»Warum hast du mich hierhergerufen?«, fragte Kaèl. Er war müde, eine Müdigkeit, die tief in seinen Knochen steckte. Er wollte nicht hier in Akàris Büro sein, er wollte im Bett liegen und über den Schmerz hinwegdämmern.
Akàri blätterte in einer Akte. »Ich habe dein Schulprojekt gestrichen«, sagte sie wie beiläufig. »Ich halte es nicht mehr für vertretbar, nach Nyòkos Ermordung.«
Sofort war er hellwach. »Wie meinst du das? Gerade Nyòko hat dieses Projekt unterstützt!«
»Du siehst, was ihre Menschenliebe ihr gebracht hat!«
Kaèl ballte die Fäuste. »Was haben die Menschen Fukuòkas damit zu tun?«
»Hast du in den letzten Tagen in eine Zeitung geschaut? Die Magi haben genug von den Menschen!«
Was sollte er dazu sagen?
Akàri hatte recht, die Stimmung im Land war gekippt. Jeden Morgen hatte er sich von Mister Taryòn die Zeitungen ans Bett bringen lassen, musste sie aber nach kurzer Lektüre zuklappen. Sie strotzten vor menschenverachtender Artikel und Hetzschriften, es war mehr, als er ertragen konnte.
Akàri hätte diese Entwicklung verhindern können. Wenn sie sich als Landesherrin vor die Menschen gestellt und sie vehement verteidigt hätte, dann hätte sie den Hass im Keime erstickt.
Nichts dergleichen hatte sie getan. Sie hatte abgewartet und zugeschaut, wie die Welt um sie herum brannte.
Und er … er war zu betäubt gewesen, um etwas daran zu ändern. Sie waren seit mehr als einer Woche wieder zurück. Eine Woche war vergangen, in der er sich Tag für Tag im Bett gesuhlt und selbst bemitleidet hatte.
Jetzt verfluchte er sich für seine Untätigkeit. Mehr noch, er hätte von Anfang an anders für die Menschen einstehen müssen. Er hätte sich nie auf Akàris Niveau herablassen, und sie als eine Art bessere ›Nutztiere‹ präsentieren dürfen, nur um konfliktarm seine Ziele durchzusetzen. Und selbst davor … es hatte in seinem Leben so viele Momente gegeben, in denen er zu derlei Themen geschwiegen hatte, sei es aus selbstgewählter Ignoranz, sei es aus Angst.
Warum bin ich nur so feige?
Kaèl atmete tief durch. Selbstmitleid half jetzt nicht, mehr noch, es stand ihm nicht zu. »Wir können das ändern«, sagte er mit fester Stimme.
Ja, versuchte er, sich Mut zuzusprechen. Es ist noch nicht zu spät. Wir müssen nur –
»Du weißt also, wie die Stimmung im Land ist?«, zerschnitt Akàri seine Gedanken.
Kaèl nickte widerwillig.
»Ich habe mich eine Zeitlang mitreißen lassen, und deine Menschenprojekte gefördert, weil du so euphorisch warst. Aber ich bereue es. Ich möchte diese Subjekte nicht mehr in meinem Land ertragen.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte er scharf.
