Myriam blinzelte irritiert, als sie ihn in der Türschwelle stehen sah. »Was für eine Überraschung!« Sie winkte ihn hinein, und Kaèl folgte ihr in den Salon, wo ein Feuer im Kamin knisterte. Er ließ sich auf das weiche Ledersofa sinken und rieb sich den verspannten Nacken.
Die letzten Tage hatte er über den Finanzberichten Fukuòkas gesessen, hatte Handelstransaktionen nachvollzogen, Einnahmen und Ausgaben gegeneinander abgewogen. Ihm fehlte nur noch eine wichtige Information von Myriam, um mit Akàri auf Augenhöhe diskutieren zu können – sofern das überhaupt möglich war.
Sie setzte sich in den Sessel gegenüber. Eine Kuscheldecke und ein aufgeschlagenes Buch lagen auf der Lehne – sie schien bis gerade gelesen zu haben. Und zwar, wie er erfreut feststellte, mal wieder einen Klassiker der Transformationsmagie. Früher hatten sie regelmäßig über Bücher diskutiert, und ein wenig tat es ihm leid, dass er sie, seit er von ihrer Rolle bei den Pachtaufständen erfahren hatte, nicht mehr besucht hatte.
Myriam lehnte sich in die Kissen und musterte ihn. »Tee?«
Kaèl nickte. Tee war immer gut. Bei all der Überwindung, die es ihn gekostet hatte, hier zu erscheinen, brauchte er etwas, um sich daran festzuhalten.
Er setzte ein Lächeln auf und rang sich ein paar Floskeln ab, damit sie so tun konnten, als gäbe es nichts Unausgesprochenes zwischen ihnen. Zum Glück ließ sich Myriam darauf ein, und sie lenkten ihr Gespräch auf das Buch, das sie gerade las. Für einen kurzen Moment fühlte es sich zwischen ihnen wieder so an, wie früher.
Die Dienerin kehrte mit Tee und Gebäck zurück.
Myriam nickte ihr freundlich zu, dann gab sie ihr und den zwei weiteren Bediensteten mit einer Geste zu verstehen, den Raum zu verlassen.
Als sie allein waren, wirkte sie einen Stillezauber über sie beide.
Das war ungewöhnlich.
»Du hast mich lange nicht mehr besucht«, sagte sie wie beiläufig, als sie nach ihrer Tasse griff.
»Ich war beschäftigt.«
»Ich weiß.«
Etwas in ihrem Tonfall ließ ihn aufmerken. Augenblicklich beschleunigte sich sein Herzschlag. »Was meinst du damit?«
»Du bist unvorsichtig geworden.« Myriam lächelte, aber ihre Augen sprachen eine andere Sprache. Sie betrachtete ihn aufmerksam, fast schon lauernd. »Für deine früheren Liebschaften bist du nicht so große Risiken eingegangen.«
Verdammt, sie weiß Bescheid!
Wie hätte es anders sein können, schließlich war es Myriams Aufgabe, ihre Augen und Ohren überall zu haben.
Mit zitternden Händen griff Kaèl nach der Tasse und gab zwei Kandisstückchen hinein. Er rührte herum, und es klirrte sanft. »Was weißt du?«
»Ich weiß, dass du damals, als du vorgabst so krank zu sein, nicht im Strandhaus übernachtet hast. Und bei deinen letzten Reisen bist du länger fortgeblieben, als nötig.«
Bemüht kontrolliert legte er den Löffel auf der Untertasse ab. Es würde nichts bringen, Myriam zu widersprechen, sie machte niemals eine Anspielung, wenn sie keine fundierten Beweise hatte. Kaèl zwang sich, den Blick zu heben und ihr in die Augen zu sehen. »Weißt du, wer es ist?«
»Nein.«
Erleichtert stieß er die Luft aus.
»Das interessiert mich auch nicht«, fuhr sie fort. »Du bist der Kronprinzessin versprochen, ob du ein Stelldichein mit einer Bauerstochter oder einem jungen Herrn aus dem Landadel versteckst, oder was auch immer, alles wäre ähnlich fatal.«
»Ja.« Er nickte heftig.
