»Mein Mädchen«, schluchzte Ludòiku. »Mein kleines Mädchen.«
Akàri zog ihn fest in ihre Arme. »Ludò, es tut mir so leid.«
Serèika und Elìrios standen daneben, sie mit versteinerter Miene, sein Vater wirkte überfordert, also fasste Kaèl sich ein Herz und trat auf Serèika zu. Er schüttelte ihr die Hand und zwang sich, ihr dabei in die Augen zu schauen. »Mein Beileid.«
Sie nickte, dabei zitterte ihre Unterlippe verdächtig.
Kaèl hatte sie noch nie so verletzlich gesehen, er fühlte sich fast verpflichtet, zur Seite zu schauen, um sie nicht bloßzustellen, aber es wäre falsch, ihre Trauer nicht anzuerkennen.
»Wo ist Iònatan?«, fragte Elìrios.
»Er darf das Bett noch nicht verlassen.«
Die Menschen hatten Mistivale überrannt, die größte Stadt im Norden Finistères. Sie hatten die Häuser gebrandschatzt und hunderte von Magi zu Tode geprügelt, erschossen oder verbrannt. Auch Iònatans und Nyòkos Haus wurde erstürmt. Die beiden wurden überrumpelt und hatten keine Chance gehabt, zu fliehen.
Iònatan hatte nur überlebt, weil sie ihn für tot gehalten hatten. Er hatte Prellungen und Brüche am ganzen Körper, aber er würde leben. Nyòko war tot.
Kaèl konnte es immer noch kaum glauben.
Es hatte bereits seit Jahren Konflikte im Grenzgebiet gegeben. Die Menschen beschuldigten die Magi für das Elend und die Hungersnöte, da die von den Magi geschickten Drachen im Krieg ganze Landstriche zerstört hatten. Die Magi wiederum argumentierten, dass dies die gerechte Strafe dafür sei, dass die Menschen sie zu tausenden verbrannt hatten. Auf ihre Weise hatten beide Seiten recht, aber mit dieser Meinung war Kaèl unter den Adeligen fast allein. Nur Nyòko hatte sie geteilt.
Von Hunger und Frustration getrieben, kamen Menschengruppen immer wieder über die Grenze und plünderten die Dörfer der Magi. Während der letzten Zeit waren die Überfälle häufiger geworden, selbst passierende Kutschen wurden angegriffen. Nyòko hatte eine Eskorte für die Anreise mit sich geführt, aber bei Iònatan in Mistivale hatte sie sich sicher gefühlt, und die Leute weggeschickt. Denn die Menschen hatten sich noch nie getraut, größere Städte anzugreifen.
Bis jetzt.
»Es tut mir leid«, sagte Ludòiku. »Ich kann das nicht. Ich … ziehe mich zurück.« Mit hängenden Schultern verließ er den Raum.
»Verzeiht unsere Unhöflichkeit«, sagte Serèika. Es kostete sie sichtlich Mühe, zu sprechen. »Wir stehen neben uns.«
Elìrios warf Kaèl einen kurzen Blick zu. »Wer würde das nicht?«
Kaèl nickte langsam.
»Fühlt euch wie zuhause«, sagte Serèika mechanisch. »Um sieben wird das Abendessen serviert, leider können wir heute nicht anwesend sein. Die private Zeremonie findet morgen Nacht statt, die offizielle in zwei Tagen.« Serèika rieb sich die Augen. Sie sah müde aus.
Kaèl hätte gern etwas Tröstliches erwidert, aber wie immer fehlten ihm die Worte. Bendix hätte gewusst, was zu tun war, empathisch wie er war, spürte er immer, wann ein freundlicher Satz, und wann eine Umarmung nötig war. Auf jeden Fall hätte er nicht wie versteinert herumgestanden, während sein Gegenüber vor Trauer fast zusammenbrach.
Kaèl biss sich auf die Lippe. Seine Eltern machten auch nichts besser; Elìrios wirkte ebenso überfordert, wie er, und Akàri hatte Serèika gegenüber noch nie ein freundliches Wort über die Lippen gebracht.
»Entschuldigt mich bitte«, sagte Serèika und verließ den Saal.
