Kaum hatte Kaèl es sich zuhause an der Tafel bequem gemacht, mit Elìrios angestoßen und am Aperitif genippt, da kehrte seine Mutter von ihren Amtsgeschäften zurück.
»Was war dieser eitle Clown wieder nervig«, schimpfte sie und schmiss dem Diener ihren Umhang ins Gesicht.
Akàri pflegte ihre Untergebenen nicht beim Namen zu nennen, sie erfand Spitznamen, die so prägnant waren, dass selbst Kaèl, der keinerlei Interesse an Politik oder den Leuten dahinter zeigte, sie sich merken konnte. ›Der eitle Clown‹ war der gewählte Vorsteher der drittgrößten Stadt Fukuòkas.
Akàri war konservativ, was Politik anging. Sie schätzte keine Männer in gewichtigen Positionen. Nur bei Kaèls Bemühungen, den Erzmagititel zu erreichen, drückte sie ein Auge zu, wie bei fast allem, was ihr Goldjunge sich in den Kopf setzte.
Sie nahm ihm gegenüber Platz und rieb sich die Schläfen. »Und triffst du dich heute Abend schön mit Rubìnia?«
Sein Vater räusperte sich leise.
»Eher nicht, Mutter. Sie hat mich verlassen.«
»Es stimmt also wirklich!«, rief sie. Sie tauschte Blicke mit seinem Vater.
»Ich hatte dir gesagt ...«, setzte Elìrios an.
»Sie ist eine Lady, eine Taìfu.« Seine Mutter grollte. »Bist du dir auch nur ansatzweise im Klaren darüber, was eine solche Ehe für unsere Familie bedeutet hätte? Die Taìfus besitzen das größte und fruchtbarste Land Finistères. Und alles machst du nichtig, weil du dir zu schade bist, dir etwas mehr Mühe um dieses Mädchen zu geben?«
Kaèl verdrehte die Augen. »Sie ist langweilig. Es gibt genug andere adelige Frauen auf der Welt.«
»Alle findest du langweilig«, rief sein Vater. »Myriam Macalister, Lània Kàshiko«, er rang die Hände. »Immer wenn wir gerade denken ›na endlich‹, ist es wieder vorbei. Unser Sohn verscheucht sie alle!«
»Ja, ja, es ist tragisch«, sagte Kaèl und unterdrückte ein Gähnen. »Beim nächsten Mal gebe ich mir mehr Mühe, ganz sicher.«
»Ich habe es satt«, schrie seine Mutter. Sie hatte sich hochgedrückt und beugte sich bedrohlich über die Tafel, puterrot angelaufen. »Du wirst dieses Jahr heiraten, ob es dir passt, oder nicht. Solange du in meinem Haus lebst, Kaèl‘thas, wirst du das tun, was für die Hotàrus am Besten ist.«
Kaèl erstarrte. Haltsuchend griff er nach dem schweren Samt der Tischdecke.
»Am Wochenende ist ein Ball bei den Ryunòrs. Übermorgen fahren wir los.« Seine Mutter verengte die Augen. »Du wirst mitkommen.«
Er stöhnte innerlich. Nicht schon wieder bei den Ryunòrs. »Ich …«
»Keine Widerrede! Wir werden dir dort ein Mädchen aussuchen, ihr werdet tanzen und reden. Du wirst an den richtigen Stellen lachen und sie mit deiner Schönheit und Eloquenz bezaubern. Dann wirst du dich von ihr ausführen lassen, und dann, verdammt noch mal heiratest du sie, hast du mich verstanden?«
»Ich…«, setzte er an. Ihr Blick duldete keinen Widerspruch, also nickte er matt. »Ja, Mutter.«
»Du bist einunddreißig Jahre alt. Wir haben dir genug Zeit gelassen, dich auszuprobieren. Ich hatte in deinem Alter schon einen achtjährigen Sohn und habe über das Land geherrscht.«
Diese alte Leier schon wieder. Was konnte er dafür, dass sie für die Ehe alles hatte aufgeben müssen?
»Und, warst du glücklich damit?«, fragte er provozierend.
»Es geht hier nicht um ›Glück‹«, donnerte sie. »Denkst du, ich wäre mit deinem Vater jemals glücklich gewesen?«
Elìrios zuckte zusammen. »Sag das doch nicht so vor dem Jungen.«
Sie warf ihm einen eisigen Blick zu. »Warum nicht? Diese ›Ehe‹ ist die größte militärische Leistung des Jahrhunderts. Damit werde ich mich doch wohl brüsten dürfen?«
Als wüsste Kaèl das nicht. Seit er sich zurückerinnern konnte – und das war eine lange Zeit, denn Kaèls Gedächtnis war ausgezeichnet – hatten seine Eltern gestritten, besser gesagt, hatte seine Mutter seinen Vater angeschrien. Kaèl hatte es sich angewöhnt, immer ein Buch bei sich zu haben, hinter dessen Einband er sich zu diesen Gelegenheiten verschanzte.