Sie zuckte mit den Schultern. »Sie haben hier nichts verloren. Sollen sie zurückgehen, wo sie herkommen.«
Kaèl griff sich an den Kopf. »Sie leben seit Jahrzehnten hier. Sie gehören hier hin, und nirgendwo anders.«
»Kaèl’thas. Ich bin es leid. Ich warte seit einer halben Ewigkeit darauf, dass Serèika endlich auf die Bedrohung aus Dinstermor reagiert. Jetzt wurde ihre Tochter ermordet, und was tut sie? Nichts! Was muss noch passieren, dass sie endlich handelt?«
»Ich finde es vernünftig«, sagte er betont ruhig, »dass die Herrscherin Finistères nicht aus dem Affekt heraus handelt, sondern abwartet, bis sie wieder in der Lage ist, Entscheidungen zu fällen!«
Akàri erhob sich von ihrem Tisch, und trat ans Fenster. »Weißt du«, sagte sie, ohne ihn anzusehen, »Ludò ist so eine fröhliche und offene Person, er strahlt heller, als alles, was ich in meinem Leben gesehen habe. Das haben früher viele ausgenutzt. Ich habe ihn mein Leben lang verteidigt, schon damals, als wir klein waren. Ihn jetzt so zu sehen …« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist, als wäre sein Licht erloschen. Ich weiß, es ist nicht meine Aufgabe, aber wenn Serèika darin versagt, dann werde ich es eben wieder tun.« Sie drehte sich zu ihm, die Augen zu Schlitzen zusammengepresst. »Ich werde den Menschen nichts mehr durchgehen lassen. Keinem von ihnen.«
Kaèl lief es kalt den Rücken hinunter. »Was meinst du damit?«
»Ich werde nicht eher ruhen, bis alle Menschen aus unserem schönen Land verschwunden sind. Und wenn ich ihre Hütten höchstpersönlich anzünde!«
»Mutter!«, rief er. »Das ist absurd! Die Menschen Fukuòkas haben mit dem Verbrechen nichts zu tun!«
Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, das Gesicht rot angelaufen. »Wie redest du mit mir, Kaèl’thas?«
Er senkte den Blick. Wenn sie in dieser Stimmung war, waren Widerworte zwecklos. »Verzeih mir, Mutter.« Er ballte verdeckt eine Faust unter dem Tisch. »Bitte«, fügte er hinzu. »Gib mir ein wenig Zeit, ich rede mit den Menschen. Sie werden freiwillig gehen, du musst ihre Dörfer nicht niederbrennen lassen.«
»Du hast vier Wochen«, sagte sie kalt. »Und jetzt geh. Ich habe anderweitig zu tun.«
Aufgewühlt schlurfte er zurück in seine Gemächer. Wie naiv war er gewesen? Vielleicht hatte Bendix mit seinen Vorwürfen doch nicht gänzlich Unrecht gehabt. Als seine Mutter damals die Pachtaufstände hatte niederschlagen lassen, hatte Kaèl sich das als eine Reaktion auf die Aufstände schöngeredet – wenn auch eine verachtenswürdige. Ihre Pläne jetzt konnte er sich nicht mehr schönreden. Es war Gewalt an einer schutzlosen Minderheit.
Vielleicht hätte er eindringlicher mit ihr diskutieren sollen, aber dafür hatte ihm die Kraft gefehlt. Und womit hätte er ihr drohen können? Nyòko nicht zu heiraten? Er hatte nichts mehr gegen sie in der Hand.
Vier Wochen war eine verdammt kurze Zeit. Jetzt konnte er nur noch versuchen, zu retten, was er retten konnte.
Im Salon angelangt ließ er sich in seinen Sessel fallen. Erschöpft rieb er sich die Augen, da stieg ihm ein süßlicher Duft in die Nase. Auf dem Tischchen neben ihm dampfte eine Tasse Tee, daneben stand die mit Kranichen verzierte Porzellankanne und eine üppig mit Ingwerkeksen gefüllte Schüssel.
Mister Taryòn stellte ihm immer einen Fencheltee hin, wenn Kaèl von einem Gespräch mit seiner Mutter kam. Er hatte irgendwann damit angefangen, als er bemerkt hatte, wie aufgewühlt Kaèl diese Gespräche hinterließen und seitdem war es ihr persönliches Ritual geworden. Die vielen Kekse, die dabei standen, waren ein Novum, aber in letzter Zeit versuchte Mister Taryòn ständig, ihn zum Essen zu animieren. Kaèl neigte dazu, derlei Dinge zu vergessen, wenn es ihm nicht gut ging.
Er blickte zu Mister Taryòn, der am Fenster stand. »Holen Sie sich am besten auch eine Tasse. Wir müssen etwas besprechen.«
»Mylord?«
Kaèl machte eine auffordernde Bewegung und Mister Taryòn beförderte telekinetisch eine Tasse aus der Vitrine und schenkte sich einen Tee ein. Es sah unbehaglich aus, wie er dastand, die Tasse in der Hand.
»Es gibt schlechte Nachrichten«, sagte Kaèl. »Sie können hier nicht bleiben.«
Mister Taryòns Hand krampfte sich um den Henkel seiner Tasse. »Wie bitte?«
»Meine Mutter verlangt, dass alle Menschen innerhalb von vier Wochen das Land verlassen.« Er seufzte tief. »Ich hasse es, das zu sagen, aber wenn Sie hierblieben, wäre es zu gefährlich für Emma und die Kleine.«
Mister Taryòn ließ sich in den nächsten Sessel fallen. »Nein«, sagte er matt.