Es war merkwürdig, in dem großen Speisesaal so allein zu sitzen. Früher hatten sie hier angeregte Diskussionen geführt und dabei viel gelacht, aber ohne Ludòiku oder Nyòko kam keine Unterhaltung zu Stande.
Kaèl spielte mit seinem Essen, er brachte kaum etwas herunter. Sein Magen war wie ein enger, harter Knoten. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass das passiert ist«, sagte er. »Es ist, als würde die Erkenntnis nur ganz langsam in mein Bewusstsein sickern.«
»Niemand kann das«, sagte Elìrios. »Ich glaube, uns überfordert der Tod einfach.«
Akàri verzog das Gesicht. »Diese verdammten Menschen! Ich habe Serèika seit Jahren gesagt, dass sie an der Grenze härter durchgreifen muss, aber hat sie auf mich gehört? Natürlich nicht. Sie ist zu schwach für diesen Posten!«
»Damit hätte sie einen Krieg provoziert, Mutter. Außerdem«, Kaèl nahm allen Mut zusammen, »sind nicht alle Menschen Dinstermors schlecht.« Margret kam aus dem Grenzgebiet, und Bendix’ Familie hatte dort ihren Hof gehabt.
Akàri stellte ihr Weinglas ab und beugte sich nach vorn. »Nein?«, fragte sie provokativ. »Von Menschen kommt immer nur böses, das sollte mittlerweile selbst dir klar sein.«
Ein Krieg wäre das Letzte, was Nyòko gewollt hätte, dachte Kaèl.
Es war so ironisch. Nyòko war immer auf Seite der Menschen gewesen. War das jetzt der Lohn dafür? Seine Finger krampften sich um die Serviette. »Nyòko hat für einen Kompromiss gekämpft. Hätten wir den Menschen früher geholfen, dann hätten sie weniger Grund gehabt, die Dörfer zu plündern.«
Akàri funkelte ihn an. »Bist du verrückt geworden!«, donnerte sie. »Du willst der Horde auch noch helfen? Ich möchte von diesem Unfug nichts mehr hören, hast du mich verstanden?«
»Ja, Mutter.« Kaèl senkte den Kopf.
Sie fuhr sich durchs Haar. »Es ist so furchtbar. Ludò steht neben sich, kein Wunder. Wenn ich dich verlieren würde, ich wüsste auch nicht, was ich noch täte.«
»Dazu kommt«, sagte Elìrios, »dass die beiden jahrelang versucht haben, Kinder zu bekommen. Sie hatten fast schon aufgegeben, da kam Iònatan auf die Welt.«
Akàri ballte die Faust. »Ludò war so glücklich, als Iònatan geboren wurde. Und dann Nyòko. Er hat sie immer in einem Tragetuch um seinen Bauch getragen, und die ersten Jahre von nichts anderem mehr geredet.« Für einen kurzen Moment huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »Er war schlimmer als jede Glucke.«
Eine Weile aßen sie schweigend weiter. Kaèl zwang sich zu einer Gabelspitze Bohnen, aber er schmeckte nichts. Seine Kehle war so zugeschnürt, er brachte es nur mit Mühe herunter.
Es war alles falsch. Er sollte nicht hier sein. Er sollte jetzt mit Nyòko zuhause in seinem Salon sitzen, und sie würden sich gegenseitig ihr Herz ausschütten.
»Warum hat Iònatan sie eingeladen?«, polterte Akàri wieder los. »Er wusste doch, wie gefährlich es dort ist! Wie konnte er so unvernünftig sein!«
»Mutter!«, rief Kaèl. »Niemand konnte ahnen, dass auch die Städte in Gefahr sind. Außerdem wollte sie ihn besuchen. Es war ihre Idee.«
»Er hätte niemals zustimmen dürfen! Gerade wo Nyòko so wehrlos ist.«
»Wehrlos? Jetzt übertreibst du, sie war keinesfalls …«
»Natürlich war sie das!«
Ihre Worte waren so harsch, dass Kaèl sich automatisch in der Bringschuld fühlte. »Was meinst du damit?«, fragte er verwirrt.
