Thomas schluckte. Die Situation war trotz des Wissens, dass es sich bei dieser Bestie um Jonathan handelte, furchteinflößend.
„Du machst mir Angst, wenn du so auf mich runterschaust“, gestand er. „Bitte lass mich aufstehen.“
Er war erleichtert, als der Werwolf aufhörte, sein Gesicht zu lecken, und ihn freigab, sodass er auf die gefühlte Sicherheit seines Betts zurückziehen konnte, von wo aus er Jonathan, der sich wieder hingekauert hatte, erneut staunend musterte.
„Als was fühlst du dich am wohlsten?“ Er hatte so viele Fragen.
Jonathan schnaubte. „Als was? Nicht als was – in welcher Form. Das meinst du?“ Als Thomas nickte, fuhr er fort. „In menschlicher Haut. Ich bin als Mensch geboren und aufgewachsen. Und ich kann mich besser konzentrieren, aufs Sprechen. Das hilft mit Menschen.“
Daher also die verkürzte Ausdrucksweise, seit Jonathan sich verwandelt hatte! Erst jetzt wurde sie Thomas wirklich bewusst.
„Manchmal ist das Reden gar nicht so wichtig“, erwiderte Thomas leise.
Er vermisste seinen Wolf. Er glaubte, langsam akzeptieren zu können, dass der Wolf Jonathan war, doch wenn er wählen könnte, hätte er ihn jetzt gerne als Wolf bei sich. Diese ganze Werwolfgeschichte machte ihm zu schaffen – ihm fehlte sein Vertrauter, sein Freund, der ihm zuhörte und einfach nur da war. Er würde sich gerne an ihn schmiegen, seine Wärme genießen und seine Gedanken mit ihm teilen, ihm Dinge erzählen, die er sonst niemandem anvertraute. Zwar hatte Jonathan gesagt, Werwölfe seien auch in menschlicher Gestalt kontaktbedürftiger, doch die Vorstellung, an den Menschen Jonathan gekuschelt im Bett zu liegen, bereitete ihm Unbehagen. Der könnte das so leicht anders verstehen ... und was würde Thomas dann tun?
Er wollte ihre Freundschaft nicht aufs Spiel setzen.
Der Werwolf in seiner Hütte setzte sich, sodass er wie ein Mensch mit dem Rücken an der Wand lehnte. Dann griff er mit seinen gewaltigen Pranken erstaunlich präzise nach der Decke, die immer noch auf dem Boden lag, und breitete sie über seinen Schoß.
„Ich verwandle mich nicht gern vor anderen“, grollte dann die tiefe Stimme durch den Raum. Sie klang überraschenderweise leicht verlegen. „Gehst du noch mal raus?“
„Klar“, antwortete Thomas ohne Zögern und trat in die klare, kühle Nachtluft vor die Hütte.
Irgendwie erstaunte es ihn, dass draußen immer noch alles so aussah wie vor einigen Tagen. Für ihn hatte sich die Welt so sehr verändert, doch der sanfte Schimmer der Lichter aus dem Tal, das leise Schreien der Nachtvögel, die Sterne am Himmel und die schwarzen Silhouetten der Bäume waren genau wie vor zehn Tagen. In nur zehn Tagen war seine Realität völlig durcheinandergeraten. Doch was auch immer den Menschen zustieß, die Welt drehte sich einfach weiter, egal, was ein Einzelner empfand.
„Alles in Ordnung?“ Jonathans leise Stimme unterbrach seine Grübelei.
„Ich denke schon.“ Er drehte sich um. Jonathan stand in die Decke gehüllt als Mensch in der Tür, als wäre er nie etwas anderes gewesen. „Es ist alles ein bisschen viel, glaube ich.“
Sie gingen zurück ins Innere der Hütte.
„Siehst du, du bist Kinfolk“, sagte Jonathan lächelnd, als er sich wieder neben Thomas auf der Bettkante niederließ. Er war so erleichtert, dass er dessen leeren Blick nicht wahrnahm.
Verlegen fuhr er fort: „Darf ich dich um einen Gefallen bitten?“
Thomas schreckte aus seinen Gedanken hoch. „Klar.“
„Erzähl niemandem, dass ich mich vor dir verwandelt habe.“
Thomas runzelte leicht die Stirn. „Okay ... wie du willst. Aber warum? Es beweist doch deine Theorie, oder?“
„Na ja, schon ...“ Jonathan fuhr sich verlegen mit einer Hand durchs Haar. „Es ist nur ... das ist verboten. Und ich kriege Ärger, wenn es jemand erfährt. Richtigen Ärger.“
Thomas sah ihn verwundert an. „Wer sollte dir Ärger machen können?“
Jonathan lachte leise. „Ob du’s glaubst oder nicht, ich bin kein besonders großer Werwolf. Du solltest mal Sebastian sehen! Oder unsere Rudelführerin!“ Dann verzog er das Gesicht. „Können wir bitte das Thema wechseln?“
Thomas nickt geistesabwesend.
Er hatte den Verstand nicht verloren, aber es war wirklich schwer zu fassen gewesen, was er hier beobachtet hatte. Wenn man sich einer Sache sicher war, dann doch seiner eigenen Gestalt, oder nicht? Fester Boden unter den Füßen und Gespür für den eigenen Körper sowie das Wissen um dessen genaue Form waren die Dinge, die Menschen Sicherheit gaben. Darum waren das auch zwei der nachhaltigsten und schockierendsten Ereignisse, die einem Menschen widerfahren konnten: Ein Erdbeben, bei dem die Erde plötzlich nicht mehr verlässlich, stabil und sicher war, und der Verlust von Gliedmaßen oder schwere Entstellungen. Wie musste es sein, wenn man keine feste Gestalt besaß?