Er senkte den Kopf über seine Jakobsmuschelcrème. »Ja, Mutter. Eine tolle Leistung.«
»Die Ehe ist kein Feuerwerk der Gefühle«, sagte sein Vater und legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. »Wer hat euch jungen Leuten das nur in den Kopf gesetzt?«
Der Rest des Essens verlief schweigsam. Kaèl kaute sich durch den Rapunzelsalat mit Pinienkernen und das Heilbuttfilet, ohne groß zu schmecken. Er wagte nicht, den Kopf zu heben.
»Heute gibt es das zweite Mal in diesem Mondzyklus Heilbutt«, bemerkte sein Vater. »Nicht sonderlich fantasievoll. Ich werde Miss Winterbotton entlassen.«
Natürlich würde er das. Damit wäre es die zehnte Hausvorsteherin dieses Jahr. Ein neuer Rekord.
Kaèl war heilfroh, als er den faden Geschmack endlich mit dem Digestif herunterstürzte. Er nickte seinen Eltern zu und zog sich zurück.
Mit hängendem Kopf schlich er in seine Gemächer. Kaèl hatte sechs Zimmer: Der mit Teppichen ausgelegte Salon, voller gemütlicher Sofas und Sessel, in dem er Besuch empfing oder sich entspannte; sein Arbeitszimmer mit dem wuchtigen Schreibtisch und dem Stehpult, an dem er seine Korrespondenz erledigte; das Badezimmer mit einer in den Boden eingelassenen Badewanne und goldenen Waschbecken; und sein Schlafzimmer mit den schweren, dunkelroten Stoffbehängen vor den Wänden und der Spiegelkommode, an der er von Mister Taryòn angekleidet wurde. Sein ganzer Stolz waren jedoch seine zwei Bibliotheken. Eine enthielt alle nennenswerten Werke der Transformationsmagie, die andere bot Lesestoff über alle restlichen Magiearten und Magiegeschichte der letzten zweitausend Jahre. Er hatte dort sogar eine kleine Belletristik-Ecke, die jedoch eher der Erheiterung seiner Liebschaften diente, als dass Kaèl sie selbst nutzte.
Kaèl betrat den Salon und setzte sich auf seinen Lieblingssessel direkt bei der breiten Fensterfront zum Schlosshof. Er ließ sich von einem Diener eine Karaffe Wasser bringen, zog das Kissen in seinem Rücken zurecht und wirkte den Hologrammzauber. Als Linas feurigroter Haarschopf vor ihm erschien, atmete er auf.
»Du? Was für eine Überraschung!«, sagte sie.
»Ja, ja«, sagte er. »Ich weiß, ich habe mich länger nicht gemeldet.«
»Ein paar Jahre!«
Jahre? Was war die Zeit vergangen. Schade eigentlich. Lina und er wären das perfekte Paar gewesen, wäre da nicht ihre grausame Ader, die immer wieder durchblitzte. ›Lina die Schlächterin‹, hatten die anderen sie damals hinter ihrem Rücken genannt.
