Die Kopfschmerzen kamen in derselben Nacht, und zwar so heftig, dass Kaèl alles wie durch einen Nebel wahrnahm. Eine solche Migräneattacke hatte er seit drei Jahren nicht mehr erlebt. Er war beinahe froh darüber, zumindest konnte er so keinen klaren Gedanken fassen und musste sich nicht mit den nachmittäglichen Ereignissen auseinandersetzen. Oder überhaupt mit seinem Leben. Mit einem kühlen Tuch über der Stirn lag er in seinem Bett und dämmerte durch die Nacht.
Als die Migräne sich allmählich verzog, und er wieder hätte funktionieren sollen, begann die richtige Qual. Vorbei war die Zeit, in der seine Wochen durch ein langersehntes Ereignis strukturiert waren. Jetzt war jeder Tag gleich öde, und Kaèl konnte sich kaum dazu aufraffen, etwas Konstruktives zu unternehmen. Dieses Unwohlsein wurde dadurch verstärkt, dass er nicht wusste, wie er mit Akàri umgehen sollte. Seit Kaèl mit Myriam über die Aufstände gesprochen hatte, hatte er versucht, seine Mutter zu meiden. Er hatte seine Mahlzeiten im Zimmer eingenommen und war wie ein Geist durchs Schloss gehuscht, aber natürlich konnte er das auf Dauer nicht so weiterführen. Seine Mutter war jetzt schon misstrauisch, das sah er an ihrem Blick. Vernünftig wäre es, das Gespräch mit ihr zu suchen, aber in seiner derzeitigen Stimmung fühlte er sich überfordert. Was hätte er ihr auch sagen sollen? Letztendlich tat Akàri ja doch immer das, was sie für nötig hielt.
Paradoxerweise war Kaèl fast schon froh über seinen wöchentlich aufgezwungenen ›Ausflug‹ mit seiner Mutter, weil dabei zum ersten Mal wieder so etwas wie ›Normalität‹ zwischen ihnen herrschte. Im direkten Kontakt mit ihr war es erschreckend einfach, seine Bedenken herunterzuschlucken und so zu tun, als sei nichts gewesen. Kaèl verfluchte sich für seine Schwäche, aber dann wiederum vertröstete er alle Entscheidungen auf später. Nach seiner Prüfung hatte er sicherlich mehr Energie, den Dingen auf den Grund zu gehen.
Diesmal schleifte sie ihn mit zu ihrer Agrarverwalterin, einer hageren, verbissen dreinschauenden Zauberin, die ihm einen zweistündigen Vortrag über das korrekte Abwiegen von Saatgut hielt. Kaèl machte ein höfliches Gesicht, nickte ihre Punkte ab und wünschte sich die Kopfschmerzen zurück.
Am Ende eines jeden dieser farbenleeren Tage konnte er sich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten, aber er zwang sich zu sinnlosen Tätigkeiten: Einen Artikel hier, eine Buchseite dort, die er doch nur fahrig las, ohne dass etwas davon haften blieb. Alles war besser, als ins Bett zu gehen und die Lichtzauber zu löschen. Denn hatte Kaèl tagsüber die Kraft, den Hexenjäger aus seinen Gedanken zu verbannen, so war er ihm nachts hoffnungslos ausgeliefert.
Kaèl lag auf dem Rücken, die Decke eng um sich gewickelt, und seine Gedanken drehten sich im Kreis. Er ging jede Geste, jedes einzelne Wort ihrer letzten Begegnung durch und mit jeder Wiederholung stellte es sich in düstereren Farben dar.
›Ich stehe zu sehr neben mir‹, hatte der Hexenjäger gesagt. ›Ich habe Angst mich nicht richtig zu kontrollieren und dich dann zu verletzen.‹
Was meinte er damit? Wieso hat er Angst, mich zu verletzen?
Kaèl rekapitulierte die letzten Kämpfe, die er mit dem Hexenjäger ausgetragen hatte. Es war merkwürdig. Der Kerl hatte im Nahkampf nie seine Fäuste gegen ihn eingesetzt. Er hatte Kaèl auch nie einen Fußtritt verpasst, dabei waren Tritte sein Markenzeichen im unbewaffneten Kampf.
Die Erkenntnis sickerte langsam in seinen müden Geist, wie Meerwasser, und zerstörte sein mühsam aufgebautes Schloss aus Sand. Kaèl war nicht besser als alle anderen. Dass er noch am Leben war, lag nicht an seinen überragenden Kenntnissen der Magie, oder seinen Fähigkeiten im Nahkampf. Er besaß überhaupt keine Fähigkeiten im Nahkampf.
Es lag einzig und allein daran, dass der Hexenjäger ihn bislang verschont hatte. Er hatte mit Kaèl gespielt, wie eine gesättigte Katze mit einer Maus.