»Na, wie sollte sie sich verteidigen, wenn sie kaum zaubern kann?«
»Sie konnte …«, wiederholte er fassungslos. Aber auf einmal erschien es ihm völlig klar. »Wer wusste davon?«
»Na, nur wir. Nicht auszudenken, was das Volk dazu gesagt hätte, wenn die Kronprinzessin keine magische Begabung aufweist. Aber das wusstest du doch, das war die große Diskussion, als sie klein war. Erinnerst du dich nicht?«
Er starrte sie hilflos an, riss sich dann aber zusammen und nickte einfach nur. »Natürlich.«
Ihm fielen all die Momente ein, die es nur in sein peripheres Bewusstsein geschafft hatten. Nyòko, die am liebsten Menschenbücher las, Nyòko, die ihn um einen Stillezauber bat. Wie Bendix sie wahrgenommen hatte. ›Sie hat nicht diese magische Aura‹, hatte er gesagt, aber Kaèl hatte es ignoriert. Er hatte alles ignoriert, auch, wie genervt sie auf jeden seiner magiewissenschaftlichen Vorträge reagiert hatte.
Wie hatte er so ignorant sein können?
Und wieso hatte Nyòko ihm nie etwas gesagt? Hatte sie sich so sehr vor ihm geschämt?
Kaèl entschuldigte sich recht bald, und zog sich in seine Gasträume zurück. Fahrig lief er durch das Zimmer, bis er irgendwann aufgab. An Schlafen oder etwas anderes Sinnvolles war nicht zu denken, dafür war er viel zu aufgewühlt. Er öffnete die Tür und trat auf den Balkon.
Es war bereits stockdunkel, und merkwürdig still dafür, dass hier das Zentrum von Finistères Macht war. Nur ein Hund bellte in der Ferne. Die Luft war angenehm kühl, nicht wie in Fukuòka, wo es um dieses Jahreszeit selbst nachts schwül blieb.
Er lehnte sich ans Geländer. Er hatte den ganzen Tag so neben sich gestanden, dass er jetzt erst merkte, wie erschöpft er war. Es tat gut, den festen, rauen Stein unter seinen Unterarmen zu fühlen.
Er starrte in die Dunkelheit. Ob Bendix schon davon gehört hatte?
Bestimmt, überlegte er, das ganze Land sprach von nichts anderem. Wahrscheinlich war er auch traurig, er hatte Nyòko gemocht.
Leise trat Mister Taryòn auf den Balkon hinaus. »Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?«
Kaèl nickte matt, und Mister Taryòn stellte sich neben ihn. Auch er stützte seine Hände auf die Balustrade.
Kaèl schaute hoch zum Himmel. Sein Blick heftete sich auf Kassiopeia. »Alle weinen, nur ich nicht. Ich fühle mich einfach nur taub. Macht mich das zu einer schlechten Person?«
Mister Taryòn schwieg für eine Weile. »Sie haben in letzter Zeit viel durchgemacht«, sagte er endlich. »Vielleicht können Sie erst weinen, wenn es Ihnen besser geht.«
»Das ergibt keinen Sinn«, sagte Kaèl.
»Meinen Sie?«
Kaèl zuckte mit den Schultern. Was wusste er schon von Gefühlen. Früher hatte er einmal gedacht, er kenne sich mit allem aus, aber Bendix und Nyòko hatten ihn eines Besseren belehrt. »Es ist alles so falsch. Sie hatte ein gutes Leben verdient.« Er ballte die Fäuste.
»Ja«, sagte Mister Taryòn. »Das hatte sie.«
»Und sie hätte nicht gewollt, wie alle jetzt damit umgehen. Es ist ungerecht, dass sie Iònatan die Schuld geben, und es ist falsch, dass Hiròki –« Er hielt inne.
Vielleicht konnte er wenigstens eine Sache richtig machen.
»Mister Taryòn? Können Sie mir einen Gefallen tun?«
Mister Taryòn wandte den Kopf. Er lächelte. »Dafür bin ich doch hier.«
»Suchen Sie nach Hiròki. Es gibt bestimmt ein paar unter den Bediensteten, die wissen, wo er jetzt ist. Ich möchte ihn sprechen.«
oOOo
Als Ludòiku am nächsten Morgen eine Runde durch den Park drehte, passte Kaèl ihn am Tulpenbeet ab. »Stört es dich, wenn ich dich ein Stück begleite?«
»Nein«, sagte Ludòiku leise, den Blick auf den Boden geheftet. Nichts erinnerte mehr an den fröhlichen, stolzen Elben, den Kaèl kennengelernt hatte.