»Sie stammen von hier?«
»Emma und ich, ja. Unsere Familien wohnen eine halbe Stunde Fußmarsch vom Schloss entfernt.«
»Ich verstehe, dass das ein Schlag für Sie ist. Aber wenn meine Mutter sich etwas in den Kopf gesetzt hat, hält sie niemand auf.« Kaèl rang die Hände. »Ich … habe es versucht.«
»Das glaube ich Ihnen, Mylord.« Mister Taryòn leerte seine Tasse, als stürzte er einen Schnaps herunter. »Aber … wo sollen wir hin? Hier ist unsere Heimat.«
»Ich wollte Sie an eine der anderen Adelsfamilien vermitteln. Ich kenne die Leute, und ich weiß, wer aufgeschlossen Menschen gegenüber ist. Für Ihre Familien könnte ich sicherlich auch etwas organisieren.«
Mister Taryòn fuhr sich durchs Gesicht.
Kaèl hatte ihn erst einmal so aufgewühlt erlebt, und das war, als der Hexenjäger ihre Kutsche attackiert hatte. Mister Taryòn tat ihm leid, er musste ihn irgendwie beruhigen.
Kaèl zwang sich zu einem Lächeln. »Es kämen die Taìfus oder die Macalisters in Frage, oder die Midòris, alle würden Sie sicherlich mit Freuden einstellen, wenn sie mein Empfehlungsschreiben gelesen haben. Bei den Taìfus ist es am schönsten … das Wetter ist angenehm, und Sie kennen ja Rubìnia, ich mag mich damals über sie beklagt haben, aber eigentlich ist sie nett und anständig. Ein bisschen anstrengend vielleicht, aber wahrscheinlich viel weniger als ich und –«
»Mylord«, unterbrach ihn Mister Taryòn. »Beruhigen Sie sich. Ich weiß Ihr Engagement sehr zu schätzen.« Er lächelte, und Kaèl entspannte sich ein wenig.
»Ich wünschte, ich könnte mehr tun.«
»Sie tun alles, was Sie können. Es … ist nur gerade etwas viel. Wie viel Zeit habe ich, um mich zu entscheiden?«
»Ungefähr drei Wochen.«
Mister Taryòn nickte. »Dann werde ich heute mit Emma darüber sprechen.«
»Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen. Ich stelle Sie für den Rest des Tages frei.«
»Danke, Mylord.« Mister Taryòn erhob sich und räumte die Sachen zusammen. Mit einem Kopfnicken wies er auf das Tablett mit den Teetassen in seiner Hand. »Wer kümmert sich darum, wenn ich Ihr Angebot annehme?«
»Ach Mister Taryòn«, sagte Kaèl mit einem Seufzer. »Niemand wird Sie je ersetzen können. Jetzt gehen Sie, sonst werde ich noch sentimental!«
Mister Taryòn verbeugte sich, und verschwand aus der Tür.
Emma und er entschieden sich für die Taìfus, und Kaèl hatte das merkwürdige Vergnügen, zum ersten Mal in seinem Leben eine Ex kontaktieren zu müssen.
Zum Glück war Rubìnia reifer und weniger nachtragend, als Kaèl es in den vier Jahren Beziehung je gewesen war. Sie erinnerte sich sogar an Mister Taryòn und sicherte Kaèl zu, ihn und seine Familie nicht nur aufzunehmen, sondern sich auch persönlich um ihre Sicherheit zu kümmern.
Erleichtert beendete er das Gespräch.
Kaèl trat ans Fenster und starrte nach draußen, in die Dunkelheit. Er entzündete die Kerze, die auf dem Fensterbrett stand. Nyòkos Kerze.
»Weißt du Nyòko«, sagte er leise. »Ich denke, Mister Taryòn wird es bei den Taìfus gut haben. Besonders Emma wird aufatmen können. Dort muss sie sich nicht so verstecken wie hier.« Er lächelte. »Es ist verrückt, ich habe Rubìnia während unserer Beziehung viel vorgeworfen – ich fand sie laut, schwatzhaft und nervig – aber eigentlich ist sie doch eine ganz formidable Person.«
Die Flamme flackerte.
