Kaèl fielen die Augen zu. Ein Ruck ging durch seinen Körper, und er schreckte auf, mit fiesen Nackenschmerzen. Er blinzelte die Müdigkeit fort und schaute zu Bendix.
Der lag unverändert da, mit hohlen Wangen und Augenrändern, die sich von den weißen Laken dunkel abhoben. Seine Lider waren geschlossen, am unteren Wimpernrand sammelten sich Tränen. Seine Hände waren zu Fäusten geballt.
Kaèls Brust wurde eng. Bendix musste Schmerzen haben.
Bendix war immer das Abbild von Gesundheit gewesen … ihn jetzt so zu sehen … es war unerträglich.
Kaèl rieb sich die Augen und läutete die Glocke. Wenige Augenblicke später stand die Heilerin in der Tür.
»Er hat wieder Schmerzen«, sagte er mit einer Stimme, die sich seltsam fern anhörte. Zittrig.
»Schon wieder?«, fragte sie. Sie trat näher ans Bett.
»Geben Sie ihm einfach die Medizin!« Kaèl biss sich in die Innenseite seiner Lippe, bis es brannte. Warum starrte sie ihn so an? Seine Nerven lagen blank, er war unfähig, noch länger seine Contenance vor ihr oder irgendjemand zu wahren.
Der Heilerin musste das auch unangenehm sein, sie blickte schnell fort, zu Bendix, und nickte. »Ich gebe ihm einen Trank.« Sie öffnete eine Schublade des Beistelltischchens und kramte eine Phiole heraus. »Diesmal einen Stärkeren.« Mit geübten Handgriffen flößte sie Bendix die hellblaue Flüssigkeit ein.
Bendix verzog den Mund, aber nach einer Weile entspannten seine Züge und seine Fäuste öffneten sich wieder.
Kaèl atmete auf. »Danke«, murmelte er.
»Dafür bin ich hier.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. Unter normalen Umständen hätte Kaèl sie weggewischt, aber er war zu ausgelaugt, um sich auch nur daran zu stören. »Sie sollten sich ausruhen«, sagte sie. »Ich kümmere mich um ihn.«
»Nein«, sagte er. Er nahm den feuchten Lappen von Bendix’ Stirn, tunkte ihn in die Schüssel neben dem Bett, wrang sie aus und legte sie zurück auf Bendix’ Stirn. »Er braucht mich hier.«
»Aber er hat nichts davon, wenn Sie völlig übermüdet sind. Und für alle diese Handgriffe gibt es viel effizientere Zauber. Ich kann das übernehmen.«
»Nein«, wiederholte er. »Bendix würde es hassen, wenn Sie zaubern. Ich mache das lieber per Hand.«
Sie presste die Lippen zusammen. »Dann läuten Sie, wenn Sie etwas brauchen.«
»Läuten Sie, wenn Sie etwas brauchen«, wiederholte er verbittert. »Als würde das etwas bringen. Er soll wieder gesund werden, das brauche ich.«
»Sie wissen, was dafür zu tun ist.«
»Ja, verdammt«, schleuderte er ihr entgegen. »Aber es gefällt mir nicht!«
Kopfschüttelnd verließ sie den Raum.
Sofort bereute er seinen Ausbruch. Jetzt hatte er es sich mit der Person verscherzt, von der Bendix abhängig war. Und das für so eine kindische Bemerkung – sie konnte auch nicht mehr für Bendix tun.
Bendix hätte so etwas anders gehandhabt. Er war so liebenswert und empathisch, die Leute umkreisten ihn wie Motten das Licht. Auf ihn hatten die Hilfskräfte gehört, obwohl er ein Fremder für sie war. Nur so waren sie schnell genug gewesen, um das komplette Dorf zu evakuieren.
Alles, bis auf dieses eine Haus. Das letzte, verdammte Haus. Warum hatte Bendix es nicht einfach ignorieren können?