»Kaèl, du musst aufpassen.« Auf einmal klang ihre Stimme sanft. »Auch, wenn deine Ausreden wie immer kreativ sind, du bist viel zu oft unterwegs. Es wird früher oder später auffallen.«
»Ich weiß. Ich ...« Sein Hals kratzte, und er räusperte sich. »Ich ... arbeite daran, ich werde mit Nyòko sprechen und sie fragen, ob sie mich heiratet, wenn wir heiraten wird alles einfacher.«
Beim Drachen, was plapperte er da? Er wusste weder, ob er diese Hochzeit wirklich wollte, noch ob sie seinen Problemen Abhilfe verschaffen würde. Wie kam er eigentlich darauf, dass er als Gemahl der Herrscherin Finistères mehr Freiräume hatte, als jetzt? Was hatte er sich eigentlich die ganzen letzten Wochen eingeredet?
Verstohlen machte er eine Faust und grub die Nägel tief in die Handfläche. Er brauchte jetzt Schmerz, um sich abzulenken, er durfte nicht weiter über Bendix' und seine Zukunft nachdenken, es schnürte ihm die Kehle zu.
Warum schaute sie so mitleidig? Am liebsten hätte er sich vor ihrem Blick verkrochen.
»Dich hat es erwischt«, stellte sie fest. »Du bist verliebt. Du warst noch nie verliebt.«
»Ja«, brachte er hervor. »Das hatte ich nicht geplant, und ehrlich gesagt überfordert es mich, aber ...«, er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine zittrige Atmung, um nicht hier und jetzt loszuweinen, »er fehlt mir so, wenn ich ihn nicht sehe.«
»Du weißt, dass ich dich nicht verraten würde. Aber wenn du so weiter machst, dann werden deine Eltern es herausfinden.«
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«, hauchte er.
»Es beenden.«
Als sie seinen entsetzten Blick wahrnahm, seufzte sie leise. »Das ist nur mein offizieller Rat. Ich weiß, dass es schwieriger ist, als es sich anhört, wenn Gefühle im Spiel sind.« Sie nickte in Richtung des Beistelltischchens, auf dem die stilisierte Zeichnung einer Frau stand, die Kaèl mit etwas Fantasie als Elìsa erkannte, Myriams geheime Geliebte.
»Wenn du planst, es weiterzuführen, dann benötigst du eine Alibi-Tätigkeit, die dir ermöglicht, häufiger zu reisen. Am besten etwas, das deine Eltern schätzen, aber zu dem sie dich nie begleiten würden und das niemanden involviert, der ihnen nahesteht.«
Kaèl nickte. Er hatte sowieso vor, sich zukünftig wieder mehr um die Belange der Ultimyr-Akademie zu kümmern.
»Wenn du die Kutsche zu ihm nimmst, dann fahre immer erst eine gewisse Strecke in die Richtung, in die du vorgibst zu wollen und vergewissere dich, dass niemand dir folgt. Erst dann kannst du den gewünschten Weg einschlagen.«
»Das tue ich bereits.«
»Überdies«, sie hob die Brauen, »solltest du deine Wege variieren, keinerlei Hologramm-Verbindungen vom Schloss aus nutzen und vor allem keine persönlichen Gegenstände von ihm aufheben. Ihr schreibt euch Briefe? Dann verbrenne sie, sobald du sie gelesen hast.«
»Was denkst du von mir?«, sagte er mit fester Stimme. »Natürlich tue ich das.«
»Gut. Aber du darfst niemals nachlässig werden, so unbequem diese Maßnahmen auch scheinen.«
Er nickte bedeutsam, und Myriam entspannte sich sichtlich. »Mehr kann ich dir auch nicht sagen.« Sie heftete den Blick auf ihn. »Aber ich nehme nicht an, dass du hierher gekommen bist, um mit mir über deine neue Liebschaft zu plaudern?«
Kaèl hatte sich fest vorgenommen, so konfliktlos wie möglich an die benötigten Informationen zu gelangen, aber er war noch so in Aufruhr, dass die Wahrheit aus ihm herausplatzte: »Ich bin enttäuscht von dir, weil du die Pachtaufstände hast niederschlagen lassen!«
Er bereute seine Worte nicht einmal. Myriam hatte ihn wieder in Schutz genommen, war das nicht Grund genug, ihr wenigstens ein letztes, ernsthaftes Gespräch anzubieten?