Was habe ich mir nur eingebildet?
Er vergrub den Kopf in den Händen. Wie erbärmlich er auf diese Worte reagiert hatte! Wie er um den Hexenjäger herumgetänzelt war, mit erhobenen Fäusten ... wie ein aufgeplusterter Gockel!
Und dabei hatte er nichts begriffen, einfach gar nichts.
Kaèls Wangen glühten heiß vor Scham. Am liebsten hätte er diese Erinnerungen ins letzte Kämmerchen seines Bewusstseins gepfercht, aber die Bilder tanzten immer wieder vor seinen Augen.
Er strampelte die Bettdecke von seinem verschwitzten Körper und setzte sich auf. An Schlaf war sowieso nicht zu denken. Er schlurfte ins Bad und warf sich kühles Wasser ins Gesicht. Die beißende Kälte half ihm, sich wieder auf das Hier und Jetzt zu fokussieren.
Es sollte ihm egal sein, was der Hexenjäger von ihm dachte. Der Kerl hatte ihn und alles was ihm wichtig war, beleidigt, und Kaèl sollte und würde ihn nie wiedersehen. Warum war es ihm dann peinlich? Warum konnten seine Gefühle nicht einfach dem Folge leisten, was sein Verstand ihnen diktierte?
Kaèl stützte seine Hände auf den Rand der wuchtigen silbernen Waschschüssel und betrachtete sein Spiegelbild. Die vergangenen Nächte hatten ihre Spuren hinterlassen, es lagen dunkle Schatten unter seinen Augen.
Frustriert wanderte er zurück ins Schlafzimmer und tigerte vor dem Fenster auf und ab. So weit war es schon mit ihm gekommen, sein Leben fiel auseinander, und warum? Alles war die Schuld des Hexenjägers! Dieser Kerl drängte sich bis in die kleinsten Ritzen seines Daseins und hielt ihn von allem ab, was ihm wichtig war. Das war dieser Mörder nicht wert! Er war gefährlich, er war verblendet und herzlos.
Warum war er überhaupt in Kaèls Leben getreten?
Er hätte mich nicht provozieren sollen! Wieso wollte er sich denn immer wieder mit mir duellieren?
Kaèl ballte die Fäuste.
Vor allem hätte er nicht mit mir turteln sollen … also, ja gut, ich habe mit ihm geturtelt, aber er hätte nicht darauf reagieren dürfen! Niemand hat ihn gezwungen, mich so anzulächeln!
Er atmete ein, dann scharf wieder aus, die Kiefer fest zusammengepresst.
Was denkt dieser aufgeblasene Schönling eigentlich? Dass ich darauf hereinfalle? Dass ich schwach werde, wegen dieses albernen, völlig unpassenden, wunderschönen Lächelns? Er ist ein Mörder, verdammt noch mal!
Diesem Zirkus musste er ein Ende setzen, am besten sofort. Kaèl wusste nur noch nicht, wie.
Einen Hoffnungsschimmer gab es. Morgen früh würden sie losfahren, nach Wyvern, zum alljährlichen Lichterfest. Räumliche Distanz war das, was er jetzt brauchte, denn es kostete ihn alle Kraft, nicht einfach seinen Stolz und seine Bedenken über Bord zu werfen und in die Kutsche zum Silberwald zu steigen.
oOOo
Kaèl rieb sich die Stirn. Er saß nun bereits seit Stunden im Salon des mahagonigetäfelten Gästeflügels der Ryunòrs und brütete über der Partitur, die Ludòiku ihm zugesteckt hatte.
Für das morgige Fest hatte sich Nyòkos Vater eine besondere musikalische Überraschung ausgedacht. Normalerweise bevorzugte er Chormusik, aber diesmal hatte er – wahrscheinlich um seinem Schwiegersohn in spe zu schmeicheln – ein Instrumentalstück ausgewählt, in dem Kaèls Violine die Hauptrolle spielte.
»In Dis-Dur«, murmelte Kaèl. »Wer sich so einen Unfug ausgedacht hat, gehört bestraft.« Die Komponistin verhielt sich, als habe sie noch nie von einer gleichstufigen Stimmung gehört, und weigerte sich deshalb schlicht, die Partitur zu vereinfachen. So lag es nun an Kaèl alles in Es-Dur, der enharmonischen Verwechslung davon, umzuschreiben und damit reihenweise Doppelkreuze einzusparen.