Vor Bendix’ Bett stapelten sich die Geschenke – Blumen, frisches und kandiertes Obst, Schutzzauber, Amulette und sonstiger Tand, den man Kranken schenkte. Anfangs hatten die Dorfbewoner*innen sogar das Zimmer belagert, bis die Heilerin sie alle bis auf Kaèl hinausgeworfen hatte.
Seitdem beobachtete Kaèl seinen langsamen Verfall. Lindwürmer waren so selten, dass es keine gängige Behandlung gegen ihr Gift gab, und alle Heiltränke zögerten nur das Unvermeidliche hinaus. Es war ein großes Glück, dass Bendix so resistent gegen Magie war, sonst wäre er noch auf dem Floß gestorben. Kaèl seufzte.
Wieder schob er Bendix’ Hosenbein hoch. Das Bein war bis zwei Finger über dem Knie schwarz, so wie die letzten zehn Male, die er nachgeschaut hatte. Durch die Tränke hatte sich der Zustand seit heute Morgen kaum verändert, es blieb Zeit – Stunden, vielleicht sogar Tage – bis eine Entscheidung getroffen werden musste.
Bis Kaèl eine Entscheidung treffen musste.
Für Bendix.
Denn der würde bis dahin nicht aufwachen.
Kaèl vergrub den Kopf in den Händen. Was machte er sich vor? Es gab keine Alternative. Aber etwas hinderte ihn daran, der Heilerin seine Zustimmung zu geben. Er wollte nicht, dass Bendix irgendwann, in Wochen oder Monaten aufwachte und auf einen Beinstumpf starrte, ohne zu wissen, warum.
Bendix brauchte sein Bein. Er hatte so viele Pläne, er wollte einen Garten haben, und dort Gemüse anbauen. Er wollte sein Training absolvieren und ein Dojo …
Ja, verdammt, das Dojo. Wie sollte Bendix im Dojo Kampfkunst lehren, mit nur einem Bein?
Natürlich, es gab Leute wie Gwydion, die sich teure Prothesen leisten konnten. Gwydion konnte damit sogar Ski fahren. Aber würde Kaèl ohne den Rückhalt seiner Familie genug Geld zusammenbringen, um Bendix so etwas zu finanzieren? Und falls ja, würde es für Bendix’ Zwecke reichen?
Er griff nach Bendix’ Hand und drückte sie. Bendix’ Lider flatterten, als würde er bemerken, dass Kaèl da war, aber dann sank er zurück in seinen starren Zustand.
Auch Kaèl kämpfte mit dem Schlaf. Er war seit zweieinhalb Tagen wach, aber er würde nicht einschlafen. Er würde nicht von Bendix’ Seite weichen, bis es ihm besser ging. Falls es ihm jemals besser ging.
Ein Geräusch ließ ihn aufmerken. Es klang wie Fußtritte, von mehreren Personen, die sich seiner Tür näherten. Die Schritte verstummten, dann wurde die Tür geöffnet.
»Mir wurde gesagt, dass ich euch hier finde.«
Diese Stimme … das konnte nicht sein. Langsam drehte er den Kopf.
Er blinzelte. In der Türschwelle stand Yùna. War das ein Traum?
Kaèl brauchte eine Weile, bis er sich gesammelt hatte. »Yùna«, brachte er schließlich heraus. »Was willst du?« Sein Blick wurde durch etwas sonnengelbes hinter ihr abgelenkt. Uniformen. Gut ein Dutzend Wachen hatten sich hinter ihr versammelt. Sie wirkten angespannt, einige umklammerten Musketen. »Nein!«
Er sprang hoch und stellte sich schützend vor Bendix, die Arme erhoben. Aus dem Augenwinkel sah er, wie mehr Wachen nachrückten.
Es war vorbei. Es waren zu viele.
