Ratssitzungen waren unfassbar langweilig. Seit Stunden saß Kaèl nun eingepfercht zwischen zwei Dutzend Leuten, die so unangenehm waren, dass er privat einen weiten Bogen um sie gemacht hätte. Und dennoch versuchte er, trotz ihrer Ignoranz und geistlosen Floskeln, einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren.
Hin und wieder linste er zu Nyòko, die links neben ihm saß, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er hätte alles gegeben, um mit ihr zu lästern und die Zeit so ein wenig schneller herumzukriegen, aber sie strahlte so viel Wut aus, dass er es gar nicht erst versuchte.
Stattdessen gab er vor, sich Notizen zu machen, und kritzelte verworrene Zeichnungen in sein Notizbuch. Hin und wieder nickte er bedächtig, als würde er der Diskussion folgen.
Sie arbeiteten eine erschreckend lange Liste an Themen durch, und bei jedem noch so unwichtigen Aspekt mussten die Vertretenden der Adelsfamilien Fukuòkas ihren Senf dazu geben. Jetzt verstand er, warum Akàri diesen Leuten Spitznamen gab. Man hatte während dieser Sitzungen viel zu viel Zeit, über so einen Unfug nachzudenken, und seine Mutter musste derartige Treffen beinahe täglich über sich ergehen lassen. Allein der Gedanke daran machte ihn müde.
Er unterdrückte ein Gähnen. Seit einer knappen Stunde diskutierten sie darüber, welche weiteren Zauber in das Curriculum der Privatschulen aufgenommen werden sollten, und Kaèl fragte sich mittlerweile, ob diese gutbetuchten Adeligen nur in dem Rat saßen, um bessere Bedingungen für ihre eigenen Kinder zu schaffen, wer sonst konnte sich eine Privatschule leisten?
Der Kerl mit der nasalen Stimme hob die Hand, anscheinend hatte er wieder etwas zu beanstanden, wie schön. ›Froschgesicht‹, nannte Akàri ihn, das passte ganz gut. Er war ein kleiner Zauberer, mit hervorquellenden Augen und einem breiten Mund. Eigentlich mochte Kaèl Frösche, besonders seit Bendix ihm kürzlich voller Begeisterung die Kaulquappen in einem Teich nahe seiner Hütte gezeigt hatte, aber dieser Kerl verleidete ihm sogar das.
Kaèl platzte der Kragen. »Verdammt noch mal«, knurrte er. »Ihre erlauchten Kinder lernen bis zum siebzehnten Lebensjahr im Schnitt zweihundert Zauber, mehr als genug um später an der Akademie Fuß zu fassen. In den öffentlich Schulen hingegen werden lediglich zwanzig«, er zog das Wort in die Länge, »gelehrt. Das ist ausbaufähig! Aber das scheint hier im Kulturrat ja niemanden zu interessieren.«
»Das ist jetzt nicht das Thema!«, sagte Madame Urusài, die Sekretärin von Kaèls Großmutter, die die Sitzung anleitete.
Sie ging Kaèl auf die Nerven, bislang hatte sie jede noch so kleinliche Nachfrage zugelassen. Wie schön, dass sie jetzt wenigstens zu Eile antrieb, wenn es zur Abwechslung um etwas Relevantes ging.
»Die Bildung von fünfundneunzig Prozent der Bevölkerung ist ›nicht das Thema‹?«, wiederholte Kaèl. »Und ich dachte, wir säßen hier, um die Bedingungen der Leute zu verbessern, die auf das öffentliche Bildungssystem angewiesen sind.«
»Natürlich tun wir das, daher haben wir ihren äußerst … motivierten … Punkt ja mit aufgenommen«, erwiderte Madame Urusài ungerührt.
»Aber alles der Reihe nach«, rief das Froschgesicht. »Die Themen für heute sind nach Relevanz geordnet.« Süffisant grinste er Kaèl an.