Er hätte natürlich mit der ursprünglichen Tonart kein Problem gehabt, aber den anderen, unbedarft musizierenden Adeligen traute er so viel musikalische Finesse nicht zu. Ludòiku bestand darauf, dass jegliche Musik beim Lichterfest von den Mitgliedern der hochadeligen Familien selbst gespielt wurde und nicht von professionell ausgebildeten Musizierenden. Die unzähligen Kreuze und Doppelkreuze würden diese Dilettanten aus der Bahn werfen. Einige wussten ja nicht einmal, wie sie ihre Bratschen zu halten hatten, obwohl Kaèl es ihnen in den letzten Tagen immer wieder mit einem nachsichtigen Lächeln gezeigt hatte, während er sich vorstellte, ihnen ihre unseligen Instrumente über den hohlen Schädel zu ziehen.
Hauptsache, sie halten brav ihre Pausen ein, damit meine Soli zur Geltung kommen!, dachte er und fügte noch ein paar pianissimo Zeichen bei den anderen Stimmen ein. Letztendlich waren die anderen sowieso nur Beigabe und jeder ihrer Fehler würde seine Grandiosität nur unterstreichen.
Was hatte er die letzten Tage nicht geklagt und die Augen verdreht, aber insgeheim war er froh über die Ablenkung. Die Aufgabe war einfach und erforderte dennoch seine volle Konzentration – die perfekte Kombination um seine schwermütigen Gedanken wenigstens für ein paar Augenblicke zu besänftigen. Leise summte er die Melodie mit, während er die Noten auf ein frisches Blatt übertrug. Das Stück gefiel ihm, es war nicht zu aufgekratzt, angenehm repetitiv und erwies der Bedeutung des Festes alle Ehre.
Kurz fragte Kaèl sich, welche Art von Musik der Hexenjäger bevorzugte. Er hatte sich bis vor ihrer letzten Begegnung oft vorgestellt, dem Hexenjäger etwas auf seiner Geige vorzuspielen und ihm eine Emotion zu entlocken, ein ähnlich tiefes Sehnen, wie Kaèl es spürte. Jetzt musste er über seine Unbedarftheit beinahe lächeln. Bei so einer so verblendeten Person gab es wahrscheinlich gar keine tiefschürfenden Emotionen, die er hätte freilegen können, außer vielleicht noch mehr Hass.
Und trotzdem, die Erinnerung daran schmerzte, und Kaèl drängte sie weit fort, zu den anderen Traumruinen. Sicherlich würden sie niemals zusammen am Strand sitzen und den Sonnenuntergang betrachten, und natürlich würde der Hexenjäger sich auch nie heimlich in die letzte Reihe des Hörsaals schleichen, um Kaèl beim Dozieren über Magie zu lauschen!
Seufzend beugte er sich wieder über die Partitur und fügte die letzten Noten ein.
oOOo
Das Lichterfest war der wichtigste Feiertag der magischen Welt. Die, die es sich leisten konnten, waren für die Zeremonie angereist, alle anderen zündeten wenigstens im eigenen Heim die Kerzen an. Für die Zeremonie hatten sich Zehntausende von Magi an der Aue des Flusses Luìngawa versammelt. Sie standen in Grüppchen, oder saßen im Schutze von Wärmezaubern auf Decken beisammen und tranken Wein. Alle hatten sich in ihre prächtigsten, farbenfrohsten Gewänder gekleidet, dadurch wirkte die Aue aus der Ferne wie eine bunte Blumenwiese, und das im Spätherbst. Auch Kaèl hatte sich herausgeputzt, seine weinrote Brokatrobe war mit silbrigen Ornamenten verziert, von denen er hoffte, dass sie später das Licht der Kerzen reflektierten, und er trug eine aufwändige Hochsteckfrisur, an der seine Bediensteten mehr als eine Stunde beschäftigt gewesen waren.
Er bahnte sich seinen Weg durch die die Menge bis direkt ans Flussufer, wo die hochadeligen Familien auf einer hölzernen Empore versammelt waren. Als er sich auf der Treppe an Finley Whitecrow vorbeidrängte, fiel sein Blick auf Madame Neomùra, die Vorsitzende der auserwählten Elf, die sich nur wenige Meter von ihm entfernt mit einer Zauberin unterhielt. Kaèl schoss die Röte ins Gesicht.
Meine Prüfung!
Beschämt senkte er den Kopf und hastete weiter die Stufen hinauf, in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden.
In sechs Wochen ist es soweit, und ich habe die ganze Woche nichts erreicht, außer dieses alberne Musikstück zu arrangieren!
Ganz zu schweigen von der Zeit davor ... Er würde mit wehenden Fahnen untergehen!
Nächste Woche, schwor er sich, nächste Woche werde ich ununterbrochen lernen!
Tief in seinem Innersten wusste er, wie unrealistisch es war – nächste Woche wäre er wieder in seiner vertrauten Umgebung und damit dem Hexenjäger viel zu nahe. Aber Kaèl wollte und würde jetzt nicht an diesen Kerl denken!