»Das hatte ich mir gedacht.« Sie machte eine hilflose Geste. »Du kannst mir glauben, ich war nicht stolz darauf. Aber ich habe versucht, den Schaden zu minimieren, diese Aufstände waren so gewichtig, dass sich selbst deine Großmutter eingeschaltet hat. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte ich die drei beteiligten Dörfer niederbrennen lassen müssen, um ein Exempel zu statuieren.«
»Und dennoch hast du den Tod von unschuldigen Leuten zu verantworten!«
Sie lachte bitter. »Es ist ja schön, wie reformerisch du jetzt klingst. Aber unser bequemes Leben, und ja«, sie warf ihm einen stechenden Blick zu, »selbst alles was du bist, beruht darauf, dass wir die Bevölkerung unterdrücken.«
Nervös spielte er an seinen Perlmuttknöpfen herum. Wenn Myriam so sprach, klang sie fast wie Bendix. Vielleicht mochte sie auf irgendeiner Ebene recht haben, aber es war, als würde sich ein neues, uferloses Thema auftun, eines, das ihn nicht gut dastehen ließ, und das ihn bereits überforderte, wenn er es nur in Gedanken streifte. Er beschloss, nicht jetzt darüber nachzudenken. Am besten nie. »Wie dem auch sei. Zumindest möchte ich meine Position nutzen, um etwas daran zu ändern und den Menschen mehr Rechte zu verschaffen. Und dafür benötige ich deine Hilfe.«
»So?«
»Kannst du mir eine Auflistung über die durch die Pachtaufstände angefallenen Mehrkosten erstellen? Ihr habt sicherlich einiges an ... Anstrengungen«, der absurde Euphemismus des Wortes ließ ihn schaudern, »unternommen, um die Kontrolle wiederzuerlangen.«
Sie seufzte. »Ich suche dir alles zusammen. Bis wann brauchst du es?«
»So schnell wie möglich. Ich wollte morgen mit Akàri sprechen.«
Myriam nickte. »Du bekommst die Unterlagen heute Nachmittag.«
»Wunderbar.«
Er erhob sich, und wollte sich förmlich verabschieden, da hob sie die Hand. »Weißt du Kaèl, ich ... bin wirklich nicht stolz auf das, was passiert ist ...«
Was du getan hast, korrigierte Kaèl sie im Geiste.
»... und ich hoffe, dass du bei deinem Gespräch mit Akàri Erfolg hast. Du bist der einzige, auf den sie hört.« Sie trat näher und drückte Kaèl kurz. »Und bitte, sei achtsam.«
Er nickte lächelnd. »Immer.«
Myriam löste sich und rümpfte beinahe unmerklich die Nase. »Du bist das. Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, was hier so riecht.«
»Wie bitte?«, fragte er perplex.
Sie kräuselte die Lippen. »Dieser süßliche Geruch ... sind das Maiglöckchen?«
»Das ist mein neues Parfum«, sagte er beleidigt. »Maiglöckchen-Patchouli.« Bendix hatte es für ihn aus dem Haufen Flakons, die Kaèl mitgebracht hatte, herausgesucht und ihm immer wieder Komplimente dafür gemacht. Kaèl sah nicht ein, sich das jetzt schlechtreden zu lassen.
»Ah ja.« Myriam lachte leise. »Wenn du das für ihn auflegst, dann bin ich mir sicher, dass dein neuer Freund ein Bürgerlicher ist.«
Verwirrt öffnete Kaèl den Mund. »Wie kommst du jetzt--«, setzte er an, dann stockte er und schnupperte irritiert an seinem Kragen. Angenehm.
»Ich sehe da überhaupt keinen Zusammenhang«, sagte er trotzig, reckte das Kinn und stiefelte hinaus. Und trotzdem stahl sich ein Schmunzeln auf seine Lippen. Es war schön, dass Myriam und er wieder so ehrlich miteinander umgingen.
oOOo
Kaèl atmete tief durch, straffte die Schultern und klopfte an die Tür.