»Bitte«, sagte er, und unterdrückte ein Schluchzen. »Du darfst ihn nicht abführen. Er hat hier nichts Falsches getan, und wir ziehen bald weiter. Bitte. Er ist ein guter Mensch. Er ist der Beste.«
Sie blickte zu Bendix, mit unlesbarer Miene. »Ist er bewusstlos?«
Kaèl nickte. »Seit fast zwei Tagen. Er wurde vergiftet.«
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, aber Kaèl konnte es nicht deuten. War sie erleichtert? »Lassen Sie mich mit ihnen allein«, sagte sie zu einer der Wachen, von der Kaèl vermutete, dass es die Kommandantin war.
»Aber Mylady«, protestierte diese, »wir sollten den Hexenjäger nicht unterschätz–«
»Sie haben mich gehört«, unterbrach sie Yùna.
Die Kommandantin schloss den Mund. Sie nickte, und gab den Wachen den Befehl, sich zurückzuziehen.
Als sich die Tür hinter ihnen schloss, atmete Kaèl auf.
»Darf ich?«, fragte sie und nickte Richtung Bett.
Er machte eine einladende Handbewegung.
Angespannt beobachtete er, wie Yùna nähertrat. Sie stellte sich neben ihn. Lange blickte sie Bendix an, ohne ein Wort zu sagen. Kaèl atmete flach und schnell.
»Ich hatte ihn mir immer ganz anders vorgestellt«, sagte sie endlich. »Wie jung er aussieht.«
»Er ist jung.« Seine Kehle war seltsam eng, er konnte kaum sprechen. Er räusperte sich. »Was hast du vor? Willst du ihn einsperren? Den Ryunòrs ausliefern?«
»Ich wusste bis vor zwei Stunden nicht, dass ihr hier steckt«, sagte Yùna vage, den Blick immer noch auf Bendix gerichtet »Ich bin wegen der Flut hierhergekommen. Sie ist eine der größten Katastrophen der letzten zehn Jahre …«, sie blickte zu Kaèl, »oder besser gesagt, sie wäre es gewesen, wenn es nicht diesen einen, verrückten Erzmagi gegeben hätte, der sich ihr entgegengestellt hat.« Sie lächelte. »Zumindest wurde mir das von den Leuten hier berichtet. Sie schildern alles in den schillernsten Farben.«
Er zuckte mit den Schultern. »Tun sie das?«
»Aber vor allem reden sie über ihn.« Sie nickte in Bendix’ Richtung. »Sie sagen, dass die meisten im Dorf ohne seinen Mut und seine Entschlossenheit ertrunken wären.«
»Das ist so typisch«, sagte Kaèl, aber er konnte ein Lächeln nicht verbergen. »Ich zaubere mir die Finger wund, aber die Lorbeeren heimst der charismatische Typ ein.«
Im Flur wurde es laut. »Jetzt lassen Sie mich durch«, hörte Kaèl eine bekannte Stimme. »Das ist mein Gasthaus!«
Die Wache erwiderte etwas, aber Yùna hexte die Tür auf. »Kommen Sie herein!«
Der Wirt trat ein. Er nahm seine Mütze in die Hand und verbeugte sich vor Yùna wie ein Schuljunge. »Mylady.« Dann nickte er Kaèl zu und stellte sich demonstrativ vor Bendix’ Bett. »Brauchen Sie etwas? Ist alles in Ordnung?«, fragte er Kaèl. »Wieso ist alles voller Wachen?« Misstrauisch blickte er zu Yùna.
Yùna lächelte dem Wirt diplomatisch zu. »Lassen Sie sich von den Wachen nicht verunsichern. Das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Lord Hotàru hat nichts vor mir zu befürchten.«
»Lord Hotàru hat nichts zu –«, setzte der Wirt an, dann verstummte er. »Er ist ein Lord?«, hauchte er.