Er folgte Akàri, die zielgenau auf ihren Platz bei Serèika und Ludòiku zusteuerte, und reihte sich neben Nyòko ein.
Bei seinem Anblick hob sie die Brauen. »Du ziehst ein Gesicht, als würdest du gleich auf den Scheiterhaufen geführt werden. Wir sind hier nicht in der Schlacht, Kaèl!«
»Pfff«, machte er. »Es geht hier nicht um den epischen Kampf von Gut und Böse. Es geht um etwas viel Wichtigeres! Es geht um ...« den Hexenjäger, wollte er fast sagen, aber er riss sich im letzten Moment zusammen. »... meine Prüfung!«
Nyòko verdrehte die Augen. »Das schon wieder. Du hast auch nichts anderes im Kopf!«
Schön wäre es, dachte Kaèl.
Er musterte Nyòko von der Seite. Sie hatte ein prachtvolles Festgewand gewählt, in schimmernden Pfauengrün mit gelben Akzenten, die ihren Augen schmeichelten. In der Aufmachung machte sie auf die Leute im Publikum bestimmt einen königlichen Eindruck, aus direkter Nähe wirkte ihr Dauerlächeln jedoch angestrengt, und eine steile Falte zeigte sich über ihrer Nasenwurzel.
»Ein Sonnenschein bist du heute aber auch nicht gerade«, sagte er spitz und erntete dafür einen genervten Blick.
Verdenken konnte er es ihr nicht. Sie beide hatten während der letzten Tage viel zu viel Zeit gemeinsam auf Spaziergängen oder sonstigen Unternehmungen verbringen müssen, und waren dementsprechend genervt. Auch jetzt konnte er Akàris immer gleichen, aufmerksamen Blick in seinem Nacken spüren.
Er verschränkte die Arme vor der Brust und eine Zeitlang standen sie schweigend beisammen, dann seufzte Nyòko leise und beugte sich zu ihm. »Ich hatte eine Meinungsverschiedenheit mit Serèika«, flüsterte sie, ohne eine Miene zu verziehen.
»So?«, sagte er und starrte möglichst unbeteiligt geradeaus.
»Sie hat mir untersagt, zur Wintersonnenwende zu Iònatan nach Mistivale zu fahren. Wegen der Grenzkonflikte. Die bewaffneten Überfälle der Menschen häufen sich, und sie machen selbst vor Kutschen mit Eskorte nicht mehr halt.«
Sie nahm Haltung an und winkte Familie Macalister zu, die an ihnen vorbeilief. Auch Kaèl nickte beiläufig, aber im Gegensatz zu Nyòko ließ er sich nicht dazu herab, zu winken.
»Und Iònatan?«, flüsterte er, als sie vorbeigezogen waren. »Wird er seinen Studienort wechseln?«
»Mistivale selbst gilt als sicher, aber die Gegend darum nicht. Er wird deshalb seine Besuche hier auf ein Minimum reduzieren. Wahrscheinlich sehe ich ihn erst in einem Jahr wieder.«
Jetzt wirkte sie so traurig, dass er Mitleid bekam. »Das tut mir leid«, brachte er heraus und ihre Mundwinkel hoben sich ein wenig.
»Mir fällt schon etwas ein.« Sie zuckte mit den Schultern.
Das glaubte er ihr. Bei allem, was er von ihr erlebt hatte, war er sicher, dass sie auch in dieser Sache ihren Willen früher oder später durchsetzen würde.
»Ich habe deine Bücher gelesen«, sagte er, um das Thema auf erfreulichere Bahnen zu lenken. »Sie haben mich gut unterhalten, und ich war überrascht, wie ähnlich uns die Menschen sind, was ihre Gefühle angeht.«
»Dann bist du einer der wenigen hier, der das so sieht.« Sie lächelte verschwörerisch.
Das Horn erklang, und alles Gemurmel um sie herum verstummte. Serèika trat nach vorn an ihr Pult und stützte die Hände auf. Die Leute auf der Aue fingen an zu jubeln.
Sie räusperte sich. »Wir gedenken heute der mutigen Zauberin Emelie Voigt, die vor nunmehr dreiundneunzig Jahren ein Kind mit ihrer Magie rettete, und sich dabei vor den Menschen ihres Dorfes als Zauberin offenbarte. Als Lohn«, sie spie das Wort beinahe aus, »wurde sie von ihnen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Emelie Voigt war der erste dokumentierte Fall einer sogenannten ›Hexenverbrennung‹, und ihr folgten Myriaden von anderen. Mehr als vierzigtausend von uns wurden gefoltert und verbrannt. Fast hunderttausend fielen im Krieg.« Sie verengte die Augen. »Jede Familie hat Opfer zu beklagen – Mütter, Großväter, Kinder. Tausend Tränen wurden vergossen ...«
Kaèl hörte nur mit einem Ohr zu. Er kannte das alles von den vorherigen Festen. Serèika änderte ihre Worte Jahr für Jahr etwas ab, und wählte andere rhetorische Stilmittel, aber dennoch war die Dramaturgie dieselbe. Er wusste auswendig, an welcher Stelle er wie das Gesicht verziehen musste und vollführte alle Gesten mechanisch.