»Herein«, hörte er Akàris Stimme.
Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt breit. Sie saß an ihrem Schreibtisch mit einem Haufen Papiere und einer Teetasse vor sich. Sie wirkte ruhig, beinahe heiter – ein gutes Zeichen. »Hast du eine Minute für mich?«, fragte er. »Wir müssen reden.«
Sie lachte. »Jetzt bekomme ich aber Angst. Dieser Satz verspricht selten etwas Gutes!«
Er zuckte entschuldigend mit den Schultern und setzte sich auf den Sessel rechts vor ihrem Tisch. »Ich habe mich in unsere Finanzen eingelesen.«
Akàri hob die Brauen. »Das ist löblich.« Sie schmunzelte. »Ist es das, worüber du reden willst? Hast du Sorge, deine Hochzeit könnte zu mickrig ausfallen?«
»Es geht um die Pachtaufstände, Mutter.«
Ihre Miene verfinsterte sich. »Was ist damit?«
»Du hattest mich vor ein paar Monaten gefragt, ob ich damit einverstanden sei. Damals habe ich zugestimmt, aber ich habe meine Meinung geändert.«
Sie nahm einen Schluck Tee. »Ist es, weil deine Statue noch nicht steht? Die ist fest eingeplant.«
»Welche Statue?«, fragte er perplex.
»Na, die, die ich dir zu deiner Erzmagiwürde versprochen hatte. Als wir über die Pacht gesprochen haben.« Sie zwinkerte ihm lächelnd zu. »Da das mit dir und Nyòko langsam etwas Ernstes wird, wäre sie eigentlich nicht mehr nötig, aber den Gefallen tue ich dir natürlich immer noch gern.«
Als hätte er nur Prunk und Protz im Kopf!
Am liebsten hätte er die Augen verdreht. Was dachte sie eigentlich von ihm? »Ich würde mich schämen, wenn du diese Statue von mir aufstellst! Wegen der Pachtaufstände sind Leute gestorben – denkst du, damit will ich mich brüsten?«
Sie wollte etwas einwenden, aber er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Ich möchte, dass du diese unselige Pacht wieder senkst. Wir benötigen keine Mehreinnahmen – die Kassen sind zum Bersten gefüllt. Unsere Landbevölkerung hingegen leidet, und die ersten fliehen aus Fukuòka, dabei sind wir auf ihre Arbeit angewiesen.«
Mit einem Seufzer stellte sie ihre Tasse ab. »Es fliehen hauptsächlich Menschen. Ich halte sie nicht auf, wenn es ihnen hier nicht gefällt. Dieses Pack bringt sowieso nur Unruhe hinein.«
»Was ihr gutes Recht ist. Im Gegensatz zu den Magi bekommen sie nichts für ihre Abgaben. Wir weigern uns seit Jahren, ihnen die Infrastruktur zu bieten, die für sie lebensnotwendig ist, unsere Garde schützt sie nicht vor Angriffen, ja, nicht einmal ihre Kinder dürfen die Schule besuchen!«
»Ja, was wollen sie auch dort?«, schnappte sie. »Sie werden doch sowieso nie zaubern lernen.«
»Lesen und Schreiben lernen, zum Beispiel. Das sollte ein Grundrecht sein, in unserer modernen Welt! Ich will, dass du in jedes Menschendorf eine Lehrkraft schickst und ihnen auch sonst die Dinge zugestehst, die sie bereits seit Jahren fordern. Nur so bekommen sie für ihre Pachtausgaben das, was ihnen zusteht.«
»Warum sollte ich das tun?«, fragte sie ungerührt.
»Allein die Frage ärgert mich«, rief er. »Was soll ich noch sagen? Sie leben hier, sie sind Teil unserer Gesellschaft, also sollten sie dieselben Rechte haben!«
Sie verschränkte die Arme. »Sie sollten dieselben Rechte haben? Die Schule besuchen? Wer hat denn unsere Schriften verbrannt? Wer hat uns gefoltert und getötet? Alles, was wir Magi uns aufgebaut haben, haben wir uns trotz ihnen aufgebaut, das Wissen, das wir unseren Kindern lehren, ist das, was wir vor ihren Scheiterhaufen haben retten können. Und jetzt sollen wir ebendieses Wissen mit ihnen teilen?« Ihr Blick bohrte sich in seinen.