Schweigend gingen sie ein Stück nebeneinander her. An einem Baum blieb Ludòiku abrupt stehen. Er schlug mit der Faust gegen den Stamm. »Es hätte niemals passieren dürfen! Es ist falsch!«
Beklommenheit stieg in Kaèl auf. Der Stamm war rau, wahrscheinlich waren Ludòikus Knöchel schon aufgeplatzt. »Es ist falsch«, bestätigte er. »Aber bitte, komm weiter. Du verletzt dich sonst.« Sanft zog er ihn vom Baum fort.
Ludòiku schüttelte den Kopf. »Es ist alles so sinnlos.«
»Bitte«, keuchte Kaèl, »komm mit.«
Es war falsch, Ludòiku so zu drängen, aber bei seinem Anblick zog sich alles in Kaèl zusammen, und er ertrug es nicht. Es musste aufhören.
Ludòiku ließ sich weiterziehen und folgte Kaèl schluchzend durch den Orangengarten. Nach und nach beruhigte er sich wieder, und auch Kaèl konnte wieder durchatmen.
Als sie am Zierteich mit den Goldfischen angelangt waren, sagte Kaèl: »Lass Hiròki mit zur Beerdigung fahren.«
Ludòiku versteifte sich. »Er kann morgen an der offiziellen Feier teilnehmen, so wie alle anderen aus dem Volk auch.«
»Er ist aber nicht ›irgendeiner aus dem Volk‹. Du weißt es, und ich weiß es. Nyòko hätte es sich gewünscht. Tu ihr diesen letzten Gefallen.«
Zum ersten Mal seit Kaèl zu Besuch war, blickte Ludòiku ihn direkt an. »Warum willst du das?«
Kaèl erwiderte seinen Blick offen. »Ich habe sie geliebt.« Noch vor wenigen Wochen hätte er diese Worte nicht über die Lippen gebracht. Aber es stimmte. Er hatte sie geliebt, er hatte sie wie eine Schwester geliebt. »Aber wir wissen beide«, fuhr er fort, »dass ihr Herz für Hiròki schlug und seines für ihres. Bitte, lass ihn an der Beerdigung teilnehmen. Er hat es verdient, sich von ihr zu verabschieden.«
»Sie hat es dir erzählt«, sagte Ludòiku fassungslos, und Kaèl nickte.
»Dann weißt du auch von dem Streit«, hauchte Ludòiku. Eine Träne lief seine Wange hinab. »Sie ist nur wegen mir dorthin gefahren.« Er rang die Hände. »Ich wollte das alles nicht, ich wollte nur, dass sie es gut hat. Ich dachte, dass sie auf Dauer mit dir glücklicher wird, als mit ihm.«
»Ich weiß, dass du ihr bestes wolltest. Es ist nicht deine Schuld. Niemand konnte ahnen, dass das passiert. Aber bitte, erfüll' ihren letzten Wunsch und lass ihr den Mann, der sie liebt, die letzte Ehre erweisen.«
Ludòiku nickte langsam. »Ich werde mit Serèika sprechen.«
»Kaèl«, sagte Ludòiku, als sie sich am Torbogen trennen wollten.
Kaèl hob den Kopf.
»Bitte, rede mit meinem Jungen. Mir fehlen die Worte, ihn zu trösten, aber ich weiß, dass er sich Vorwürfe macht.«
Kein Wunder, so wie alle über ihn sprechen, dachte Kaèl. Er nickte.
oOOo
Unsicher spähte Kaèl durch den Türspalt ins Halbdunkel hinein. Iònatan saß auf seinem Bett, einen Arm fest um die angezogenen Knie geschlungen, der andere steckte in einem Gips. Er starrte mit verquollenen Augen ins Leere.
Es war Kaèl unangenehm. Sie waren nie Freunde gewesen. Warum hatte Ludòiku gerade ihn als Trost geschickt? Als hätte er jemals jemanden trösten können. Er konnte nicht einmal sich selbst trösten.
Vorsichtig klopfte er gegen das Holz. »Iònatan.«
»Was willst du hier?«, sagte Iònatan rau, ohne ihn anzusehen. »Willst du mir auch Vorwürfe machen?«
Kaèl schluckte. Wie viele Leute mussten ihm bereits Vorwürfe gemacht haben, wenn er so reagierte?