Kaèl zwang sich zu einem Lächeln. »Sie haben die Dame gehört.«
»Oh.« Die Augen des Wirts weiteten sich. »Na dann. Ich …« Er verbeugte sich und ging rückwärts Richtung Tür. »Melden Sie sich, wenn Sie etwas brauchen!« Mit den Worten verließ er den Raum.
Yùnas Augen brannten sich in seine. »Du siehst, wie besorgt sie hier alle um ihn sind. Dabei haben die meisten hier längst begriffen, dass er der Hexenjäger ist.«
Kaèl nickte abgelenkt. »Wie hast du mich genannt? ›Lord‹?« Er wies an sich herunter. Er trug immer noch die schäbige Robe von dem verhängnisvollen Abend, sie starrte vor Dreck. »Sieht so ein Lord aus?« Er verschränkte die Arme. »Ich bin kein Lord mehr.«
»So lange deine Familie das nicht offiziell bekanntgibt, werde ich deinen Titel verwenden. Und selbst wenn sie es täten, bezweifle ich an der Rechtmäßigkeit. Du wurdest als Lord geboren, niemand, auch nicht sie, kann dir den Titel nehmen. Sie können dir nur den zugehörigen Besitz und die Ländereien verwehren.«
»Hm«, machte er skeptisch. Er lugte zu Bendix. Dieser Gedanke gefiel ihm mehr, als es für die Situation angemessen war. Wie oberflächlich war er? Sein Freund lag im Sterben, und er dachte an seinen Titel.
»Einerlei.« Kaèl schüttelte den Gedanken fort. »Warum bist du hier?«
»Im Dorf lebten hauptsächlich Elb*innen«, sagte Yùna, ohne auf seine Frage einzugehen. »Wieso hat er sie gerettet? Ich dachte, der Hexenjäger hasst magische Wesen?«
»Nein, das tut er nicht. Ihm wurde Leid zugefügt, als er jung war. Eine Gruppe Magi hat ihm alles genommen. Sie haben seine Brüder zu Tode gefoltert, und er musste es mitansehen. Danach wollte er sich an denen rächen, die dafür verantwortlich sind. Aber er hat damit aufgehört.« Kaèl schluckte. »Für mich. Bendix … ist anders geworden, sonst wäre ich nicht mit ihm zusammen.«
»Ich verstehe«, sagte sie. Sie runzelte die Stirn.
Kaèl senkte den Kopf. »Bitte«, sagte er. »Bitte lass uns ziehen. Sobald es ihm besser geht, wandern wir in eines der Menschenlande, wir behelligen dich und die Leute Aomòris nicht weiter. Ich tue alles was du willst, Hauptsache du lässt uns ziehen.«
»Nach allem, was ihr für die Leute hier getan hat, würden sie auf die Barrikaden gehen, wenn ich das täte.«
»Wenn du was tätest?« Kaèl schluckte.
Sie lächelte milde. »Wenn ich euch einfach ziehen lassen würde.«
Er ballte die Faust, aber Yùna schüttelte den Kopf. »Komm nach Tukàta, Kaèl. Ich brauche dich dort, als meine rechte Hand. Die Zeitungen Aomòris sind voll von euren Taten, die Leute würden es lieben, einen so berühmten Sekretär zu haben.«
»Und Bendix?«, flüsterte er.
Erneut schaute sie zu Bendix, wie er unbeweglich auf dem Bett lag. Ihr Blick blieb an seinem Gesicht hängen. »Diese furchtbaren Tätowierungen«, sagte sie. »Die müsste er verbergen. Vielleicht mit einer Mütze.«
Kaèl griff nach ihrem Ärmel. »Heißt das, er darf mitkommen?«
»Fürs Erste.« Ihre Stimme verhärtete sich. »Eines sollte dir klar sein: Sobald er rückfällig wird, baumelt er am Galgen. Egal, wie viele Leute ihn bewundern.« Sie rieb sich die Augen. Für einen Moment sah sie so müde aus, wie Kaèl sich fühlte.