»Lina, ich habe mich von Rubìnia getrennt.«
»Aha«, sagte sie uninteressiert. »Das war abzusehen.«
»Das wäre nicht so schlimm, aber Mutter zwingt mich jetzt dazu, so bald wie möglich zu heiraten. Ich soll auf alle Bälle mitkommen und die Herzen junger Adeliger erobern. Ich habe für so etwas überhaupt keine Zeit, in vier Monaten ist meine Prüfung!«
»Ach, die Prüfung.« Sie machte eine verächtliche Geste. »Mit der hast du mich schon genervt, als wir noch zusammen waren.«
»Es ist eine langwierige und ernste Angelegenheit. Sonst könnte ja jede Erzmagi werden.«
»Rufst du deshalb an? Um mir dein Leid zu klagen? Ich habe Besseres zu tun.«
Er seufzte tief. »Lina, willst du mich heiraten?«
»Bitte was?«
»Ob wir heiraten wollen.«
»Ich hatte deine Worte schon verstanden, Kaèl. Ich muss sie nur erst verarbeiten.«
»Heißt das ›ja‹?«
Sie schnaubte. »Kaèl, wir sind seit mehr als vier Jahren getrennt. Du hattest dich getrennt. Wie in Muriels Namen kommst du darauf, dass ich jetzt ›ja‹ sagen könnte?«
»Ich habe es mir noch einmal überlegt. So schlimm war es damals doch nicht, mit uns.«
»So? Was hattest du noch getan, nachdem ich dich während der einen Kutschfahrt zweimal in deinem Lesefluss unterbrochen habe?«
»Unterbrochen? Du hast mir absichtlich heißen Tee in den Nacken gegossen!«
Sie verdrehte die Augen. »Kleinigkeiten. Irgendwomit musste ich deine Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Was hattest du da vor versammeltem Hofe über mich gesagt?« Sie deutete mit der Hand Anführungszeichen an. »Linas Fehler sind fraktal, selbst ihre Fehler haben Fehler, und so weiter bis ins Unendliche.«
Er kicherte unterdrückt. »Ich erinnere mich.«
»Das hat mich und meine Familie unseren Ruf gekostet«, fuhr sie ihn an. »Es hat Jahre gedauert, bis eine aus dem Landadel wie ich wieder zu Festen geladen wurde.«
»Oh«, sagte er. »Das ist … unvorteilhaft. Fein, damals war ich genervt von dir, aber heute denke ich, dass ich mich mit deinen Launen arrangieren könnte, wenn ich mich anstrenge.«
Sie verschränkte die Arme. »Wie überaus charmant.«
»Schau, ich war jung und impulsiv, heute würde ich das anders …«
»Ach wirklich?«, fiel sie ihm ins Wort. »Und wie war das mit dem süßen kleinen Gärtner, mit dem du vor ein paar Wochen diese nette Sommeraffäre hattest?«
Wen meint sie denn? Ach ja, wahrscheinlich den kleinen Sportlichen, mit dem ich vor zwei Monaten kurz liiert war, während Rubìnia auf ihrem Sommerschloss weilte.
»Du meinst Timanty?«, riet Kaèl.
»Timothy!«, korrigierte sie ihn.
»Timanty, Timothy, wie auch immer.« Seine Verflossenen blieben ihm nicht lange im Gedächtnis, wie die meisten Adeligen wechselte Kaèl diese Art von Affären schneller als seine Kleidung.
»Du hast ihn als ›weinerlichen Waschlappen mit der sexuellen Raffinesse eines Esels‹ bezeichnet. Vor allen seinen Freunden.«
»Ich hatte ihn nicht beleidigt«, verteidigte er sich. »Ich hatte ihn bloß beschrieben!«
»Der Kleine war untröstlich.«
Nicht lange, erinnerte er sich. Lina hatte ihn danach ein paar Wochen ›getröstet‹, bis er auch ihr langweilig geworden war, aber den Teil der Geschichte hatte sie anscheinend vergessen.
»Das scheint ja generell deine Taktik zu sein«, fuhr sie fort und deutete mit ihrem spitzen Zeigefinger auf seine Brust, dass Kaèl Angst bekam, sie könne aus dem Hologramm herausstechen. »Du wertest alle Leute als ›geistlos‹ ab, nur um dich besser zu fühlen. Ja, das wirkt weitaus erwachsener auf mich, als der Kaèl zu Zeiten unserer Beziehung.«
»Also willst du mich nicht heiraten?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Das ist ebenso unverständlich wie bedauerlich«, sagte er.
Es gab eine kurze Pause, dann lächelte er versöhnlich. »In der Retrospektive vermisse ich einiges an dir.«
Ihr Gesichtsausdruck wurde milder. »Ich vermisse unseren Austausch auch, Kaèl. Aber jetzt einmal ehrlich. Das mit uns beiden funktioniert auf Dauer nicht. Mit Rubìnia hat das ganze Trauerspiel eurer Beziehung vier Jahre gehalten, sie scheint eine überaus leidensfähige Person zu sein. Wieso gehst du nicht zu ihr zurück und hältst um ihre Hand an. Dann hast du deine Ruhe vor diesen ganzen Festivitäten.«
»Ja«, erwiderte er zögerlich. »Darüber hatte ich kurz nachgedacht. Aber sie ist so unerträglich penetrant und geistlos.« Außer ihr Haarzauber, fügte er in Gedanken hinzu.
Lina verdrehte die Augen. »Kaèl, wann bist du so zynisch geworden?«
Er mied ihren Blick und starrte an die mit einem Blättermuster verzierte grau-grüne Tapete an der Wand.