Früher war das einmal anders gewesen. Er erinnerte sich daran, wie ihre Rede auf ihn gewirkt hatte, als er sie als kleines Kind das erste Mal hörte. Wie traurig, wie empört er darüber gewesen war.
›Warum haben sie das getan?‹, hatte er Elìrios immer wieder gefragt.
›Weil Menschen böse sind‹, war die Antwort gewesen.
Kaèl blickte nach unten in die Menge, musterte die im Halbdunklen stehenden Leute, die Serèikas Worten lauschten. Die Meisten standen steif und starrten mit ernster Miene ins Leere, manche hatten sich beieinander eingehakt. Einige wenige der Gesichter waren verzerrt vor Schmerz und Wut, und Kaèl vermutete, dass diese Leute erst kürzlich jemanden verloren hatten. Was auch immer der Hexenjäger erlebt hatte, Rache war nicht die Lösung, das sah Kaèl in ihren Augen. Jede weitere Tote erzeugte nur neuen Hass, er funkelte ihm förmlich entgegen, dieser ewige Wunsch nach Vergeltung.
»Und darum«, komplettierte Serèika ihre Ausführungen, »entzünden wir heute, nach Anbruch der Dunkelheit ein Licht für jede einzelne Person, die von den Menschen ermordet wurde. Wir werden sie nie vergessen.« Mit den Worten nickte sie noch einmal in die Menge und trat zurück.
Die Leute klatschten, dann folgten einige Minuten aufgeregten Gemurmels. Alle warteten darauf, dass sich die Dunkelheit über sie legte, aber die letzten Sonnenstrahlen hielten sich hartnäckig in den tief hängenden Wolken.
Endlich war es soweit. Serèika schlug den Gong, und die Lichter wurden entzündet. Schlagartig war die gesamte Aue erleuchtet vom Licht tausender Kerzen. Sie schwebten hoch über die Köpfe der Magi und von da weiter in Richtung des Flusses. Dort landeten sie auf kleinen Holzschiffchen, die der langsamen Strömung folgten.
Auch Elìrios entzündete zwei Kerzen und sandte sie fort. Kaèls Urgroßeltern wurden beide im Feuer der Inquisition ermordet. Jahre später waren sie posthum für ihre Leistungen im Krieg adelig gesprochen worden, ein schwacher Trost für das vergangene Leid.
Kaèl blinzelte. Immer mehr Kerzen kamen hinzu, und in ihrer Summe strahlten sie so hell, dass seine Augen sich erst nach und nach daran gewöhnten. Jedes dieser Lichter war die Erinnerung an eine geliebte Person. Die meisten waren während der Inquisition oder im Krieg getötet worden, aber einige auch, weil sie zu nahe an der Grenze wohnten.
Oder weil der Hexenjäger sie ermordet hatte.
Kaèl musste schlucken. Wie viele dieser Kerzen wohl wegen ihm brennen?
Am liebsten hätte er den Kerl an den Haaren hier hingezerrt, damit er erkannte, wie falsch er lag mit seinem undifferenzierten Hass, damit er endlich einsah, dass alles mindestens zwei Seiten hatte. Aber wahrscheinlich hätte nicht einmal das ihn in seinem Wahn gebremst.
Er war erleichtert, als Ludòiku endlich die Hand hob.
Das war Kaèls Stichwort, er ließ sich von seinem Diener Geige und Noten aushändigen und trat vor, zu den übrigen Musizierenden. Sonderlich aufgeregt war er nicht, dafür hatte er schon zu oft vor kleineren und größeren Gruppen gespielt, da machten ein paar Tausend mehr oder weniger auch nichts mehr aus.
Kaèl nickte in die Runde und setzte seine Violine ans Kinn. Die anderen taten es ihm gleich.
Hoffentlich vergeigen sie das jetzt nicht!, dachte er und warf Lord Katkin einen strengen Blick zu, der daraufhin den Kopf einzog und seine Bratsche fester umkrallte.