»Nicht alle Menschen sind gleich«, sagte Kaèl.
Er konnte sich bei besten Willen nicht vorstellen, dass die Kinder, die mit glänzenden Augen seinen Ausführungen über Bücher gelauscht hatten, später einmal ebendiese Bücher verbrannten. Zumindest nicht, wenn sie bis dahin mit Respekt behandelt würden. »Die Menschen würden kaum hier leben, wenn sie etwas gegen Magie hätten. Sie haben eine Chance verdient, die Inquisition ist lange vorbei.«
»Das sieht deine Großmutter anders«, konterte sie. »Und ich muss ihr dabei zum ersten und einzigen Male zustimmen.« Sie rieb sich die Schläfen. »Ist das alles, worüber du mit mir sprechen wolltest?«
Großartig. Für sie war das Thema damit anscheinend vorbei.
Kaèl hatte sich das gedacht, aber es war dennoch ernüchternd. Er würde sie nicht ändern können, bei Akàri kam man mit Ethik oder Emotionen nicht weit.
Er seufzte innerlich. Dann würde er eben einfach nur das sagen, was sie hören wollte. Die einzige Sprache, die sie sprach, war die der klingenden Münze. Zum Glück hatte er sich darauf vorbereitet, auch wenn ihm die Rhetorik zuwider war. »Fein«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Wenn dich moralische Gründe nicht interessieren, dann vielleicht das.« Er legte eine neutrale Miene auf und trat zu der Schiefertafel, die an der Wand hing. »Schau«, er schrieb eine Reihe Zahlen auf, »hier haben wir die zusätzlichen Ausgaben für Myriams Graue, seit die Pachtaufstände begonnen haben.« Eine weitere Reihe folgte, diesmal in einer anderen Farbe. »Hier sind die ergänzenden Einnahmen durch die Pachterhöhung.«
Stirnrunzelnd trat sie zu ihm. »Die Einnahmen sind viel höher als die damit verbundenen Ausgaben, genau wie ich es geplant hatte. Was ist dein Punkt?«
»Hier«, er malte eine weitere Zahlenreihe dazu, »ist die Zahl der Leute, die ihren Acker verlassen haben, sei es, weil sie in die Städte gezogen sind, sei es, weil sie Fukuòka den Rücken gekehrt haben. Einige Dörfer stehen bereits leer. Noch ist Winter, und es fällt nicht auf, aber wenn die Zeit der Aussaat kommt oder die Ernte, werden wir Verluste machen, weil niemand mehr da ist, der das Land bestellt.«
»Es leben genug in diesem schönen Land, die diese Tätigkeiten mit Freuden übernehmen.«
»Eben nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Während der letzten zwei Jahrzehnte sind immer mehr Magi vom Land in die Städte gezogen, weil sie dort besser bezahlte Arbeit finden. In einigen Dörfern fehlt bereits ein Drittel der Bevölkerung. Wenn das so weiter geht, wird bald niemand mehr unsere Felder beackern und die Ernte einfahren. Die einzige Gruppe, die am Ackerbau festhält, sind die Menschen. Bereits jetzt decken sie zwanzig Prozent unserer Agrareinnahmen, Tendenz steigend.«
Sie schwieg. Aufmerksam, die Hände in die Hüfen gestützt.
Es war paradox. Je weniger überzeugt Kaèl von seinen Argumenten war, desto interessierter lauschte ihm seine Mutter. Er redete wie an der Akademie – scheinbar kühl und sachlich. Ganz so, als seien Menschen bloß Objekte, die nach ihrer Nützlichkeit bewertet werden konnten und sollten. Damals war es eine Stärke von ihm gewesen, aber da hatten sie auch nur über Magietechniken diskutiert, nicht über das Schicksal von Lebewesen. Jetzt täuschten seine Argumente eine Rationalität und Sachlichkeit vor, die es nicht geben konnte.