»Ja ja, ich weiß, was du jetzt sagen würdest«, murmelte er. Er formte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »›Wie man in den Wald ruft, so schallt es hinaus‹.«
Er wandte der Kerze den Rücken zu und suchte sich ein Schlafgewand heraus.
Wieso mussten Nyòko und Bendix eigentlich immer recht haben? Und wie sollte er ohne ihre scharfen Kommentare auskommen? Die beiden waren sein Kompass gewesen, und jetzt musste er das Schiff ohne Hilfe durch den Sturm navigieren.
oOOo
Ein paar Verbündete blieben ihm noch. Kaèl erinnerte sich daran, dass Yùna Midòri ihm kurz nach Nyòkos Tod geschrieben und ihre Unterstützung angeboten hatte. Damals hatte er nicht die Kraft gehabt, sich zu melden. Er hoffte, dass es jetzt nicht zu spät war.
Er wirkte den Hologramm-Zauber. Zu seiner Erleichterung flackerte nach wenigen Sekunden Yùnas Bild bläulich vor ihm auf. Sie saß in ihrem Büro an dem polierten Schreibtisch.
»Kaèl«, sagte sie überrascht. »Wie geht es dir?«
»Darüber sprechen wir besser ein andermal«, sagte er ausweichend. Was hätte er ihr auch sagen sollen? Er fühlte so gut wie nichts mehr. Vielleicht war er zu erschöpft, um traurig zu sein.
»Mich interessiert, wie die Stimmung in Aomòri ist«, fuhr er fort. »Hier werden die Stimmen lauter, dass die Menschen an allem Schuld sind. Beobachtest du in Aomòri Ähnliches?«
Sie lächelte. »Zum Glück nicht. Dafür leben die Menschen und Magi hier zu eng miteinander, um derartige Schuldzuweisungen zu machen. Außerdem achten wir darauf, dass solche Ideen gar nicht erst aufkommen.«
»Ich wünschte, ich könnte dasselbe von meiner Mutter behaupten«, sagte er bitter. »Aber sie plant, die Menschen aus Fukuòka zu jagen. ›Zurück nach Dinstermor‹, wie sie es nennt.« Er lachte ungläubig. »Viele von ihnen kennen Dinstermor überhaupt nicht mehr. Sie gehören hierher.«
»So etwas hatte ich nach Nyòkos Tod befürchtet«, sagte sie seufzend.
»Alles, wofür ich gekämpft habe, geht den Bach herunter. Die Kinder haben gerade begonnen, Lesen zu lernen. Sie haben ihre ersten kleinen Aufsätze geschrieben. Ich dachte wirklich, es ginge bergauf.«
Sie nickte verständnisvoll. »Und Akàri lässt nicht mit sich reden?«
Er schüttelte den Kopf. »Und ich fürchte, dass ich es mit meiner Politik nicht besser gemacht habe. Meine Argumente, um Mutter zu mehr Menschenrechten zu bewegen, waren nur darauf ausgerichtet, den Menschen einen Nutzen zuzuschreiben. Jetzt ist es ihr ein Leichtes, ihnen genau denselben wieder abzusprechen.«
»Ach, Kaèl.« Sie blickte ihn mitleidig an. »Ich glaube nicht, dass du etwas hättest anders machen können. Leider ist Politik so. Man muss den anderen etwas schmackhaft machen, um seine Ziele durchzusetzen.«
»Nein«, sagte er. »Nicht bei Grundrechten. Die sind nicht verhandelbar.«
Dazu schwieg Yùna. Sie wirkte nachdenklich.