Nach einem kurzen Einstimmen spielten sie los, und Kaèl vergaß die anderen und ihre Unzulänglichkeiten. Er konzentrierte sich nur noch auf seine Geige, die Noten und sich selbst, ließ sich von den Harmonien und kleinen Dissonanzen tragen und von den Repetitionen tröstend schaukeln, wie ein Kind in der Wiege. Alle Gedanken und Zweifel fielen von ihm ab, er war endlich frei und legte sein Gefühl, seine Hoffnungen, die Trauer und Enttäuschung in jede einzelne Note, während er in eine immer tiefere Trance fiel. Das Stück war lang, aber die halbe Stunde kam ihm vor wie nur wenige Atemzüge.
Als die letzten Töne verhallten, klatschte die Menge frenetisch. Routiniert verbeugte er sich in alle Richtungen und kehrte zurück an seinen Platz. Alles in ihm vibrierte noch von dem Lied, ein tiefes Wohlweh, und zum ersten Mal seit Langen waren seine Gefühle, sein Körper, und sein Verstand wieder im Einklang.
Kaèl musste zugeben, Ludòiku war der perfekte Organisator, wie jedes Jahr hatte er ein absolut passendes Stück ausgewählt.
Seine Mutter drückte ihm mit Tränen in den Augen die Schulter, aber er wandte sich ab und stellte sich näher zu Nyòko. Nach allem, was er über die Aufstände erfahren hatte, fühlte sich zuviel Nähe zu Akàri noch immer merkwürdig an.
Nyòko lächelte. »Das war berückend«, hauchte sie. »Du hast doch früher nicht so gefühlvoll gespielt.«
»Ich weiß auch nicht.« Er strich sanft über das rotbraune Holz seiner Violine und ließ sie dann vorsichtig in den Koffer gleiten. »Ich war jedes Jahr auf diesem Fest, aber heute hat es mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder bewegt, das alles vor mir zu sehen.«
Nyòko nickte bedächtig. »Die vielen Lichter sind schon ein atemberaubender Anblick.« Sie senkte die Stimme. »Dennoch frage ich mich, wie viele Kerzen die Menschen mittlerweile wegen uns anzünden könnten.«
»Das kannst du nicht vergleichen. Wir haben die Menschen nicht systematisch gejagt und verbrannt.«
»Das stimmt schon, aber der Krieg ist mehr als siebzig Jahre her. Und wie er geendet hat, war auch nicht gerade eine Glanzleistung von unserer Seite.«
»Du meinst, die paar Drachenverwüstungen?«, fragte er provokant. »Dann hätten sie uns damals nicht haufenweise abschlachten sollen!«
»Natürlich hätten sie das nicht!«, erwiderte sie heftig. »Aber du solltest selbst recherchieren. Nach allem, was ich gelesen habe, sind an den Folgen der Drachenverwüstungen mehr Menschen vor Hunger und Krankheit ums Leben gekommen, als Magi während Inquisition und Krieg zusammen. Ganz zu schweigen von denen, die täglich von unseren Grenzpatrouillen getötet werden!«
»Ich kenne die Statistiken«, murmelte er verächtlich. »Aber eine Statistik kannst du immer so interpretieren, wie du es haben willst.«
»Und warum sollte ich es so wollen?«, fragte sie. »Ich mag mein Land. Ich möchte nur nicht, dass dieser Konflikt auf ewig weiter brennt!« Sie presste die Lippen zusammen und starrte den Lichtern hinterher.
Für die Kronprinzessin Finistères ist sie erstaunlich rebellisch, dachte er amüsiert. Wenn Serèika das wüsste ...
Er verkniff sich sein Lächeln und sagte versöhnlich: »Ich stimme dir in einem zu. Die meisten Menschen, die heutzutage unter uns leben, sind friedlich. Wir sollten aufhören, ihnen der Vergangenheit wegen ihre Rechte abzusprechen. In Fukuò ...«
Er stockte.
Das jetzt zu erzählen kam einem Verrat an Akàri gleich.
Egal, dachte er. Das hat sie davon!
»In Fukuòka«, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort, »gab es ein paar Aufstände, wegen einer kürzlich durchgesetzten Pachterhöhung. Hauptsächlich kam der Widerstand aus den Menschendörfern. Zunächst waren die Zeitungen voll davon. Aber auf einmal war alles still.«
Nyòkos Blick bohrte sich in ihn, und Kaèl zögerte. Seine Hände krampften sich um den Griff des Geigenkoffers.
»Ich befürchte, Mutter hat die Aufständischen verschwinden lassen«, brachte er schließlich hervor. »Genauere Beweise habe ich nicht, aber alles deutet darauf hin.«
Es fühlte sich falsch an, auf einem Fest, an dem sie den Opfern der Menschen gedachten, über dieses Thema zu sprechen. Aber andererseits war es erleichternd, das loszuwerden, was ihn schon seit Wochen beschäftigte.