Kaèl wurde heiß vor Zorn. Sein Thema war das letzte auf der Liste. Aber er konnte diesen Schaumschläger nicht offiziell herabwürdigen, also blieb er freundlich, obwohl der dreiste Kerl ihm offen ins Gesicht lachte.
Seufzend hob er den Arm und bestellte sich einen Tee.
Kaèl schlürfte bereits an seiner vierten Tasse, als er endlich an der Reihe war. Er erhob sich, und präsentierte die Daten und Beobachtungen der ersten vier Schulwochen. An der Akademie hatte er so viele Vorlesungen gehalten, dass es Routine für ihn war, seine Argumente vorzutragen, egal wie kritisch sein Publikum sich gab. So malte er magische Diagramme in die Luft, zitierte Aussagen von Lehrkräften und Eltern und händigte zum Abschluss der gesamten Riege den überarbeiteten Lehrplan aus, den er direkt nach der morgendlichen Besprechung mit Emma und Kasimir erneuert hatte.
Kaum hatte er wieder Platz genommen, erhob der unsägliche Zauberer seine nasale Stimme: »Was für eine merkwürdige Idee mit diesem Unterricht! Menschen sind dafür da, Kartoffeln und Rüben zu schleppen. Warum also Geld und Zeit an sie verschwenden?«
»Genau das hatte ich Ihnen während der letzten zwanzig Minuten dargelegt«, erwiderte Kaèl. »Haben Sie nicht zugehört?«
»Sicher habe ich das. Aber Ihre Aussage fußt auf einem Fehler. Sie behaupten, dass Menschen etwas dazulernen könnten. Aber wir wissen doch, nach allem, was wir mit ihnen erlebt haben, dass dies nicht so ist. Ein Lebewesen, das nicht zaubern kann, kann auch nicht denken.«
Wie Kaèl ihn hasste! Er redete von Leuten wie Bendix, als seien sie nichts weiter als Hefepilze. Als hätten sie keine Chance im Leben verdient.
»Ich finde es interessant, wie Sie es immer wieder schaffen, Ihre Parteilichkeit als Unparteilichkeit zu maskieren«, sagte Kaèl spitz. »So viel Geschwurbel bin ich von der Akademie nicht gewöhnt.«
Das Froschgesicht ignorierte ihn. Grinsend blickte er in die Runde. »Warum sagt man nicht ›blöder Mensch‹?« Er ließ einen Moment verstreichen, dann rief er: »Weil man auch nicht ›weißer Schimmel‹ sagt!« Er wieherte, und einige stimmten mit ein.
Kaèl unterdrückte ein Würgen. So viel Ignoranz war zu viel für ihn. Das Schlimme war, dass er sich machtlos fühlte, wenn nicht auf Grundlage von Fakten, sondern diffusen ›Erfahrungen‹ argumentiert wurde. Er vergrub den Kopf in den Händen.
Jemand zupfte an seinem Ärmel. Zu seiner Überraschung war es Nyòko. »Gibst du so schnell auf?«, raunte sie.
Seit wann redet sie wieder mit mir?