Er schob den Gedanken fort und sprach weiter: »Willst du sie wirklich mit der Pachterhöhung vertreiben? Wenn sich diese Tendenz fortsetzt, dann müssen wir unsere Nahrungsversorgung in wenigen Jahren durch Importe decken. Ich dachte, ein autonomes Fukuòka sei dir wichtig.«
Akàri öffnete den Mund, nur um ihn wieder zu schließen. In ihr arbeitete es, das sah er daran, wie nervös ihre Wange zuckte. Schließlich sagte sie: »Ich möchte die Unabhängigkeit Fukuòkas nicht an Menschen binden.«
Er lachte, damit er nicht weinen musste, bei so viel unbegründeten Vorurteilen.
»Was ist denn jetzt wieder, Kaèl’thas?«
»Es geht dir überhaupt nicht darum, eine möglichst erfolgreiche Politik für alle zu betreiben. Du willst einzig und allein keine Menschen hier haben. Aber weißt du was? Da mache ich nicht mit. Niemand zwingt mich, dieses alberne Amt zu übernehmen!«
»Kaèl’thas!« Ihre Stimme klang scharf wie Nadelspitzen.
»Ja was?«, schnappte er. Er war jetzt so wütend, dass er seine vorher einstudierten rhetorischen Muster mit Freuden links liegen ließ. »Deine Argumente sind nicht zielführend«, wetterte er, »sie dienen einzig dem Zweck, die Menschen auszuschließen. Dabei schlittern wir so in ein nie da gewesenes Erntedefizit hinein!«
Sie machte eine verächtliche Geste. »Du vergisst unsere Magie. Durch Wärmezauber sind die Magi bereits jetzt ein Drittel effizienter als die Menschen, da sie die Früchte später abernten und früher mit der Saat beginnen. Und, wie du sicherlich weißt, entwickelt sich die Magiekunde rasant. In wenigen Jahren werden unsere Bäuer*innen eine Lösung für dieses Problem an der Hand haben.«
Er lachte bitter. »Ach ja, die ewige Mär der Magietechnik, die alles richtet. Wer sagt dir, dass die Zauber sich ›rasant entwickeln‹?«
»Ich sehe, was sich in den letzten Jahren getan hat, da–«
»Unfug!«, unterbrach er sie und war von seiner eigenen Frechheit überrascht. Er hatte sich noch nie getraut, seiner Mutter so offen zu widersprechen, aber er hielt ihre Ignoranz nicht mehr aus. Schließlich hatte er sich jahrelang interdisziplinär an der Akademie weitergebildet, nicht sie. »Das mag auf die Zerstörungsmagie, vielleicht noch alltagsmagische Dinge wie Hologrammzauber zutreffen, aber so gut wie niemand betreibt Forschung an Agrarmagie. Das Feld ist tot, seit Jahren werden immer nur die zwei traurigen Koryphäen zitiert, die sich direkt nach dem großen Krieg einen Namen gemacht haben. Und denkst du, unsere Bäuer*innen haben die Zeit, neben der Arbeit noch die Wissenschaft voranzutreiben?«
»Dann«, knurrte sie, »sieh das als deine neue Aufgabe an, wofür bist du im Rat der Zwölf?«
»Behandele die Menschen besser, dann ist das nicht notwendig!«
Sie schnaubte, das Geräusch ging ihm durch Mark und Bein. Kaèl vermied es, ihr ins Gesicht zu sehen, wahrscheinlich war sie fuchsteufelswild.
Er ballte die Faust. Egal was sie tat, er würde nicht von seinen Standpunkten abweichen, die Logik war auf seiner Seite. »Zuviel magische Bewirtschaftung laugt die Böden auf lange Sicht aus. Es gibt etliche Studien, die das zeigen. Wir müssen langfristig denken, wenn wir Politik betreiben wollen, die unserem Land zu Gute kommt!«
Jetzt wagte er es doch, den Blick zu heben. Akàri wirkte nicht angespannt, oder wütend. Sie lehnte sich zu ihm und lächelte.
Sie ... lächelte?
»Was ...?«, fragte er verblüfft. »Warum lächelst du? Wir sind mitten in einem Streit!«
»Einer Diskussion«, korrigierte sie. Ihr Lächeln wurde breiter. »Komm, wir drehen eine Runde durch den Lustgarten.«
Verdattert folgte er ihr ins Ankleidezimmer, wo sie sich die Mäntel anlegen ließen. Mit einer Geste gab sie den Bediensteten zu verstehen, dass sie ihre Ruhe benötigten.