Iònatan war immer so lebhaft gewesen, fast schon ekelhaft fröhlich. Umringt von Freund*innen, während Kaèl allein am Rand stand. Kaèl wusste genau, wie sich sein Lachen anhörte. Ein durchdringendes Lachen.
Er räusperte sich und trat einen Schritt in den Raum hinein. »Ich wollte dir nur mein Beileid ausdrücken.«
Iònatan reagierte nicht, und Kaèl wagte sich zwei weitere Schritte vor. Die Luft in dem Raum war abgestanden, alle Vorhänge zugezogen. »Ich … hatte nie eine Schwester«, sagte er unbeholfen, »Und deshalb kann ich mir nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, aber ich weiß wie es ist, die Person zu verlieren, die man liebt.«
Iònatan starrte ins Leere.
Vorsichtig legte er eine Hand auf Iònatans Schulter und drückte sie kurz. Erst jetzt schien Iònatan seine Anwesenheit zu bemerken. Er drehte den Kopf und fokussierte Kaèl. Tiefe Schrammen zogen über seine Stirn und Wangen. »Bitte geh«, flüsterte er, aber noch während er sprach, brach er in Tränen aus.
Kaèl überlegte kurz, ihn in den Arm zu nehmen, aber Iònatan hätte das nicht gewollt. Er hatte Kaèl nie gemocht, und er würde sich ihm nicht öffnen. Er brauchte jetzt andere Leute, die ihn stützten.
Also drückte er nur ein weiteres Mal Iònatans Schulter, wandte sich um und verließ den Raum.
oOOo
Die Kutsche hielt im Nirgendwo. Es war dunkel, und Kaèl konnte nur mit Phantasie den Hügel erahnen, auf den sie heute steigen wollten.
»Sie werden das niemals zulassen.« Hiròkis Stimme zitterte. Seine Faust schloss sich fest um die Blumen.
»Ludòiku hat zugestimmt«, sagte Kaèl. »Es wird alles gut werden.« Er stieg hinaus, und Hiròki folgte zögerlich. Kaèl legte ihm eine Hand auf den Rücken und schob ihn nach vorn. »Dort hinten sind sie.«
In der Dunkelheit waren die anderen nur als weiße Umrisse zu erkennen. Weiß, wie die Farbe des Todes und der Trauer.
Langsam näherten sie sich der Gruppe. Im Mondlicht erkannte Kaèl die hellen Häupter seiner Eltern. Er kniff die Augen zusammen. Auch Serèika und Ludòiku waren schon dort, und etwas abseits standen Iònatan und Prìssika. Hiròki und er waren also die Letzten.
Je näher sie kamen, desto zögerlicher wurden Hiròkis Schritte, aber Kaèl drückte ihn weiter.
Ludòiku wandte den Kopf. Er nickte Kaèl und Hiròki zu, dann flüsterte er etwas in Serèikas Ohr.
Kaèls Eltern warfen sich verwirrte Blicke zu. Er würde später eine gute Erklärung finden müssen, warum er ausgerechnet auf Hiròkis Teilnahme bestanden hatte, aber das war ihm gerade egal. Es war richtig so, wie es war.
Prìssika zupfte an Iònatans Ärmel, woraufhin auch er den Kopf drehte. Seine Augen weiteten sich. »Hiròki.« Von Prìssika gestützt hinkte er auf sie zu, und zog Hiròki mit seinem unverletzten Arm an sich. »Es tut mir leid«, flüsterte er. »Es tut mir so leid.«
»Du kannst nichts dafür«, erwiderte Hiròki. Iònatan schluchzte auf.
Kaèl trat einen Schritt beiseite, um ihnen den Moment zu lassen. Er ließ den Blick über den Fluss schweifen, aber ein langgezogenes Kreischen lenkte seine Aufmerksamkeit nach oben. Dort flog der schwarze Drache, dessen Namen er sich nie merken konnte in trägen Kreisen über dem Hügel.