»Sie sind so anstrengend«, flüsterte er. »Andauernd verwechseln sie ›klug‹ und ›magiebewandert‹.«
»Und das aus deinem Mund«, erwiderte Nyòko, ohne eine Miene zu verziehen. »Früher hast da das selbst immer verwechselt.«
»Na und?«, fauchte er ungehalten, »darf ich meine Meinung nicht ändern?«
»Doch, immer.« Sie lächelte ihn so warm an, dass sein Widerstand schmolz. »Aber so wie du es angehst, bringt es dich nicht weiter.« Mit einem Kopfnicken wies sie auf das Froschgesicht. »Du solltest mit so einem nicht diskutieren. Er zieht dich nur auf sein Niveau und schlägt dich dort mit Erfahrung. Das Einzige, auf was diese Leute hier hören, ist Macht!«
Er beugte sich zu ihr. »Definitiv. Du solltest sie sehen, wenn Großmutter im Raum ist, dann verwandeln sie sich in winselnde Speichellecker. Aber in mir sehen sie nichts, als den missratenen Sohn, der keine günstige Partie macht, und daher dem Land schadet.«
»Dann ist das wohl eine Aufgabe für die Kronprinzessin.« Sie grinste. »Sagt dir die vierzehnte Direktive etwas?«
»Nur vage.«
Ihr freches Grinsen wurde zu einem zufriedenen Lächeln. »Wunderbar, mir auch nicht. Aber wenn selbst du sie nicht kennst, dann haben die Vollpfosten hier garantiert auch keine Ahnung, also improvisieren wir jetzt.«
Nyòko erhob sich. In ihrer dunkelroten Robe und mit ihrem durchgedrückten Rücken wirkte sie wie die Königin, die sie bald auch sein würde. »Ruhe!«, rief sie.
Alles verstummte.
Schwer legte sie eine Hand auf Kaèls Schulter. »Kaèl«, sie lächelte ihm warm zu, »hatte mich bereits vorgewarnt, wie die Ratssitzungen in diesem doch recht … abgelegenem ... Gebiet vonstattengehen. Ich konnte aber nicht glauben, wie rückständig es hier wirklich ist.« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Rückständig hin oder her, sicherlich ist Ihnen die vierzehnte Direktive des dritten Gesetzbuches Finistères bekannt.« Auffordernd blickte sie in die Runde.
Alles schwieg, selbst Madame Urusài starrte mit offenem Mund zu ihr.
»Niemanden?« Sie verzog das Gesicht. »Erschreckend. Aber du kennst sie doch, oder, Kaèl?« In ihrer Stimme lag ein flehender Unterton, anscheinend gingen ihr gerade die Ideen aus.
»Natürlich«, improvisierte er. »Die ... Erweiterung ... des Schulrechts. Allen Kindern, unabhängig welcher Bevölkerungsgruppe, deren Eltern zur Zahlung von Abgaben oder Pacht verpflichtet sind, steht ein Platz in der öffentlichen Schule offen.« So ein Gesetz gab es sicherlich nicht, aber Kaèl hätte es durchaus begrüßt.
Nyòko atmete auf. »Genau das. Die Frage ist also: ›zahlen diese Menschen Abgaben?‹«
»Das tun sie, Mylady«, sagte Madame Urusài zögerlich.
»Eure Hoheit«, korrigierte Nyòko sanft, und die Zauberin zog den Kopf ein.
»Die Menschen zahlen also ihre jährlichen Abgaben«, fuhr sie fort. »Dann haben sie alles Recht, ihre Kinder in die Schule zu schicken.« Sie hob die Brauen. »De facto würden wir uns sogar strafbar machen, ihnen dies zu verweigern.«
Der Rat begann zu tuscheln.
Kaèl räusperte sich. »Aus diesem Grund habe ich meinen Vorschlag hier eingebracht«, log er. »Ich fand die Vorstellung, diese Kinder mit Magikindern zusammen in der Schule zu unterrichten nicht umsetzbar, daher meine Idee mit dem Dorfunterricht. Mit diesem Kompromiss halten wir uns an das Gesetz und berücksichtigen dennoch die unterschiedlichen Bedürfnisse der beiden Gruppen.«
Nyòko nickte ihm huldvoll zu. »Das erscheint mir akzeptabel. Fürs Erste«, fügte sie streng hinzu. Sie setzte sich wieder.
Kaèl erhob sich. »Sie haben die Meinung der Kronprinzessin vernommen. Gibt es noch Fragen?«
Schweigen. Alle Blicke wanderten von Nyòko zu ihm.