Akàri atmete tief durch, als sie nach draußen traten. Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her, dann sagte sie: »Ich hatte immer befürchtet, dass du nach deinem Vater schlägst. Du warst so uninteressiert an Politik. Aber mir gefällt, mit wie viel Leidenschaft du nun dabei bist.« Sie lächelte versonnen. »Auch wenn ich nicht alle deine Meinungen teile, so akzeptiere ich doch deine logischen Argumente. Du bist erfreulich informiert und dir scheint die Zukunft Fukuòkas am Herzen zu liegen.«
»Ich ...« Mehr brachte er nicht heraus. Er war sprachlos.
»Deshalb gebe ich dir eine Chance. Dafür wirst du mir bis nächste Woche einen genauen Plan vorlegen, welche Änderungen durchgeführt werden sollen, und wie viel uns das kostet. Und wenn dir dieser Menschenunterricht so am Herzen liegt, dann verlange ich einen Lehrplan.«
Er atmete auf. »Danke, Mutter. Ich werde mein bestes geben.«
»Daran habe ich keinerlei Zweifel.« Sie hielt vor einem Beet voller rot-orangener Tulpen, pflückte ein besonders grässliches Exemplar und hielt es ihm hin. »Sind die nicht wundervoll? Ein Strauß davon würde sich hervorragend in deinem Salon machen.«
Er verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht, Mutter. Diese Schreifarben!«
»Wieso«, fragte sie und lächelte spöttisch. »Sie harmonieren mit deinem neuen Parfum.«
»So schlimm?«
»Der Geruch geht mir seit Ewigkeiten nicht aus der Nase.«
Kaèl seufzte. Vielleicht hätte er doch nicht auf Bendix hören sollen. Schließlich hatte Bendix noch nie in seinem Leben Parfum besessen, noch kannte er Leute, die welches benutzten. Aber er war so niedlich in seiner Begeisterung darüber gewesen, dass Leute ›auch nach Blumen riechen‹ konnten, dass es Kaèl mitgerissen hatte.
»Ich verstehe ja, dass jede Generation andere Schwerpunkte setzt, als die vorherige, aber wie du auf dieses Menschenthema kommst, ist mir schleierhaft. Ich bin, was das angeht ja noch tolerant, aber Alùna und dein Vater werden kein Verständnis aufbringen.« Sie senkte die Stimme. »Daher bleibt das unter uns.«
Erleichtert nickte er. »Danke, Mutter.«
»Wer hat dir diese Idee in den Kopf gesetzt?«
»Nyòko«, sagte er lächelnd. »Sie ist fortschrittlich eingestellt und wir hatten viel Zeit, über derlei Dinge zu sprechen.«
»Ach, das hätte ich mir denken können. Da kommt sie ganz nach ihrem Vater.« Akàris Augen nahmen den verträumten Ausdruck an, den sie immer hatten, wenn sie von Ludòiku erzählte. »Als ich noch nicht verheiratet war, waren wir beide glühende Verfechter*innen des Schulrechts. Zu der Zeit hatten viele Leute der einfachen Bevölkerung keinen Zugang zu Bildung, und Ludò und ich sahen es gerade nach den Unterdrückungen durch die Menschen als unsere Pflicht an, alle die zu fördern, die ihre Fähigkeiten ausschöpfen wollen.«
Zu Kaèls Entsetzen schlug sie den Weg ein, der zum Rosenlabyrinth führte. Nach dem letzten Ball wurde er immer noch von verstörenden Erinnerungsfragmenten daran heimgesucht.