»Natürlich, natürlich.« Langsam löste Kaèl seine Finger wieder von ihrem Ärmel. Seine Knöchel waren weiß, weil er so geklammert hatte.
Sie nickte zu Bendix. »Was ist mit seiner Vergiftung? Wird er wieder gesund?«
»Wahrscheinlich.« Kaèl fuhr sich durchs Haar. Es war immer noch matschverklebt. »Aber dafür müssen sie ihm sein Bein amputieren, zumindest denkt das die Heilerin hier. Das Furchtbare ist, dass ich diese Entscheidung für ihn treffen muss.«
»Wie viel Zeit bleibt ihm bis dahin?«
»Ein Tag, vielleicht zwei.«
»Gut.« Sie nickte ihm zu und schritt zur Tür. In der Türschwelle verharrte sie. »Ich schicke euch eine vortreffliche Heilerin. Vielleicht hat sie eine Idee.«
Sie wollte gehen, aber Kaèl rief ihr hinterher: »Warum tust du das? Warum hilfst du ihm?«
Sie wandte sich um. »Weil ich an das Gute in den Leuten glaube.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Und außerdem brauche ich einen fähigen, mutigen Sekretär. Und ich habe mittlerweile verstanden, dass ich euch nur zusammen bekomme.«
oOOo
Fünf Tage später
Es pochte leise. Kaèl schlug die Augen auf. Er brauchte eine Weile, bis er verstand, wo er war.
»Mylord?«, kam es mit starkem Menschenakzent von der Tür. »Hier ist Pfleger Thorsten.«
Mit einem Ruck richtete Kaèl sich auf. »Einen Moment«, rief er. Er lief zum Schrank und warf sich seinen seidenen Morgenmantel über – ein Teil der Garderobe, die Yùna ihm hatte liefern lassen. Er eilte zur Tür und riss sie auf. »Ist Bendix etwas passiert?«, fragte er atemlos.
Pfleger Thorsten lächelte. »Nein, ganz im Gegenteil. Er ist erwacht.«
Kaèls Herzschlag beschleunigte sich. »Er ist wach?«, flüsterte er. »Bei allen Drachen!«
»Seit drei Stunden«, präzisierte Thorsten.
»Drei Stunden? Und mich weckt niemand?« Kaèl fuhr sich durchs Haar. »Verdammt«, murmelte er, »da legt man sich einmal hin, und dann wacht er auf und ist allein!«
»Mylord, es war mitten in der Nacht, und Sie waren übermüdet. Da dachte ich –«
»Ich muss zu ihm«, rief Kaèl. Er stürmte aus dem Zimmer. Der Pfleger eilte ihm hinterher, aber er schaffte es kaum, mit Kaèl Schritt zu halten.
»Wie geht es ihm?«, sagte Kaèl. »Wie geht es seinem Bein?«
»Es – geht – ihm gut«, keuchte Thorsten, »Heilerin Yìn –«, er rang nach Luft, »hat ihn – gerade untersucht.«
»Oh?«, machte Kaèl und verlangsamte seinen Schritt, was Thorsten mit einem dankbaren Nicken quittierte..
»Die Bisswunde ist fast verheilt und es sind kaum mehr Giftspuren in seinem Blut zu finden. Madame Yìn sagt, in ein paar Wochen kann er ohne Krücken laufen.«
»Unglaublich«, sagte Kaèl. Es war, als fiele ein bleiernes Gewicht von seinen Schultern. »Das ist … unglaublich.« Er lächelte. »Vielen Dank, Thorsten.«
In der Türschwelle verharrte Kaèl. Bendix saß aufrecht im Bett, mit einem Kissen im Rücken gegen das Kopfende gelehnt. Er unterhielt sich mit der Heilerin, daher bemerkte er Kaèl nicht sofort. Noch immer war er viel zu hager, mit auffällig herausstechenden Wangenknochen, aber er gestikulierte energisch.