»Fein«, sagte er. »Dann folgt nun die Abstimmung.« Er nickte in die Runde. »Dass der Unterricht fortgeführt werden muss, steht außer Frage, nun geht es darum, ob Sie den beantragten Erweiterungen – sprich Bibliotheken und zusätzlichen Lehrkräften – zustimmen. Wer ist dafür?«
Gut ein Dutzend Hände schnellte in die Höhe. Als Nyòko sich laut räusperte, folgten noch ein paar Weitere.
Das Froschgesicht verschränkte die Arme demonstrativ und starrte zu Kaèl, aber diesmal war es Kaèl, der lächelte.
»Siebzehn zu zehn«, zählte er. »Ausgezeichnet, die Erweiterungen sind zugelassen.« Kaèl schlug die flachen Hände auf den Tisch. »Gibt es sonst etwas? Madame Urusài?«
Kopfschütteln.
»Gut. Dann ist der letzte Punkt durch.« Er erhob sich. »Das nächste Treffen findet in drei Monaten statt, wir sehen uns.«
Ohne eine Reaktion abzuwarten, raffte er seine Unterlagen zusammen und schritt hinaus. Nyòko folgte ihm.
Als sie drei Zimmer weiter waren, ließen sie die Tür hinter sich zufallen, lehnten sich gegen das Holz und brachen in Gelächter aus. »Die ›vierzehnte Direktive des dritten Gesetzbuches‹«, Kaèl schnappte nach Luft. »Du bist genial!«
»Deine Interpretation des Gesetzes war aber auch nicht schlecht. Das wäre mir nicht so schnell eingefallen.« Sie wischte sich die Augen. »Von Zuhause weiß ich, wie das läuft. Die Leute sind derart fokussiert auf ihre Bedürfnisse, dass sie nur einen winzigkleinen Ausschnitt der Gesetze kennen und den Rest ignorieren. Wenn man anfängt, konkrete Paragraphen zu nennen, glauben sie einem alles!«
Kaèl schüttelte den Kopf. »Es wäre nur fatal, wenn jemand nachforschen würde.«
»Sieh dir diese Waschlappen doch an. Ich bezweifle, dass sich da eine*r die Arbeit macht.« Sie kicherte. »Und wenn doch, ist es einerlei, die Abstimmung ist durch.«
Eine Dienerin kam ihnen entgegen und warf ihnen einen verwirrten Blick zu. Kaèl löste sich von der Tür und zog Nyòko ins nächste Treppenhaus. »Danke, dass du mir beigesprungen bist«, raunte er, als sie die Dienerin hinter sich gelassen hatten.
Sie machte eine abwehrende Geste. »Der Vortrag, den du gehalten hast, hätte vernünftige Leute überzeugen müssen, aber diese Flachpfeifen hören ja nicht auf Argumente.« Sie verdrehte die Augen. »Ich dachte, Serèika und ich wären von konservativen Stümpern umgeben, aber das hier schlägt alles! Unfassbar, mit was deine Mutter sich umgibt.«
»Sie wurden hauptsächlich von meiner Großmutter auf ihre Posten gesetzt.«
»Warum?«, fragte Nyòko. »Deine Großmutter regiert nicht mehr.«
Kaèl seufzte tief. »Offiziell hat sie meiner Mutter ihre Ländereien überlassen, als sie ihren Sohn geheiratet hat. Aber Großmutter klammert sich an ihre Macht, wie ein Drache an seinen Goldschatz.« Er fuhr sich durchs Haar. »Weißt du, früher dachte ich immer, meine Mutter habe alles im Griff, aber je tiefer ich in die Materie eindringe, desto klarer sehe ich, wie vergiftet alles ist, weil Großmutter diese Leute regelmäßig anstachelt. Mutter hätte damals dem Druck ihrer Eltern nicht nachgeben, und Vater heiraten dürfen. Sie sind so unglücklich miteinander, und du siehst ja selbst, was sie politisch davon hat.« Er rang die Hände. »Warum hat sie nicht einfach Ludòiku geheiratet!«
»Dann wären wir beide nicht auf der Welt«, korrigierte Nyòko ihn sanft.