„War das gerade deine wahre Gestalt?“, fragte er Jonathan.
Erst jetzt bemerkte der, dass Thomas innerlich aufgewühlt war. Die Frage jedoch verwirrte ihn. „Was meinst du damit?“
Besorgt musterte er das Gesicht seines Gegenübers. Ein seltsamer Glanz lag in Thomas‘ Augen, eine Intensität, die ihn beunruhigte. Was auch immer im Kopf herumging, es schien ihn wirklich zu verstören. Oh, bei allen guten Geistern, hatte er sich doch geirrt?
„Hey“, sprach er ihn an und rückte ein Stück näher. „Ist alles okay?“
Thomas ignorierte die Frage. „Was bist du wirklich?“, insistierte er. „Was ist deine wahre Gestalt?“
Er wusste selbst nicht warum, doch sein Geist hatte sich an diesem Punkt festgebissen. Er brauchte eine Antwort, musste es verstehen! Was war Jonathan? War er ein Wolf, der sich in einen Menschen und ein Zwischending verwandeln konnte? Oder ein Mensch, der Wolf und Zwischenform zu sein vermochte? Oder war das Ding, dieser Werwolf, das, was er wirklich war, und sowohl der menschliche als auch der wölfische Körper nur eine Verkleidung?
Was war das Wesen, zu dem er sich hingezogen fühlte, ohne zu verstehen, warum? Was?
Er starrte Jonathan an, forschte in seinen Augen nach einem Hinweis, einem verräterischen Glanz, irgendetwas, das ihn die Antwort wenigstens erahnen ließ!
Was war er wirklich? Was?
„Hey!“
Nun bekam Jonathan es wirklich mit der Angst zu tun. Thomas‘ Blick war starr auf ihn gerichtet, sein Atem ging flacher und schneller, als er es sollte, und er hatte die Matratze unter sich gepackt, als wäre sie sein letzter Halt vor einem Absturz in eine furchterregende Tiefe.
„Thomas!“ Er umschloss das Gesicht des anderen mit seinen Händen und erschrak, als er die Temperatur der Haut spürte. „Bitte, rede mit mir! Was ist los?“
Er verstand einfach nicht, was Thomas von ihm wissen wollte. Was war so wichtig? Was meinte er mit „wahre Gestalt“?
Thomas‘ Hände packten seine Handgelenke. Im ersten Moment glaubte Jonathan, er wolle ihn fortschieben, doch das war es nicht: Thomas hielt sich an ihm fest, suchte verzweifelt nach einer Sicherung, einer Rettungsleine, die ihn vor dem Zusammenbruch der Welt, in der er sich befand, bewahren würde. Selbst seine Augen suchten Halt in denen seines Gegenübers.
Was hatte er ihm nur angetan? Jonathan wurde von Schuldgefühlen überwältigt.
Thomas war Kinfolk, dessen war er sich vollkommen sicher. Kein normaler Mensch hätte seine Verwandlung und seine Werwolfgestalt so gefasst betrachten, geschweige denn mit ihm sprechen können.
Dennoch – normalerweise wuchs Kinfolk mit Werwölfen auf. Sie waren eine Selbstverständlichkeit, Teil der ganz normalen Umgebung, der eigenen Verwandtschaft. Und was man von Kindesbeinen an kannte, stellte man nicht in Frage.
Was aber mochte mit einem Lebewesen passieren, wenn seine ganze Welt, alles, was es bisher für wahr erachtet, als gegeben und selbstverständlich hingenommen hatte, ins Wanken geriet? Erzählungen über den Wechsel der Erscheinungsform zu hören war etwas völlig anderes, als diesen dann wirklich zu beobachten. Erzählte das nicht sogar eine Geschichte in der Bibel? Ein Jünger, der erst wirklich glaubte, als er Beweise sehen und berühren konnte?
Jonathan wurde beinahe schlecht, als ihm wieder einfiel, wie der Jünger hieß. Der ungläubige Thomas. Bei allen guten Geistern ... als ob es eine Warnung gewesen wäre, ein Hinweis, mit Bedacht vorzugehen! Sein schlechtes Gewissen wurde noch schlimmer.
„Was bist du?“, flüsterte Thomas wieder. „Bist du mein Wolf oder nicht?“
Jonathan sah in die grauen Augen, die so verzweifelt nach Verstehen, einer Erklärung suchten. Nein, er begriff die Frage noch immer nicht ganz, aber der Hauch einer Ahnung, was Thomas vielleicht brauchte, beschlich ihn. Sein Wolf? War das die Gestalt, die Thomas am vertrautesten war, die er am ehesten mit der Realität in Einklang bringen konnte?
Sanft entzog er Thomas seine Handgelenke, setzte sich vollständig aufs Bett und wurde Wolf.
Kaum verkürzte er die Distanz zwischen ihnen, schloss Thomas ihn fest in die Arme, vergrub sein Gesicht in seinem Fell. Ein leises, erlöstes Aufseufzen verriet, wie dringend er seinen tierischen Freund gerade brauchte.
Jonathans Anspannung löste sich. Endlich Körperkontakt. Endlich Trost.
Behutsam, aber nachdrücklich schob er Thomas in eine liegende Position, leckte ihm sanft das Gesicht und kuschelte sich eng an ihn.
Ich bin da. Ich bin wirklich. Die Welt ist wirklich. Du bist nicht alleine. Ich bin da.
Und zu seiner unendlichen Erleichterung spürte er tatsächlich, wie Thomas, der ihn weiterhin fest umklammert hielt, langsam ruhiger wurde.