»Ein Land wie unseres benötigt gut ausgebildete, selbstständig denkende Leute«, redete Akàri munter weiter, während Kaèl auf die Rosen starrte, die rechts und links von ihm rankten. Diesmal bewegten sie sich nicht, und alle waren so rot, wie Nyòko behauptet hatte. »Als ich die Macht übernommen habe, habe ich als Erstes ein allgemeines Schulrecht eingeführt. Seitdem war Bildung nicht mehr an den Adelsstand gebunden, sondern stand allen zu. Damit war Fukuòka lange Zeit Vorreiterin in Finistère.«
»Das hast du nie erzählt.«
Sie runzelte die Stirn. »Es gab viel Widerstand in der Adelsschicht und mit Alùna hatte ich es mir nach dieser Entscheidung verscherzt. Seitdem legt sie mir bei allem, was ich tue, Steine in den Weg.« Sie hob hilflos die Arme. »Wer weiß, vielleicht habe ich durch die freie Schulbildung sogar die Landflucht verursacht, die unserem Land zu schaffen macht. Dennoch bereue ich meine Entscheidung nicht.« Sie musterte ihn ausgiebig. »Mein Goldstück, du bist so sensibel. Für Projekte dieser Art musst du dir ein dickeres Fell zulegen.«
»Ich glaube, ich habe in der letzten Zeit einiges gelernt«, sagte Kaèl.
Er schauderte.
Dazugelernt hatte er. Er wusste nur nicht, ob er glücklich darüber sein sollte.
oOOo
Zurück in seinen Gemächern ließ Kaèl sich in seinen Lieblingssessel sinken. Während Mister Taryòn eine Decke über ihm ausbreitete, wirkte er den Hologrammzauber.
Yùnas Gesicht erschien bläulich verzerrt vor ihm. »Kaèl, was ist los?«
»Guten Abend Yùna. Ich sollte dich doch über Neuigkeiten informieren.« Er atmete tief durch, um seine Worte abzuwägen, und beschloss, mit dem Positiven anzufangen: »Fukuòkas Menschen werden gesetzlich den Magi gleichgestellt, sie bekommen Finanzhilfen und Schulbildung, zumindest eine Lehrkraft pro Dorf. Akàri hat mir gerade die Zusage für meine Forderungen gegeben. Jetzt liegt die Ausführung an mir.«
Ihre Augen leuchteten auf. »Unglaublich. Sprechen wir hier von derselben Akàri Hotàru, die mir öffentlich an den Kopf geworfen hat, dass ich eine ›verblendete Närrin‹ sei, weil ich eine Menschenquote in meiner Verwaltung eingeführt habe?«
Er nickte finster.
»Wieso wirkst du dann nicht zufrieden?«
»Weil …«, hilflos zuckte er mit den Schultern, »ich all das nur habe durchsetzen können, indem ich maximal herzlose Argumente gebraucht habe.«
Sie runzelte die Stirn. »Die da wären?«
»Ich habe Mutter – korrekterweise – aufgeführt, dass unser Land finanziell besser gestellt ist, wenn die Menschen bleiben, und dass sie langfristig nur bleiben, wenn wir ihnen Anreize dafür geben, wie zum Beispiel die Schulbildung.«
»Und das siehst du als Problem an?«
»Ja, denn …«, Kaèl studierte seine Handflächen, »diese Dinge, die ich durchgesetzt habe, sollten ein Grundrecht aller Mitglieder der fukuòkaschen Gesellschaft sein. Aber durch meine Argumentation habe ich die Rechte der Menschen an Bedingungen geknüpft. Ich habe ein unwohles Gefühl dabei. Was ist, wenn sich diese Bedingungen oder unsere Bedürfnisse ändern? Kann man ihnen diese Rechte dann wieder wegnehmen? Allerdings …«, er seufzte tief, »war das der einzige Weg, hier überhaupt etwas zu verändern.«
»Ich verstehe.« Yùna schwieg eine Weile, dann lächelte sie milde. »Manchmal heiligt der Zweck die Mittel. Mit etwas Glück ändert sich die Grundstimmung, wenn es mehr ebenbürtigen Kontakt zwischen Menschen und Magi bei euch gibt. Zumindest war das bei uns so. Heutzutage würde hier in Aomòri niemand mehr die Rechte der Menschen in Frage stellen.«
»Ja?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Ganz sicher. Es braucht nur seine Zeit. Warte nur ab, bis die ersten Menschen sich an den Akademien bewerben.«
Er lächelte. Yùna hatte recht.
Vielleicht war das der Beginn von etwas Großem.