»So etwas in der Art hat mir auch Lady Midòri berichtet«, sagte Nyòko und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Sie ... lässt deine Mutter schon länger beobachten, es scheint, als wäre das nicht der erste dieser Vorfälle gewesen.«
Lady Midòri?
»Ich wünschte, ich könnte etwas tun«, sagte er. »Aber formal sind mir die Hände gebunden, Akàri hat die völlige Kontrolle. Und die sogenannten ›Gesetze‹«, er malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, »sind auf ihrer Seite.«
Nyòko nickte leicht. »Ich kenne das Gefühl.« Sie wies mit dem Kopf in Serèikas Richtung. »Ich bin sicher, wir hätten weniger Probleme an unseren Grenzen, wenn sie bei manchen Konflikten einfach einmal nachgeben würde. Aber sie hört nicht auf meine Argumente.«
Er lachte leise. »Und Akàri hält sie noch für viel zu weich, was ihre Menschenpolitik angeht!«
»Sagt sie das?« Nyòko schnaubte. »Interessant.«
»Was meintest du davor, mit Lady Midòri?«, fragte Kaèl. »Warum lässt die Herrin Aomòris meine Mutter beobachten?«
»In den letzten Jahren sind immer mehr Menschen von Fukuòka nach Aomòri geflohen, und sie will dem auf den Grund gehen. Viele Menschen scheinen Fukuòka nicht mehr als sicher zu empfinden.« Sie lachte grimmig. »Berechtigterweise.«
»Du solltest mich in Zukunft mit Lady Midòri bekannt machen. Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen.«
Nyòko warf ihm einen langen Seitenblick zu und schien eine Entscheidung zu treffen. Dann nickte sie langsam.
Es schwebten jetzt nur noch vereinzelte Lichter über ihre Köpfe, und die wurden immer weniger. Nach und nach legte sich die Dunkelheit wieder über die Wiese und alles verschwamm, sodass nur noch die Konturen zu erkennen waren.
»Weißt du, Kaèl ...«, sagte Nyòko. »Du bist doch kein übler Kerl.«
»Aber du willst mich jetzt nicht plötzlich heiraten?«, fragte er ängstlich, und sie lachte hell auf.
»Bei allen Drachen, auf keinen Fall!«
Erleichtert stimmte er in ihr Gelächter mit ein.
»Aber ich bin trotzdem froh, dass du hier bist«, sagte sie und drückte kurz seine Schulter.
oOOo
Die Kutschfahrt zurück nach Fukuòka war geselliger, als Kaèl erhofft hatte, denn Elìrios hatte Bekannte von sich ins Schloss eingeladen. Madame Wood und ihr Gemahl Ragnar reisten die Strecke gemeinsam mit den Hotàrus in der Hotàru’schen Kutsche, und Kaèl fand sich eingepfercht zwischen seinem Vater und dem Ehepaar auf der Rückbank wieder. Die Zauberin war schätzungsweise in Akàris Alter, ihr Gemahl Mitte dreißig und herausgeputzt wie ein Gockel.
Ein Trophäenmann, dachte Kaèl missmutig. Davon gab es einige, in Finistères Adelsfamilien, und viele der älteren Hochadeligen erhofften sich auch bei Kaèl etwas Ähnliches. Er konnte es nachvollziehen, schließlich war er ein überaus ansehnlicher Elb, die Zierde eines jeden Festes, aber ihre gierigen Blicke, die viel zu lange auf ihm ruhten, ließen ihn innerlich erschaudern. Natürlich hatte er immer einen frechen Spruch parat, aber es zehrte an seiner Energie. Ein Grund mehr, Festlichkeiten zu meiden.
Die beiden hielten ununterbrochen Händchen und tuschelten leise. So viel traute Zweisamkeit irritierte Kaèl, zumal er sich nach der Episode mit dem Hexenjäger auch für sich mehr traute Zweisamkeit wünschte. So weit war er schon gesunken. An Lesen war bei der Ablenkung jedenfalls nicht zu denken. Frustriert schloss er sein Buch.
»Dieses Fest stimmt mich jedes Mal wehmütig«, sagte Madame Wood. »Ein Freund von mir hat kürzlich seine Tochter im Grenzgebiet verloren. Sie wurde von einer Gruppe Menschen mit ihren Musketen erschossen. Es sind desolate Zustände dort oben!« Sie drückte die Hand ihres Mannes. »Ein Glück, dass dir dort nichts widerfahren ist.«
Dieser zuckte mit den Schultern. »Das ist das Risiko eines Soldaten.«
»Ach, Sie haben in den Grenzgebieten gekämpft?«, fragte Akàri.