Kaèl hatte so lange auf diesen Moment gewartet, aber jetzt wo er da war, fühlte er sich seltsam eingeschüchtert. Vorsichtig klopfte er gegen das Holz des Türrahmens, was Bendix aufmerken ließ.
»Du bist wach«, sagte er überflüssigerweise.
Bendix wandte den Kopf. Als er Kaèl erblickte, lächelte er. »Kaèl.«
Es war, als fiele ein bleiernes Gewicht von Kaèls Schultern. Er rauschte zu Bendix. Er nahm Bendix’ Hand in die seine. Sie war kühl, viel zu kühl, und er rieb sie zwischen seinen Händen. »Wie fühlst du dich?«
»Gut.«
»Bendix! Sag nicht einfach ›gut‹! Du bist fast gestorben!«
»Fein, mir ist etwas schwindelig und mein Bein schmerzt, aber dafür gibt mir Madame Yìn ja ihre Tränke.« Bendix tauschte einen Blick mit der Heilerin.
Die Heilerin lächelte. Sie erhob sich. »Sie beide haben sich bestimmt viel zu erzählen. Ich lasse Sie allein. In einer Stunde bin ich wieder da.«
Als sie gegangen war, hüpfte Kaèl auf die Bettkante. Eng rückte er an Bendix heran. »Ich hab mir Sorgen gemacht«, sagte er leise. »Es sah so aus, als würdest du dein Bein verlieren.«
»Aber das ist ja nicht passiert«, sagte Bendix. »Weil ich hier in so guten Händen bin. Die Heilerin und der Pfleger geben sich wirklich alle Mühe. Zum Beispiel das hier«, Bendix angelte nach der Tasse, die auf seinem Nachttisch stand. »Dieser Heiltrank. Der ist so stark, ich merke richtig, wie es durch alle Knochen geht. Das tut so gut. Und er schmeckt auch noch wunderbar!«
Ungläubig starrte Kaèl auf die dampfende Tasse. Er streckte die Hand aus. »Darf ich?«
Bendix reichte sie ihm, und Kaèl probierte einen Schluck. Er musste grinsen. »Bendix. Das ist Kakao! Ganz normaler Kakao!«
»Kakao?« Bendix’ Gesicht spiegelte absolute Ahnungslosigkeit.
»Hast du noch nie Kakao getrunken? Es ist das Beste!« Mit gespielter Strenge schüttelte Kaèl den Kopf. Er drückte Bendix den Becher wieder in die Hand. »Das ist eine der vielen Sachen, die sich in Zukunft ändern werden. Da bekommst du jeden Tag Kakao. Und alle Gewürze, die du so liebst. Das hast du verdient, du hast das Beste verdient, nur das Allerbeste.« Etwas löste sich in seiner Brust und stieg in ihm auf, es war warm und kitzelte seine Kehle. Seine Augen wurden feucht.
»Kaèl?«, fragte Bendix. Er stellte die Tasse ab. Vorsichtig legte er eine Hand auf Kaèls Rücken. »Ist alles in Ordnung?«
Kaèl nickte. Er schlang die Arme um Bendix’ Taille und vergrub sein Gesicht an Bendix’ Hals. Bendix war warm und voller Leben. »Bendix«, schluchzte er. »Du lebst.«
»Aber natürlich lebe ich!«, protestierte Bendix. Er senkte die Stimme. »Du hattest wirklich Angst um mich, oder?«
Kaèl nickte schluchzend.
»Es tut mir leid«, flüsterte Bendix. »Es tut mir leid, dass ich dir so viel Kummer gemacht habe.«
Es dauerte lange, bis Kaèl sich wieder beruhigt hatte. Matt, aber seltsam zufrieden lehnte er an Bendix’ Brust, als wäre er der Patient. Bendix schien sich nicht daran zu stören. Er summte leise und strich über Kaèls Haar.