Er lachte. »Auch wieder wahr.«
Eine Weile hingen sie ihren Gedanken nach, während sie durch die Galerie des Schlosses zu Nyòkos Räumen liefen. An den Wänden wurden Kaèls erlauchte Ahnen zur Schau gestellt. Mal kämpferisch im Duell mit anderen Magi oder im Krieg gegen die Menschen, mal intellektuell vor prall gefüllten Bücherregalen. Früher hatte er die Galerie gemocht, und sich immer vorgestellt, wie sein Bild später aussehen würde, wenn er regierte, aber mittlerweile fand er das alles nur noch beklemmend. Keiner dieser Leute hätte seinen neuesten politischen Kurs unterstützt.
»Weißt du, was das für ein Druck ist«, platzte es aus ihm heraus, »dass ich das einzig Gute bin, was Mutter an dieser Ehe hat? Dass ich als Entschädigung für alles herhalten muss? Ich meine … bis jetzt hat das funktioniert, weil ich talentiert und intelligent bin, und alle ihre Erwartungen erfüllt habe, aber jetzt … Wenn sie wüsste, dass ich –« Seine Stimme brach.
Nyòko rückte ein Stückchen näher. »… dass du einen Bauern liebst?«, flüsterte sie.
Kaèl nickte überfordert.
»Wirk’ mal einen Stillezauber. Einen Guten.«
Kann sie das nicht selbst? Irritiert kam er ihrer Aufforderung nach.
»Ich hoffe ja noch, dass meine Eltern irgendwann verstehen, dass es wichtiger ist, dass ich glücklich bin, als dass ich eine gute Partie mache. Nur so werde ich die Kraft haben, dieses Land zu regieren. Immerhin hat Mutter damals auch auf ihr Herz gehört, und es war ihr nicht zum Nachteil. Das, was Ludòiku an Titeln fehlt, macht er durch Diplomatie wieder wett.«
»Hmmm«, machte Kaèl. Das konnte Nyòko doch selbst nicht glauben, dass sie so leicht davonkommen würde! In solchen Momenten schimmerte durch, wie jung sie war, auch wenn sie das sonst mit ihrem souveränen Auftreten verbarg. Aber nach dem Streit von heute Nachmittag verkniff er sich einen Kommentar dazu. Sie würde es früh genug herausfinden.
Sein Blick blieb an dem überlebensgroßen Bild seiner Großmutter hängen, die streng auf ihn herabschaute. Schnell wandte er den Kopf ab.
»Vielleicht lässt deine Mutter mit sich reden, wenn du offen mit ihr über deine Gefühle sprichst? Nach allem, was sie durchgemacht hat, versteht sie dich vielleicht besser, als du denkst.«
Vehement schüttelte er den Kopf. »Sie würde es mir nie verzeihen, dass ich einen Mann liebe.«
»Auch da bin ich mir nicht so sicher. Vor Kurzem hat Sir John sich öffentlich zu seinem Freund bekannt.«
»Beim Drachen, Nyòko, das war, nachdem seine Frau verstorben ist.« Er gestikulierte wild umher. »Außerdem heißt das nicht, dass wir uns so etwas erlauben können, nur weil irgendsoein kleiner Landlord das tut. Und selbst wenn Mutter so etwas tolerieren würde, mein Freund ist –« Er stockte.
»Er ist ...?«
»Es geht einfach nicht«, rief er gequält. Warum ließ sie ihn nicht endlich in Ruhe? Er drückte er sich an ihr vorbei und beschleunigte seine Schritte, so dass Nyòko ihm hinterherlaufen musste und ihn erst wieder einholte, als er ihre Zimmertür erreicht hatte.