»Ich hätte es anders aufziehen müssen«, redete er weiter. »Unsere Bevölkerung für Menschenrechte sensibilisieren müssen. Ich hätte –« Er stieß die Luft aus. »Ach, verdammt!«
»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte sie leise. »Aber jetzt kannst du es nicht mehr ändern. Die Frage ist, was kannst du noch tun?«
»Deshalb rufe ich an. Ich will nicht, dass die Menschen hier in ein Armutsgebiet ziehen, in dem niemand sie haben will, und da dachte ich …« Er fuhr sich durchs Haar. »Gibt es für sie in Aomòri einen Platz?«
»Bei uns? Von wie vielen Menschen redest du?«
»Etwa Siebenhundert.«
Yùna pfiff durch die Zähne. »Siebenhundert Menschen … das ist –«
»Ich habe mich in die Aomòrische Infrastruktur eingelesen«, sagte er schnell. »Eure Generalsekretärin war so freundlich, mir vorgestern die wichtigsten Informationen zukommen zu lassen. Es gibt einige beinahe leerstehende Dörfer im Süden des Landes und …« Kaèl brach ab, weil Yùna breit lächelte. »Was ist daran so lustig?«
»Du erklärst mir, welche Zustände in Aomòri vorherrschen?«
»Nein, das nicht, ich las nur, dass es vor kurzem wieder eine Auswanderungswelle aus dem Süden gegeben hat, und da hatte ich überlegt, dass die Menschen dort unterkommen könnten. Sie sind handwerklich geschickt und werden kaum Hilfe benötigen, sofern sie das umliegende Land beackern dürften. Und das liegt seit zwei Jahren sowieso brach.«
Sie kicherte. »Da hat aber jemand seine Hausaufgaben gemacht!«
Er errötete. »Das sollte nicht belehrend wirken, es ist nur eine alte Angewohnheit von der Akademie.«
»Das sollte kein Vorwurf sein. Ich bin lediglich erstaunt, wie anders du geworden bist, seit deinem Besuch.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe mich die letzten Monate mit den unterschiedlichsten Räten herumgeärgert, das prägt.«
»Kaèl, ich bin auf deiner Seite. Gib mir eine Woche, und ich werde die Dinge in die Wege geleitet haben.«
Er atmete auf. »Eine Sache noch. Die Kinder wären in Aomòri schulpflichtig, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Ein Teil ihrer Lehrkräfte hat das Interesse geäußert, sie weiter zu unterrichten. Die Kinder haben sich an sie gewöhnt, ich denke, es würde ihnen helfen, wenn sie von vertrauten Personen unterrichtet würden.«
Sie lachte. »Natürlich können die Lehrkräfte ihre Arbeit bei uns fortführen. Das ist mein kleinstes Problem.«
»Wunderbar. Du hast keine Vorstellung, wie dankbar ich dir bin!«
»Oh, die habe ich. Aber keine Sorge, ich werde auf diese Dankbarkeit zurückkommen, wenn du Lord Fukuòkas bist.«
»Wenn ich Lord Fukuòkas bin, hast du einiges bei mir gut«, sagte er voller Inbrunst.
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Nachdem Lady Midòri ihm ihre Zustimmung gegeben hatte, versuchte Kaèl, die Menschen davon zu überzeugen, nach Aomòri zu ziehen. Er reiste von Dorf zu Dorf, redete sich um Kopf und Kragen, aber ihm schlug nur Misstrauen entgegen. Die Leute glaubten ihm nicht, dass sie in Gefahr waren.
›Die werden sich schon wieder beruhigen‹, hieß es. Und: ›Wir haben doch nichts damit zu tun, das müssen sie doch einsehen!‹
Als von den vier Wochen Gnadenfrist nur noch zwei blieben, gab er auf und bestellte Kasimir zu sich.
Er hatte bislang vermieden, mit Kasimir zu sprechen. Er war Bendix’ Freund, sicherlich wusste er, dass Bendix und er Schluss gemacht hatten. Wahrscheinlich gönnte er es Kaèl sogar, er hatte ihre Beziehung immer kritisch beäugt.
All das ging ihm durch den Kopf, als Kasimir ihm gegenüber saß, aber er drängte die Gedanken fort. »Ich benötige Ihre Hilfe«, begann er ohne Umschweife. »Sie sind angesehen in Ihrem Dorf und haben viele Kontakte. Sie müssen Ihren Freund*innen dort klarmachen, dass sie nicht bleiben können.« Er seufzte. »Glauben Sie mir, ich wünschte, es wäre anders, aber meine Mutter hat ihre Entscheidung getroffen und meine Großmutter ist in dem Punkt zum ersten Mal einer Meinung mit ihr.«
»Wie halten Sie es mit dieser Familie aus?«, fragte Kasimir. Seine ruhigen braunen Augen fixierten ihn.