Kaèl verkrampfte die Hände ineinander. Zum Glück war der Drache weit genug weg. Vor ein paar Jahren hatte er sie einmal aus der Nähe gesehen, ein riesiges, plumpes Wesen mit spitzen Stacheln und beängstigenden Zähnen. Ein Ungetüm, aber die Ryunòrs waren vernarrt in sie.
Er stellte sich zu den anderen. Sie hatten sich um einen gläsernen Sarg versammelt, auf dem Nyòko aufgebahrt lag. Sie trug eine scharlachrote Robe und war über und über mit weißen Blumen bedeckt.
Bendix hätte wahrscheinlich gewusst, welche Blumen das waren.
Nyòkos letzte Minuten mussten schrecklich gewesen sein, aber jetzt sah sie friedlich aus, als wäre sie sanft entschlafen.
Er rückte näher an Ludòiku heran.
»Roswitha weint«, sagte der und deutete in Richtung des Drachens. Er lächelte traurig. »Nyòko ist schon als Kleinkind immer auf ihren Rücken geklettert. Die beiden waren unzertrennlich.«
Kaèl nickte langsam. Es gab so viel, das er von Nyòko nicht kannte und nie würde kennenlernen können. »Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit gehabt.«
»Das wünschen wir alle«, sagte Akàri. Sie trat an Kaèls Seite und nahm seine Hand. Eine Weile starrten sie wortlos auf den Sarg. »Sie sieht aus, als würde sie gleich aufwachen. Aber ein wenig stimmt das ja auch, ihre Seele wird ja gleich erweckt.«
»Glaubst du wirklich daran?«, flüsterte Kaèl so leise, dass Ludòiku es nicht hörte.
Akàri schaute ihm ins Gesicht. »Du nicht?«
»Ich … weiß es nicht«, sagte er. Er war zu sehr Wissenschaftler, um irgendeiner tradierten Erzählung von ›Seelenwanderungen‹ zu glauben, aber es gab vieles, was die akademischen Theorien nicht erklären konnten. Wahrscheinlich würden sie manche Dinge niemals zur Gänze verstehen.
Iònatan, Prìssika und Hiròki gesellten sich zu ihnen. »Mein Beileid«, sagte Hiròki leise und schüttelte Serèika die Hand. Als er vor Ludòiku trat, schloss der ihn in seine Arme. »Es war ein Fehler«, murmelte er. »Ich war zu verblendet.« Seine Stimme brach. Hiròki drückte ihn fest.
Akàri beugte sich zu Kaèl. »Was tun sie?«, raunte sie.
»Das erkläre ich dir später«, flüsterte Kaèl.
Sie presste die Lippen zusammen, begnügte sich aber mit seiner Antwort.
Serèika trat vor die Gruppe. »Wir haben uns hier versammelt«, begann sie, »um die Seele von Nyòko freizugeben.«
Sie war eine geübte Rednerin, aber jetzt sprach sie leise, monoton. »Wir haben sie geliebt. Als Tochter, Schwester, Freundin und Geliebte und am liebsten würden wir sie nicht gehen lassen. Aber jetzt wartet ein neues Leben auf sie.«
Sie machte eine ausschweifende Handbewegung über Nyòkos Körper.
Kaèl hielt den Atem an. Zunächst passierte nichts, aber dann brach ein Lichtstrahl durch, dann noch einer, und auf einmal war alles hell erleuchtet. Goldenes, warmes Licht strahlte von Nyòkos Körper in den Nachthimmel. Es schmerzte in Kaèls Augen, aber er zwang sich, sie nicht zu schließen. Er wollte keinen Moment davon verpassen.
Akàri drückte seine Hand.
Serèika wirkte erneut einen Zauber, und das Licht zog sich zu einer Blase zusammen, die über dem Sarg schwebte.
Ludòiku trat neben sie, ein geöffnetes Glas in den Händen. Er hielt es hoch, und der leuchtende Ball schwebte hinein. Mit einem leisen ›Klick‹ verschloss er den Deckel.
»Wir werden Nyòko gemeinsam nach Hause bringen«, sagte Serèika. Sie streckte die Arme aus. Ludòiku reichte ihr das Glas, und sie presste es fest an ihre Brust. Ihr Gesicht erhellte sich von den goldenen Lichtstrahlen.