»Da wären wir, Eure Hoheit.« Mit einer übertriebenen Verbeugung riss er die Tür auf. »Eure Gemächer.«
Er wollte davon schreiten, aber sie hielt ihn am Ärmel zurück. »Jetzt komm, ich kann nichts dafür, dass dein Freund ein Bürgerlicher ist.« Sie senkte die Stimme. »Natürlich wird deiner Mutter das nicht gefallen, aber so eine Ehe hätte auch ihre Vorteile. Unsere Sichtweise auf das Land ist verzerrt, wir haben viel zu wenig Kontakt zu niederen Schichten. Das hast du ja auch in dieser Ratsdebatte gemerkt. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung sind aber Bürgerliche. Wie sollen wir über deren Leben entscheiden, wenn wir ihre Sorgen nicht kennen? Ich bin mir sicher, dein Freund macht dich zu einem besseren Lord, und das Volk wird dich dafür lieben.«
»Die Macht in diesem Land liegt aber nicht beim Volke, sondern bei den Adelsfamilien«, korrigierte er sie. »Es ist irrelevant, was das Volk denkt!«
»Ist es das?«
»Nicht für mich«, sagte er hastig, als er ihre grimmige Miene bemerkte, »aber für die anderen. Du weißt, wie das Spiel läuft, Nyòko. Ich kann nichts ohne die Rückendeckung der Adelsfamilien erreichen.«
»Wenn keine*r dieses Muster durchbricht, dann ändert sich auch nichts.« Sie fixierte ihn. »Deshalb will ich dich auch nicht heiraten, Kaèl. Ich weiß, dass ich mit Hiròki im Geheimen ein komfortables Leben führen könnte, aber ich habe diese Heuchelei so satt! Ich werde bald mit Vater darüber sprechen!«
Wie schön, dass sie sich in allem moralisch überlegen wähnt!
Er riss seinen Ärmel frei und verschränkte die Arme. »Dann tu, was du nicht lassen kannst. Aber mir wird das verwehrt bleiben, es geht nicht, nicht mit ihm.«
»Was ist denn mit ihm?« Nyòko lachte hell auf. »Du benimmst dich, als sei er ein Schwerverbrecher!«
»Vielleicht ist er ja einer«, rief er. »Vielleicht bin ich ja mit dem Hexenjäger zusammen!«
Für einen Moment starrte sie ihn fassungslos an.
Kaèls Herzschlag beschleunigte sich. Er starrte zurück, wie eine in die Ecke gedrängte Maus zur Katze und erwartete das Unvermeidliche.
Auf einmal prustete sie los. »Ja, genau, und Schweine können fliegen! Als hätte einer wie du was mit dem Hexenjäger! Manchmal bist du wirklich witzig Kaèl!«
»Jaja, mein bekannter Humor. Daher bin ich auf Festen auch immer so beliebt«, grummelte er, um seine Erleichterung zu überspielen.
»Ah bitte, jetzt sei nicht so grantig!«
Er rang die Hände. »Können wir aufhören, über meine Probleme zu sprechen? Noch vor einigen Stunden hast du mir verkündet, dass wir nicht befreundet sind, wieso sollte ich dir jetzt in irgendeiner Form Vertrauen entgegenbringen?«
»Kaèl«, sagte sie. »Mein Ausbruch von heute Nachmittag tut mir leid. Du hattest mich kalt erwischt, mit deinem Antrag. Aber das, was ich gesagt habe, war nicht so gemeint, wir sind Freund*innen geworden.«
Er entspannte sich ein wenig. »So?«
»Ich mag dich.« Sie lächelte. »Und dabei hatte ich mir nach allem, was du meinem Bruder angetan hast, fest vorgenommen, das nicht zu tun.«
»Iònatan?«, überlegte er laut. »Was soll ich ihm denn getan ha–«
»Das hast du vergessen?«, unterbrach sie ihn. »Das mit deiner Ex?«
»Rubìnia?«
»Nein, diese Lina. Rothaarig, zynischer Humor, provokante Kleidung. Eine grässliche Person, wenn du mich fragst.« Sie schüttelte sich. »Aber Iònatan war da anderer Meinung … zumindest bis du sie ihm ausgespannt hast! Er hat ihr jahrelang hinterhergetrauert.«
»Aber das ist doch schon ewig her«, sagte Kaèl lachend. »Außerdem war das Linas Entscheidung.«
»Sie war seine erste Liebe!«
Er schnaubte genervt. »Oh bitte, er wäre nicht glücklich mit ihr geworden. Für eine wie Lina hat er ein viel zu zartes Gemüt.«
»Und du willst das beurteilen?« Sie runzelte die Stirn. »Wie dem auch sei, nachdem du Lina ausgerechnet an seiner Geburtstagsfeier so schamlos den Hof gemacht hast, hatte ich mir fest vorgenommen, dich nicht zu mögen.«
»Aber jetzt magst du mich doch. Keine kann auf Dauer meinem Charme widerstehen.« Mit einer schwungvollen Geste warf er sein Haar zurück.
