Unschlüssig sah Jonathan hinunter auf das leere Blatt Papier, das seit gut einer halben Stunde unberührt vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Wie fing er nur an? Und war das Ganze hier wirklich eine gute Idee? Laut seufzend ließ er den Stift auf die Tischplatte fallen und lehnte sich nach hinten, fuhr sich ratlos mit den Händen durchs Haar.
„Was ist denn los?“ Matthias schob neugierig seinen Kopf durch die Tür zu Jonathans Zimmer, die wie üblich offenstand, und musterte das leere Blatt auf dessen Schreibtisch. Keine technische Zeichnung oder Beschreibung, sondern eine nackte Seite. Wie ungewöhnlich.
Mit einem Tritt gegen die Wand schob Jonathan seinen Drehstuhl vom Schreibtisch weg und sah Matthias ebenso unschlüssig an wie zuvor das Papier.
Vielleicht hatte sein Mitbewohner ja eine Idee? Er war inzwischen so frustriert, dass er dankbar nach jedem Strohhalm griff, der sich ihm bot.
„Ich muss einen Brief schreiben“, erklärte er also. „Und ich weiß einfach nicht, wie ich anfangen soll.“
Matthias ließ sich auf das kleine Sofa gegenüber dem Schreibtisch fallen und musterte Jonathan neugierig. „Was denn für einen Brief? Wieso schickst du nicht einfach ‘ne E-Mail oder rufst an?“
Jonathan lächelte. Klar, theoretisch müsste die Sache viel einfacher sein. Aber Thomas war wirklich ein spezieller Fall ...
Er warf Matthias einen zögerlichen Blick zu. Ja, er war sein Mitbewohner, gehörte jedoch nicht zu Jonathans engen Freunden. Er war nun mal ein Mensch – das Risiko, ihm versehentlich etwas von der Welt der Werwölfe zu offenbaren, hatte Jonathan bisher davon abgehalten, mit ihm über mehr als nur ihre nächste Spielesession zu reden. Doch er mochte Matthias, und auch der konnte ihn gut leiden. Warum also nicht ...? Er musste ein paar Details eben weglassen.
„Ich habe in dem Dorf, in dem meine Mutter gelebt hat, einen netten Kerl kennengelernt. Wir haben uns nächtelang unterhalten – weißt du, jemand von der Sorte, bei der man einfach das Gefühl hat, die Person wäre total auf deiner Wellenlänge.“ Er unterbrach sich und warf Matthias einen nervösen Blick zu – klang das jetzt wieder seltsam?
Doch zu seiner Überraschung nickte Matthias ernst. „Das kenne ich. Menschen, die man beispielsweise im Zug trifft und sich super unterhält, und sich dann ewig ärgert, weil man nicht den Mut hatte, sie einfach nach ihrer Telefonnummer zu fragen, bevor man ausgestiegen ist. So Leute sind selten.“ Er lächelte versonnen. „Einmal hab ich’s aber gemacht – und Philipp gehört bis heute zu meinen besten Freunden. Wir haben uns tatsächlich so im Zug kennengelernt.“
Es steckten doch immer wieder Überraschungen in seinem Mitbewohner! Dass Matthias sofort erfasst hatte, worum es ihm ging, freute Jonathan und er nickte eifrig. „Genau so könnte es mit Thomas sein, dieem Typen aus dem Dorf. Er hat halt nur leider kein Telefon oder Internet. Deshalb der verflixte Brief. Ich hab keine Ahnung, was ich schreiben soll!“
Matthias lachte, stand auf und schob Jonathan zurück an den Schreibtisch. „Das ist doch nicht schwer, Mann! Schreib einfach, was du denkst! Der freut sich bestimmt, von dir zu lesen! Philipp freut sich immer, wenn ich ihm ‘ne Mail schicke, egal, was für Belanglosigkeiten ich reinschreibe!“
Irritiert sah Jonathan zu ihm hoch. „Wo wohnt der denn?“
„In Stockholm. Von hier zu weit weg, um ihn regelmäßig zu besuchen. Außerdem hat er da ’ne Freundin gefunden und wird bald Vater – der hat grad zu viel um die Ohren, um ihm auf den Wecker zu fallen.“ Das Lächeln auf Matthias‘ Gesicht zeigte, dass er sich ehrlich für seinen Freund freute. „Also, hopp, ran an den Speck!“
Jonathan zögerte immer noch. „Aber was, wenn ihn die Belanglosigkeiten gar nicht interessieren?“
Matthias schlug ihm aufmunternd auf die Schulter. „Alter, mach dir doch nicht dauernd so ’nen Kopf! Was soll im schlimmsten Fall passieren? Er antwortet dir nicht! Besser, du findest gleich raus, ob ihr Freunde werden könnt oder nicht! Ist wie beim Zocken: Probier’s einfach aus! Wenn’s schiefläuft, starte neu – in dem Fall halt mit jemand anderem.“ Er klopfte ihm noch einmal auf die Schulter und verließ Jonathans Zimmer.
Der lachte mit einem Kopfschütteln leise auf. Was für Weisheiten in seinem Mitbewohner steckten! Vielleicht sollten sie sich doch häufiger einfach nur unterhalten.
Dann machte er sich daran, Matthias‘ Rat in die Tat umzusetzen. Er würde einfach schreiben, was er dachte – er musste es ja nicht unbedingt gleich abschicken.
Lieber Thomas,
leider weiß ich noch nicht, wann wir wieder ins Dorf kommen werden. Aber ich arbeite daran, es herauszufinden, und wollte dich einfach ein wenig über den Stand der Dinge informieren.
Die Heimfahrt hierher zurück war völlig ereignislos ...
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In den kommenden Tagen schrieb Jonathan fast täglich weiter an diesem Brief. Manchmal fügte er nur ein paar Zeilen an, ein andermal ein oder sogar zwei ganze Absätze. Er erzählte Thomas ein wenig von seinem Alltag, von seinen Freunden und Bekannten, und immer auch vom Rudel, das er jedoch immer nur als „Familie“ bezeichnete. Thomas würde schon verstehen, was er meinte.
Er hatte Spaß daran, Thomas all die kleinen Details zu erzählen. Es war fast, als würde er mit ihm telefonieren – nur, dass er eben vorerst keine Antwort bekam. Das konnte er auch nicht, solange er den Brief nicht abschickte – und damit würde er, das hatte er sich fest vorgenommen, warten, bis er wusste, wann er und Sebastian wieder in die Berge fahren würden. Irgendetwas wirklich Interessantes sollten seine Seiten unbedingt enthalten.