»Ich …« Die Frage brachte Kaèl aus dem Konzept. Er rieb sich die Schläfen. »Ich denke, dass ich in meiner Position einiges verbessern kann. Und ich hoffe, dass Mutter irgendwann wieder zur Vernunft findet, wenn die erste Enttäuschung abgeklungen ist.«
Kasimir nickte langsam. »Viel Erfolg dabei.« Es klang bitter. »Sie wollen also, dass ich die anderen davon überzeuge, in ein für sie völlig fremdes Land zu ziehen?«
»Ich habe mit der Landesherrin dort gesprochen. Sie sind willkommen. Die Kinder können weiter in die Schule gehen, es gibt genug zu Essen und fruchtbares Land. Ich bin davon überzeugt, dass diese Option besser ist, als nach Dinstermor zu flüchten.« Er schauderte. »Und sicherlich bei weitem besser, als hier auszuharren.«
Kasimir verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihnen ist bewusst, dass in wenigen Wochen Erntezeit ist? Darauf haben die Leute das ganze Jahr hingearbeitet, und das werden sie verständlicherweise nicht aufgeben wollen. Wieso lassen Sie sie die Ernte nicht einfahren?«
»Ich habe es nicht in der Hand!«, rief Kaèl gequält. »Sie müssen in zwei Wochen hier raus, meine Mutter und Myriam spaßen nicht! Sie haben bereits vor einem Jahr zwei Menschendörfer niederbrennen lassen und sie werden jetzt vor nichts zurückschrecken. Die politische Lage hat sich nach dem Mord der Kronprinzessin derart verändert, dass sie jetzt nicht einmal mehr einen Grund vortäuschen müssen, um das zu tun.«
Kasimirs Augen weiteten sich. Lange Zeit sagte er nichts, dann nickte er langsam. »Ich verstehe.«
»Was die verpasste Ernte angeht: Fragen Sie die Leute, an was es ihnen dadurch mangelt, sicherlich kann ich das kompensieren.«
Kasimir deutete eine Verbeugung an und stapfte zur Tür.
»Wie geht es Bendix?«, entfuhr es Kaèl, als er fast aus dem Raum war.
Kasimir blieb stehen. Langsam drehte er sich wieder um.
Am liebsten hätte Kaèl sich auf die Zunge gebissen. Warum musste er sich ausgerechnet vor diesem Griesgram die Blöße geben?
Er rechnete mit einem spöttischen Kommentar, aber zu seiner Überraschung blieb Kasimirs Gesicht ernst. »Wie soll es ihm gehen?«, fragte er. »Es ist schwer für ihn. Er war so glücklich mit ihnen, und jetzt …« Ein scheuer Blick. »Ach, was rede ich! Das wollen Sie sicherlich gar nicht hören! Es … wird schon wieder«, fügte er mit einem aufgesetzten Grinsen hinzu.
»Es wird schon wieder«, wiederholte Kaèl mechanisch.
Wie oft hatte er sich diesen Satz gesagt. Jede Nacht sagte er es sich, wenn er vor Verzweiflung nicht schlafen konnte, nur dass es nichts brachte.
»Na dann«, sagte Kasimir.
Am liebsten hätte Kaèl ihn aufgehalten und über Bendix ausgefragt. Mit seinem letzten Rest Selbstbeherrschung drängte er die Worte zurück, die auf seiner Zunge brannten. Er zwang sich zu einem freundlichen Nicken, und Kasimir trat hinaus.
oOOo
Ein paar Tage später klopfte es an seiner Tür. Davor standen Mister Taryòn, Emma und ein kleines Mädchen, das Mister Taryòns Hand umklammerte.
Die Kleine fixierte Kaèl mit festem Blick. »Du siehst gar nicht aus wie ein Pfau!«
»Milèna!«, rief Mister Taryòn entsetzt. »Das ist Lord Hotàru und kein Pfau!«
»Aber du nennst ihn doch immer–«
Mister Taryòn errötete bis an die Ohrenspitzen. »Milèna!«
Kaèl verschränkte die Arme vor der Brust. »So so«, sagte er. »Ich bin also ein Pfau.« Er versuchte, ernst zu schauen, aber seine Mundwinkel zuckten verräterisch nach oben.
»Entschuldigen Sie bitte meine Tochter«, sagte Mister Taryòn. »Wir sind alle sehr aufgeregt, unsere Kutsche wartet bereits draußen auf uns.«
Kaèls Lächeln gefror. »Sie fahren schon heute?«
»Leider ja, Mylord.« Emma trat vor. »Ich habe noch eine Kleinigkeit für Sie gebastelt. Als Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit.« Sie hielt ihm ein kleines, in blaues Seidenpapier gewickeltes Bündel hin.