Nyòko verdrehte die Augen. »Und schon hat er ihn zerstört, den jungen Trieb unserer Freundschaft.«
»Ach komm, Nyòko, du brauchst mich morgen beim Ball. Finley Whitecrow ist geladen, und er hat sich eine neue Beschäftigung zugelegt. Er rezitiert selbstgeschriebene Gedichte.« Kaèl senkte die Stimme. »Über Wein.«
»Das ist nicht dein Ernst!«
Er grinste breit. »Aber wir können jederzeit zusammen in den Lustgarten verschwinden. Du weißt schon, ist der Ruf erst ruiniert …«
Sie lachte. »Na gut. Aber wir nehmen Hiròki mit!«
»Natürlich. Ich werde ein Buch in meiner Robe verstecken, dann könnt ihr euch in aller Ruhe küssen, während ich lese.«
Ihre Augen leuchteten auf. »Wieso lädst du deinen Freund nicht ein? Er könnte sich als Gast tarnen … oder als Diener, und im Lustgarten auf uns warten. Ich würde ihn so gern einmal kennenlernen.«
»Das ist keine so gute Idee«, sagte er steif.
»Ach, es wäre sicher lustig, so ein Abend zu viert.«
Er seufzte. Wenn Nyòko wüsste, wie sehr er sich genau das wünschte. Normalität. Bendix einmal zu zeigen, wie er lebte, damit er ein Bild von dem hatte, über das Kaèl andauernd sprach. Kaèl kannte ja auch Bendix’ Hütte, er wusste, wie Bendix seine Tage verbrachte, mit wem er befreundet war. Allein das gab ihm das Gefühl, Bendix nahe zu sein.
Aber dennoch, gerade bei einem Ball war es riskant, ihn dort einzuschleusen. Es waren zu viele Leute dort, und die Sicherheitskräfte waren verstärkt. Wenn einer von ihnen Bendix als den Hexenjäger erkannte, dann drohte ihm der Galgen.
Er schüttelte den Kopf. »Besser nicht.«
»Ach ja, ich vergaß, er ist ja ein Schwerverbrecher.« Sie kicherte, als habe sie einen guten Witz gemacht. »Überlege es dir.«
Als würde er nicht ständig darüber nachdenken. Aber wenn er Bendix jemals sein Zuhause zeigen wollte, dann nur, wenn Myriam und seine Eltern nicht da waren, was so gut wie nie der Fall war, außer …
Kaèl lächelte. Vielleicht ist Nyòkos Idee doch nicht so abwegig …
»Nicht morgen«, sagte er. »Aber ich arbeite daran, in Ordnung? Du wirst ihn kennenlernen.«
»Ich bin gespannt!«
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Achso, falls wir uns nicht mehr vorher lesen: schöne und entspannte Feiertage Euch allen! Bleibt gesund und zuversichtlich, in diesen dunklen Zeiten <3