»Bendix?«
»Hmm?«
»Das, was du gesagt hast. Das … ist falsch. Du bereitest mir keinen Kummer.« Kaèl lugte hoch, in Bendix’ Gesicht. »Dich zu lieben ist das Einfachste, was ich jemals getan habe.« Wieder musste er schluchzen. Aber es war in Ordnung, wenn Bendix ihn verletzlich sah. »Es ist wie atmen, weißt du?«
Bendix lächelte. In seinen Augen standen Tränen. »Wie atmen«, bestätigte er.
Kaèl nahm Bendix’ Hand und drückte sie. »Ich freue mich auf alles, was kommt. Hauptsache ich erlebe es mit dir.«
Bendix drückte zurück.
oOOo
Kaèl und Bendix saßen in der komfortablen Kutsche, die sie nach Tukàta bringen sollte, Kaèls Kopf an Bendix‘ Schulter gelehnt, ihre wenigen Sachen im Kofferraum. Bendix las ein Buch, dabei verfolgte er die einzelnen Buchstaben mit dem Finger und sprach jedes Wort mit, das er entzifferte.
Es war so monoton, Kaèl fielen die Augen zu.
Im Halbschlaf hörte er Bendix sagen: »Jetzt sitzen wir hier und fahren in diese unbekannte Stadt. Wie merkwürdig. Ich hatte früher immer gedacht, du würdest irgendwann eine reiche, adelige Elbin heiraten, und mich links liegen lassen.«
»Das hatte ich auch gedacht«, sagte Kaèl. »Aber wir haben uns beide geirrt.«
»Hee!«, rief Bendix und puffte ihn in die Seite. »An der Stelle hättest du eigentlich was Romantisches sagen müssen.«
Kaèl kicherte, was ihm einen weiteren, härteren Knuff einbrachte. Jetzt war er wach. »Aua!«, rief er empört. »Ich war doch nur ehrlich!« Er stürzte sich auf Bendix, packte ihn am Handgelenk und kitzelte ihn mit der anderen Hand unter der Achsel.
»Das ist unfair!« Bendix wand sich unter Kaèls Griff, Tränen in den Augen. »Ich bin noch verletzt!« Aber er lachte, abgehackt und atemlos.
Auch Kaèl lachte. Es wandelte sich in ein hohes Kreischen, als Bendix ihn gegen die Lehne des Rücksitzes presste und seinerseits anfing, ihn zu kitzeln.
Es klopfte laut gegen die Trennwand. »Alles in Ordnung da hinten?«, rief der Kutscher in seiner sonoren Bassstimme.
Sie erstarrten. »Alles in Ordnung«, keuchte Kaèl, als er wieder etwas Sauerstoff in den Lungen hatte.
Bendix warf ihm einen langen Blick zu. Seine Mundwinkel zuckten verräterisch, und Kaèl konnte sich nicht mehr halten. Wieder lachten sie los.
»Vielleicht solltest du einen Stillezauber hexen«, sagte Bendix, als sie sich beruhigt hatten. Er legte eine Hand auf Kaèls Schenkel und grinste vielsagend.
»Einen Stillezauber?« Kaèl zog das Wort in die Länge. Er lachte leise. »Seit wann bittest du mich darum, etwas für dich zu zaubern? Oder ist dein gesamtes Blut weit nach unten gelaufen?«
Bendix’ Ohren färbten sich kirschrot.
Kaèls Lächeln intensivierte sich. »Stell dir vor, du hättest das bereits ganz zu Anfang gemacht.« Er breitete die Arme aus. »Der große Hexenjäger, der mich darum bittet, etwas für ihn zu zaubern. Niedlich. Dann hätte ich mich garantiert–«
Er verstummte.. Was hätte er getan? Sich in Bendix verliebt? Das hatte er sowieso.
»Egal«, murmelte er und wirkte den geforderten Zauber. »Küss mich einfach.«