Vorsichtig nahm Kaèl es in die Hand. Es wog fast nichts. Er entfernte die Schleife und wickelte das Papier auf. »Ein Eichhörnchen«, sagte er verblüfft.
Sie lachte. »Es ist eine Haarspange.«
Kaèl drehte sie bewundernd zwischen den Fingern. Emma hatte darauf ein Eichhörnchen gestickt, das in einem blühenden Kirschbaum saß. »Bendix würde es lieben«, entfuhr es ihm. Er errötete. »Nicht, dass das von Wichtigkeit wäre.«
Beim Wort ›Bendix‹ wirkte Mister Taryòn schnell einen Stillezauber.
»Vielleicht sollten Sie noch mal mit Ihrem Hexenjäger sprechen«, sagte Emma. »Er war doch ein netter junger Mann. Sicherlich bereut er längst, was er getan hat.«
Kaèl schluckte schwer. »Nein«, sagte er nach einer Weile. »Das ist keine gute Idee.«
»Mein Mann und ich machen uns nur Sorgen um Sie. Sie sind so allein.«
Er zwang sich zu einem Lächeln, nahm Emmas Hand und drückte sie. »Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich komme schon wieder auf die Füße.«
Sie musterte ihn, als glaube sie ihm kein Wort.
Kaèl war der Blick unangenehm. »Warten Sie einen Moment!« Er schritt ins Arbeitszimmer, wischte sich die feuchten Augen und holte das Goldsäckchen, das er in seinem Pult deponiert hatte.
»Das ist für Sie«, sagte er, als er wieder zurück war und drückte es Mister Taryòn in die Hand. »Damit werden Sie sich und Ihren Eltern ein behagliches Heim einrichten können.«
»Aber Mylord«, sagte Mister Taryòn reflexartig, »das kann ich nicht anneh –«
»Àrnor«, sagte Emma scharf, und er verstummte.
»Dann sind wir uns ja einig«, sagte Kaèl und zwinkerte Emma zu. »Das steht Ihnen zu. Sie haben damals Ihr Leben riskiert, nur um mir meinen Mantel zu bringen. So etwas vergesse ich nicht. Ich stehe in vielen Dingen tief in Ihrer Schuld.« Er versuchte zu lächeln. »Bei Ihrer nächsten Stelle wird es hoffentlich einfacher sein: Keine tagelangen Schichten im Strandhaus und vor allem keine Geheimnisse, die Sie in den Kerker bringen könnten.«
»Ich habe es gern getan, Mylord. Es war mir eine Freude, mitzuerleben, wie Sie zu einem formidablen jungen Mann herangewachsen sind, und ich wünschte … Oh.« Mister Taryòn runzelte die Stirn. »Ihr Kragen ist verrutscht. Lassen Sie mich ein letztes Mal …« Er trat näher und richtete die komplizierte Verschnürung. »Jetzt sieht es besser aus.« Lächelnd schaute er zu Kaèl, mit Tränen in den Augen.
Ohne darüber nachzudenken, umarmte Kaèl ihn.
Mister Taryòn stand zunächst stocksteif da, dann legte auch er seine Hände auf Kaèls Schultern. »Passen Sie auf sich auf«, murmelte er.
Ein wenig musste Kaèl schmunzeln, Mister Taryòn war noch förmlicher als er selbst. Wahrscheinlich hatten sie es deshalb all die Jahre miteinander ausgehalten.
Er ließ Mister Taryòn wieder los. »Ich wünsche Ihnen nur das Beste. Und bitte, schreiben Sie mir ab und an, wie es Ihnen bei den Taìfus ergeht.«
»Das machen wir, Mylord!«
Kaèl begleitete sie in den Schlosshof und winkte der Kutsche mit einem weißen Taschentuch hinterher. Erst, als sie am Horizont verschwunden war, drehte er sich um und schlurfte mit hängenden Schultern zurück in seine Gemächer.
oOOo
»Lord Hotàru!« Mit einem Ruck wurde der Vorhang aufgerissen. Gleißendes Sonnenlicht flutete über Kaèls Gesicht, brannte sich in seine geschlossenen Augenlider ein. »Es ist sieben Uhr, Zeit zum Aufstehen.«
Kaèl zog sich das Kissen über den Kopf. »Was zum Drachen?«, murmelte er.