Serèika setzte sich in Bewegung, den Hügel hinauf, und die anderen folgten ihr. Niemand sprach. Hiròki und Prìssika stützten Iònatan, und Kaèl lief ihnen nach. Er klammerte sich an Akàris Hand.
Jeder durfte das Gefäß für einen Teil der Strecke tragen, in der Reihenfolge, in der sie Nyòko kennengelernt hatten. Zuerst Serèika, dann Ludòiku, Iònatan, Akàri und Elìrios.
Als sie mehr als die Hälfte des Weges bewältigt hatten, war Kaèl an der Reihe. Mit zitternden Händen nahm er von seinem Vater das Glas entgegen.
Dieses Licht soll Nyòkos Seele sein?, fragte die kritische Stimme in ihm.
Mit einem Seufzer presste er es an seine Brust.
Es verschlug ihm den Atem.
Auf einmal war er erfüllt von der goldenen Wärme, sie pulsierte durch seinen Körper, von der Brust bis in die Fingerspitzen, sogar in seinen Zehen kribbelte es. Vor seinem geistigen Auge zogen Bilder vorbei, Erinnerungen an Nyòko. Wie sie zusammen vor Finley Whitecrow davongelaufen waren, und sich im Lustgarten versteckt hatten. Wie Nyòko gelacht hatte, atemlos, abgehackt, den Kopf tief in den Nacken geworfen. Wie sie über Liebesromane diskutiert hatten. Wie Nyòko in der Ratssitzung aufgestanden war, um ihn in Schutz zu nehmen.
Ja, sogar an das verdammte Schaukelpferd, das er ihr repariert hatte, erinnerte er sich. Es war orange gewesen, und Nyòko – damals nur ein Knirps – hatte so gestrahlt, dass auch er hatte lächeln müssen, obwohl er sich in seinem kindlichen Stolz fest vorgenommen hatte, abgeklärt zu wirken. Sie war ihm danach den ganzen Tag hinterhergekrabbelt und hatte an seinem Rockzipfel gezogen.
Verdammt, er hätte alles für sie gezaubert, wenn sie ihn nur darum gebeten hätte. Wenn er das alles nur früher gewusst hätte.
Als nach ein paar Hundert Metern Prìssika an der Reihe war, hätte er das Glas am liebsten nicht wieder hergegeben.
»Ich werde dich vermissen, kleine Schwester«, sagte er leise und drückte einen Kuss auf das Glas.
Das letzte Stück des Weges durfte Hiròki das Glas tragen. Er umarmte es fest, wie einen Schatz, und lächelte, während seine Augen gleichzeitig in Tränen schwammen.
Sie erreichten die Kuppe des Hügels. Hier wuchsen keine Bäume, nur ganz am Rand stand eine einsame Buche. Ein prächtiger Baum, so alt, dass drei Leute nicht gereicht hätten, um den knorrigen Stamm zu umarmen.
»Hier?«, fragte Hiròki. »Bei ihrem Lieblingsbaum?«
Iònatan nickte.
Hiròki trat vor und hielt das Glas hoch. Kaèl folgte den anderen, sie versammelten sich um Hiròki und jeder legte eine Hand an den Deckel.
»Mein Mädchen«, sagte Ludòiku. Er schluchzte leise. »Wir lassen dich jetzt ziehen.«
Gemeinsam drehten sie den Deckel auf. Das Licht strömte hinaus. Es wanderte nach oben, immer höher und begleitete Roswitha für eine Runde.
Dann flog es wieder herunter, dicht an ihren Gesichtern vorbei. Es schien heller und heller, bis Kaèl doch die Augen schließen musste.
Als er sie wieder öffnete, war das Leuchten auf die Buche übergegangen. Sie strahlte über die gesamte Ebene, als habe das Licht dort seinen Platz gefunden.
»Hier wartet ihre Seele, bis sie einen neuen Ort für sich entdeckt«, sagte Ludòiku.
Kaèl legten seine Blumen auf den Wurzeln der Buche ab. Ehrfürchtig starrte er nach oben, zu den goldenen Blättern. Als der Wind durch sie raschelte, war ihm, als würde Nyòko leise lachen.
Und endlich, nach all den Tagen voller Kälte, spürte er Tränen in seinen Augen. Er griff nach Akàris Hand. »Die Seelenwanderung«, sagte er. »Vielleicht glaube ich doch daran.«