haus verkauft und bin an den entlegensten Ort gezogen, den ich finden konnte. Hierher.“
Eine Weile schwiegen sie. Der Bericht hatte Thomas sichtlich aufgewühlt, er knetete unruhig seine Hände und sein Blick flackerte unstet durch den Raum.
Jonathan gab ihm etwas Zeit und dachte über die Informationen nach. Auf ihn machte all das den Eindruck, als habe Thomas aufgrund unglücklicher Umstände sein Rudel verlassen und dann kein neues gefunden.
Die bloße Vorstellung, allein und ohne Rudel zu sein, als Einzelgänger von Fremden angefeindet zu werden, bis man keine andere Wahl mehr hatte, als sich in die Einsamkeit zurückzuziehen, tat ihm in der Seele weh. Er konnte sich die Unruhe und Frustration, die einen dann ergreifen musste, ausmalen – war Thomas anderen Menschen gegenüber deswegen so bissig?
Er verhielt sich in gewissem Maße tatsächlich wie ein Wolf. Am liebsten hätte Jonathan sich eng an ihn geschmiegt, um ihn so zu trösten, doch in menschlicher Gestalt wagte er nicht, diesem Instinkt nachzugeben.
Alles, was er gehört hatte, auch der Rückzug, den Thomas nach dem Tod seiner Eltern vollzogen hatte, schien Jonathan in seine Kinfolk-Theorie zu passen. Aber er musste mehr über Thomas‘ Familie erfahren, bevor er entscheiden konnte, ob er ihn damit konfrontieren sollte.
Als er das Gefühl hatte, dass genügend Zeit verstrichen war und Thomas sich beruhigt hatte, lenkte er das Gespräch auf dieses andere Thema. „Was ist deinen Eltern denn zugestoßen? Sie müssen tolle Menschen gewesen sein. Erzähl mir von ihnen“, bat er.
Und Thomas nahm das Angebot zum Themenwechsel dankbar an.