»Ich bin Daryòn, Ihr neuer Diener«, stellte der Störenfried sich vor. »Ihre werte Frau Mutter hat mich geschickt, weil mein Vorgänger gekündigt hat. Sie macht sich Sorgen um Sie.«
Kaèl grummelte frustriert. Er hatte wie immer die halbe Nacht nicht geschlafen. Nachts waren das Sehnen und die Ängste besonders stark und niemand war da, um ihn zu halten. Mister Taryòn hatte das gewusst, er hätte ihn nie vor neun geweckt, und dann vorsichtig und mit einem starken Tee.
»Ich habe Ihnen ein reizendes Gewand herausgelegt. Ein Hellblaues, mit silbernen Blümchen.«
Kaèl zog das Kissen vom Kopf. Ungläubig linste er auf die Robe, die über Daryòns Arm hing. Was dachte sich dieser Kerl? Nyòko war keine fünf Wochen tot, und da sollte er wieder etwas Buntes tragen? »Das kommt nicht in Frage!«
»Aber Ihre Frau Mutter hat mir aufgetra–«
»Raus!« Kaèl warf ihm einen derart vernichtenden Blick zu, dass Daryòn rückwärts aus dem Zimmer stolperte.
Mit einem Zauber verschloss Kaèl die Tür. Frustriert quälte er sich aus dem Bett, kramte aus dem Schrank eine der einfach anzulegenden Roben, die er für seine Besuche bei Bendix hatte schneidern lassen, natürlich in Weiß. Er knöpfte und verknöpfte sich, stieß eine Reihe an Flüchen aus, und stapfte endlich zum Büro seiner Mutter.
Er würde ihr etwas husten, ihm einfach so einen neuen Bediensteten vorzusetzen!
Kaèl riss die Tür auf. »Mutter! Wir müssen –« Zu seiner Verwirrung war Akàri nicht allein. Myriam saß ihr gegenüber, und beide musterten ihn schweigend.
»Myriam. Du … arbeitest wieder?«, sagte er. »Bist du nicht noch zu angeschlagen?«
Myriam und seine Mutter tauschten einen Blick. Akàri nickte leicht.
»An sich schon, aber heute ist eine Ausnahme. Es gibt eine wichtige Angelegenheit, die ich selbst in die Hand nehmen will.«
»Hm«, machte Kaèl. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Nicht, dass sie jetzt schon die Menschendörfer im Visier hatten. Akàri hatte ihm doch vier Wochen zugesichert!
»Das wird dich auch freuen«, sagte Akàri. »Einer von Myriams Spion*innen hat den Hexenjäger entdeckt. Er lebt in einer Hütte im Silberwald und das wohl schon seit längerem.«
Bendix.
Sie schüttelte den Kopf. »Stell dir vor, dieser Mörder hat die ganze Zeit in unserem Wald gehaust, mitten vor unserer Nase.«
Es war, als hätte ihm jemand in den Magen geschlagen. Er konnte nicht mehr atmen, alles in ihm verkrampfte sich schmerzhaft. Seine Hand krallte sich um die Türkante. »So?«, krächzte er. »Habt ihr ihn … getötet?«
Myriam lachte leise. »So schnell geht das nicht. Wir planen gerade, wie wir mit ihm umgehen. Wir müssen ein Blutbad wie das von vor zwei Monaten verhindern.«
Es dauerte eine Weile, bis die Bedeutung ihrer Worte bei ihm ankam. »Ja«, murmelte er erleichtert. »Diese Attacke steckt uns allen noch in den Knochen.« Er musste einen gefassten Gesichtsausdruck wahren, Myriam hatte das Talent, Schwäche zu wittern wie ein Bluthund.
»Was wolltest du mir sagen?«, fragte Akàri.
»Ich?« Er starrte sie verwirrt an.
»Wieso bist du hier?«
»Ach das … das ist nicht so wichtig wie der Hexenjäger«, sagte er hastig. »Plant ihr erstmal in Ruhe, ich melde mich später noch einmal.«
Er zwang sich zu einem Lächeln und stolperte aus dem Zimmer. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte er sich gegen die kühle Steinwand. Sein Herz raste, und es dröhnte dumpf in seinen Ohren.
In seinem Kopf gab es nur noch einen einzigen Gedanken.
Ich muss … zu ihm.