»In der fünften Grenzkompanie«, sagte Sir Wood stolz. »Meine Familie hat eine lange Armeetradition, bereits meine Urgroßeltern hatten sich dem Widerstand gegen die Inquisition verschrieben, lange bevor der magische Krieg überhaupt begann.« Er lachte bitter. »Gebracht hat es ihnen nichts, sie wurden gefasst und getötet, durch die Wasserprobe.«
»Ein furchtbarer Ritus«, bemerkte Akàri.
Madame Wood ballte die Faust. »Wer dabei ertrinkt, ist unschuldig, wer sich über Wasser hält, gilt als ›Hexe‹ und wird getötet. Hauptsache, man stirbt.«
Dazu nickte Elìrios. »Meine Mutter hat die Inquisition nur mit Glück überlebt. Sie wurde direkt vom Scheiterhaufen gerettet, als sie gerade fünfzehn war.« Er runzelte die Stirn. »Obwohl ›Glück‹ der falsche Ausdruck ist. In ihrer Gegend wurden Magi durch einen sogenannten ›Stecher‹ überführt.«
Die sexuelle Konnotation des Wortes ist bestimmt nicht zufällig, dachte Kaèl mit einem Schauder.
Zwei Drittel aller Opfer der sogenannten ›Hexenverfolgung‹ waren Frauen gewesen, sie war ein perfides Mittel um die weibliche Macht zu untergraben. Allein die Menschenbezeichnung ›Hexe‹ für ›Magi‹ sprach da eine ganz eigene Sprache.
Ob dem Hexenjäger bewusst ist, was er mit seinem Namen aussagt?
Die Antwort konnte sich Kaèl denken, so verbohrt wie der Kerl war. Aber er verscheuchte den Gedanken an ihn. Es passte nicht. Nicht jetzt. Nicht hier.
»Stecher? Das Wort ist mir unbekannt«, sagte Madame Wood.
»Ein Stecher vollführt die sogenannte Stichprobe.« Die Stimme seines Vaters klang monoton, aber Kaèl bemerkte ein leichtes Zittern darin. »Bei einer Stichprobe wird die Frau – und es ist fast immer eine Frau – rasiert, und dann nimmt der Stecher eine Nadel und sucht an ihrer Haut und auch in ihrem Körper nach dem sogenannten ›Teufelsmal‹, indem er diesen überall durchbohrt. Mutter wurde nach wochenlanger Folter für schuldig befunden und auf den Scheiterhaufen gezerrt. Sie war so entkräftet, sie konnte sich nicht allein aufrecht halten.«
Kaèl ballte die Faust. Davon hatte Elìrios nie erzählt. Er kannte nur die Geschichte der heroischen Rettung vom Scheiterhaufen.
»Ein bedauerliches Schicksal«, sagte Sir Wood leichthin, als hätte Elìrios sich über einen Schnupfen beklagt. Kaèl hasste ihn für seine Indifferenz.
Das Gesicht seines Vaters war eine Maske, kalt und starr. »Sie hat uns nie davon erzählt. Ich habe es erst vor einigen Jahren herausgefunden, als ich mich durch die Familienchroniken gewühlt habe.« Er betrachtete seine zitternden Hände. »Ich hatte mich früher immer gefragt, warum sie …« Seine Stimme brach.
… warum sie dich nicht geliebt hat. Mit dem Eisenhaken geschlagen, vernachlässigt hat, ergänzte Kaèl in Gedanken. Großmutter war eine harte Frau mit stets zusammengepressten Lippen und hochgeschlossenen Kleidern. Sein Vater war in ihrer Gegenwart ein anderer, mehr ein verschrecktes Kaninchen, als der stolze Adelige der er hätte sein sollen. Ironischerweise machte sie ihm auch dafür Vorwürfe.
»Jetzt verstehe ich sie ein wenig«, flüsterte Elìrios. Er schluckte schwer und wandte den Blick zum Fenster. Seine Unterlippe zitterte heftig.
Kaum eine der magischen Familien war von der Inquisition verschont geblieben. Sie alle hatte ihre sinistren Geheimnisse, Dinge, über die niemand zu sprechen wagte. Seit dem Ende des Krieges und damit auch dem Ende der Verfolgungen, waren mehr als siebzig Jahre vergangen, aber die Narben zogen sich durch die Generationen. Selbst die, die nie einen Scheiterhaufen gesehen hatten, waren in ihrem ganzen Wesen dadurch verändert.
Elìrios war totenblass. Er hatte die glasigen Augen weit aufgerissen, und schien mit den Tränen zu ringen.
Und dann, ohne genau zu verstehen, was er da tat, nahm Kaèl Elìrios’ Hand und drückte sie leicht.
Sein Vater wandte den Kopf. Überraschung und Dankbarkeit lagen in seinem Blick. Er drückte zurück.