»Wenn du den Druck deiner Eltern nicht aushältst, dann schraub‘ deine Erwartungen herunter und erfüll‘ deine verdammten Pflichten als künftiger Lord des Landes. Wofür lebst du in einem Schloss mit mehr als vierhundert Zimmern? Um deiner Zukünftigen möglichst effizient aus dem Weg zu gehen!«
»Ich sehe bei meinen Eltern, dass das nicht funktioniert!«
»Ach was? Sind deinem Vater etwa die Beruhigungstränke ausgegangen?«
Das ging ihm jetzt zu weit. Er machte eine genervte Geste. »Lass uns das Thema wechseln. Hast du von dem Hexenjäger gehört?«
»Wieso fragst du, hat er wieder wen getötet?«
»Also ja?«
»Ja, was?«
»Du hast von ihm gehört?«
Sie schnaubte. »Was ist das wieder für eine Frage, Kaèl? Hast du in den letzten Jahren in eine Zeitung geblickt?«
Als er bockig schwieg, fuhr sie fort: »Natürlich, wie konnte ich das vergessen. Das, was in diesem – deinem – Land passiert, interessiert dich ja nicht.« Sie lachte leise. »Diese Ignoranz ist ganz schön gefährlich, als zukünftiger Herrscher Fukuòkas.«
»Ja, sehr witzig. Aber das ändert sich jetzt. Wo wohnt der Kerl?«
»Woher soll ich das wissen? Das verrät so ein Mörder natürlich nicht, sonst hätten sie ihn längst geschnappt.«
Dann ist das ein Geheimnis, das ich lüften werde, dachte Kaèl. Mich übersieht keiner ungestraft!
Sie kniff die Augen zusammen. »Warum fragst du das alles?«
»Ich habe heute sein Plakat gesehen und gedacht, dass ich als« er senkte die Stimme »zukünftiger Herrscher Fukuòkas ihm einen Besuch abstatten und die Sache regeln sollte.«
»Nein«, rief sie. »Du willst jetzt nicht …«
»Warum denn nicht? Das verspricht Spaß.«
Lina gluckste. »Du glaubst nicht wirklich, dass ein Transformationsmagi wie du auch nur den Hauch einer Chance gegen ihn hat?«
Er verdrehte innerlich die Augen. Das schon wieder.
Auch wenn er das nie vor ihr zugegeben hätte, Lina war eine der besten Zerstörungsmagi des Landes. Sie hatte ihn während ihrer Beziehung immer wieder mit seinem Mangel an Interesse daran aufgezogen.
»Ich habe mehr Zerstörungsmagie im kleinen Finger als all die anderen Trottel, die er getötet hat«, erwiderte Kaèl beleidigt. »Ich bin ein Hotàru und bald der erste männliche Erzmagi des Landes, und der Kerl ignoriert mich?«
»Ehrlich, lass die Finger von ihm. Der Kerl ist gefährlich. So sehr du mich nervst, aber ich möchte dich noch ein Weilchen länger lebendig wissen. Vielleicht springt noch der eine oder andere Timothy für mich ab.«
Er grummelte.
»Nur weil dir permanent langweilig ist, musst du dich noch lange nicht umbringen, Kaèl!«
»Wie kommst du darauf, dass mir langweilig ist? Ich komme kaum zu einer Atempause, bei meinem Lernpensum und den Büchern, die noch geschrieben werden wollen.«
»Intuition. Ich kenne dich, Kaèl.«
»Was soll das sein, diese Intuition?«
Sie verdrehte die Augen. »Erkenntnis jenseits von Reflexion.«
»Ich kenne die Definition. Aber seit wann glaubst du an so etwas?«
»Ich habe jetzt weder die Zeit, noch die Buntstifte, dir das zu erklären«, sagte sie.
»Jaja, sehr lustig. Ironier‘ weiter, bis du einen Sarkasmus bekommst«, brummte er und beendete das Gespräch. Das wurde ihm alles zu esoterisch, typisch Lina.
Frustriert schritt er im Salon auf und ab, da fiel sein Blick auf die Pergamentrolle, die zerknittert in seiner Tasche steckte. Er holte sie hervor, strich sie glatt und starrte in die kalten Augen des Hexenjägers.
Dich kriege ich noch, dachte er. Früher oder später wirst du dich meinen Zaubern ergeben.
Er brachte es nicht über sich, das Bild wegzuwerfen. Stattdessen nahm er es mit ins Schlafzimmer, faltete es sorgfältig zusammen und steckte es zwischen die Bücher auf seinem Nachttisch.
Da an Schlaf noch nicht zu denken war, holte er seine Violine, setzte sich mit angezogenen Knien auf den Fenstersims in die Abendkühle und betrachtete die Sterne. Er wirkte einen Stillezauber um sich herum, klemmte sich das Instrument unters Kinn und spielte.