Das Einzige, was vorerst seinen Plänen mit dem Hexenjäger im Wege stand, war dieser unsägliche Ball der Ryunòrs. Da ihr Schloss in Wyvern drei Tagesreisen von Fukuòka entfernt lag, bedeutete dies einen herben Einschnitt in Kaèls Freiraum. Er hasste lange Kutschfahrten, besonders im Sommer, wo der Staub durch die Luft gewirbelt wurde, und die Kleidung am schweißnassen Körper klebte.
Zu allem Überfluss verhielten seine Eltern sich merkwürdig. Bereits auf der Hinfahrt zum Ryunòr‘schen Anwesen waren beide, Mutter und Vater, seltsam harmonisch, beinahe in Hochstimmung und motiviert, Konversation mit ihm zu betreiben.
Kaèl war genervt, er hatte sich Lesestoff eingepackt, der lange überfällig war. Sein Pensum war immens und verlangte eine strikte Disziplin, um bis zum Tag der Prüfung bewältigt zu werden. Aber anscheinend war ihnen dieser alberne Ball wichtiger, als die Erzmagiprüfung, unablässig rissen sie ihn aus seinen Gedanken.
»Du wirst schon sehen, Kaèl, wir haben uns eine ganz besondere Überraschung für dich ausgedacht.«
»Hmm«, machte Kaèl, ohne den Blick von seinem Buch zu heben.
Als sie endlich ankamen, war alles wie immer, die Ryunòrs erwarteten sie im Torgang und Ludòiku ließ es sich nicht nehmen, Kaèls Mutter mit großen Gesten aus der Kutsche zu helfen, was sie leicht errötend annahm. Laut schwatzend schlenderten sie zur Seite, versunken in ihrer kleinen Welt. Währenddessen stellten sich Serèika, ihres Zeichens Herrscherin des vereinten magischen Reichs Finistère und Kaèls Vater mit verschränkten Armen neben die Kutsche und schwiegen sich an. Sein Vater tat ihm leid, Serèika war nicht in der Lage, freundliche Konversation zu führen. Kaèl hatte sich oft gefragt, wie sie als Herrscherin Erfolg hatte, bei ihrem Mangel an Diplomatie. Kaèls Mutter sagte immer, nicht ohne einen tiefen Seufzer, das läge an ihrem Ehemann Ludòiku, der im Gegensatz zu Kaèls Vater, aktiv am Hofleben beteiligt war, und die guten Beziehungen zu den anderen Adelsfamilien erhielt.
Kaèl konnte sich das kaum vorstellen, so harmlos wie Ludòiku meist wirkte. Er äugte zu den beiden, bemerkte dann aber, dass sie ihn wohl schon länger musterten, was ihn irritierte.
Beim Bankett wurde er neben Nyòko platziert, Ludòikus und Sereìkas Tochter und Kronprinzessin Finistères. Äußerlich glich sie ihrer Mutter, mit ihren langen, glatten, schwarzen Haaren, aber charakterlich gab es nur wenige Ähnlichkeiten – zum Glück, denn Serèikas Temperament war legendär. Besonders viel Beachtung hatte er Nyòko nicht geschenkt, obwohl seine Eltern und er beinahe alle Feiertage bei den Ryunòrs verbracht hatten. Im Vergleich zu ihm war das Mädchen ein Küken.
Auch Nyòkos Interesse an ihm war begrenzt, sie hatte sich demonstrativ von ihm weggedreht und unterhielt sich mit ihrer anderen Sitznachbarin, was Kaèl ganz recht war. So hatte er Zeit zum Nachdenken.
Was hatte Neomùra noch über die vier häufigsten Fehlannahmen der Transformationsmagie geschrieben?
Aber irgendetwas störte ihn. Es war die Person im türkisen Taftkleid zu seiner Linken. Sie schien bereits seit einer Weile auf ihn einzuplappern. Kaèl versuchte nach Kräften, es auszublenden, aber sie stupste ihn an der Schulter an. »Was sagen Sie dazu?«
Kaèl zuckte zusammen. »Entschuldigen Sie bitte. Ich hatte nicht zugehört.« Meine Gedanken waren besser, fügte er im Geiste hinzu.
»Na, tanzen Sie, Lord Hotàru?«
»Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.«
»Vielleicht überlegen Sie es sich ja noch einmal.« Sie lächelte verführerisch. »Heute Abend wird hauptsächlich schneller Galopp gespielt.«
Bei Muriel, jetzt geht das wieder los, dachte Kaèl. Er war wieder offiziell Junggeselle und als einziges Kind der Hotàrus das gefundene Fressen für alle weiblichen Adeligen.
Als er nichts erwiderte, sagte sie augenzwinkernd: »Und bringen Sie gute Laune mit.«
Bringen Sie gute Laune mit, äffte er sie im Kopfe nach. Wie schade, dann kann ich nicht kommen.
Nach dem Essen wollte er sich mit einer vorgeschobenen Ausrede davonmachen, und hatte es fast über die gesamte Tanzfläche geschafft, aber seine Mutter war schneller. Sie winkte ihn herbei, zu dem blumendekorierten Tisch, an dem Ludòiku und sie standen und sich anscheinend wieder prächtig amüsierten. »Kael’thas, mein Goldstück, wie hast du dich beim Essen unterhalten?«
»Gut, gut«, log Kaèl.
»Ludòiku und ich haben gerade darüber gesprochen, wie schnell die Zeit vergeht. Vor Kurzem wart ihr noch nicht auf der Welt und nun bist du beinahe Erzmagi. Und Iònatan studiert bereits im vierten Jahr!«
»Ihr solltet euch einmal unterhalten, so von Transformationsmagi zu Transformationsmagi«, sagte Ludòiku.
»Hmm«, machte Kaèl reserviert. Ludòiku strahlte so viel Fröhlichkeit aus, dass ihm fast übel wurde.
»Ich bin immer wieder erstaunt, was für eine stattliche Dame Nyòko geworden ist. So intelligent und zielstrebig, ganz wie ihr Vater.« Akàri lächelte Ludòiku zu, der wirkte, als würde er vor Stolz platzen.
Kaèl unterdrückte das Bedürfnis, die Augen zu verdrehen.
Sie winkte eine Dienerin herbei und verlangte zwei Weingläser. Sie ließ beide zu ihm hinschweben und sagte, betont beiläufig: »Warum gehst du nicht zu ihr hin, und redest mit ihr, sie steht dort ganz allein.«
»Ich bin müde und wollte gerade gehen, Mutter.«
Sie fasste ihn am Oberarm, ein wenig zu fest nach seinem Geschmack. »Du reißt dich jetzt zusammen«, flüsterte sie, immer noch in Ludòikus Richtung lächelnd. »Wir hatten das Thema bereits, also lächle und unterhalte sie gut.« Mit den Worten drückte sie ihn in Nyòkos Richtung.
Seufzend machte er sich auf den Weg über die halbleere Tanzfläche. Das also war der Plan. Er sollte der Mann der zukünftigen Herrscherin Finistères werden. Nicht, dass er etwas gegen den Titel gehabt hätte. Er wäre dann so etwas wie ein König – auch wenn das in Finistère, das sich lieber einen föderalen Anstrich gab, keine so laut sagen würde.
König … wer würde so einen Titel mit mehr Würde tragen als ich? Er machte einen dicken Pluspunkt auf seiner imaginären Liste.
Allerdings war das Mädchen definitiv zu jung und blass für ihn. ›Blass‹ stimmte natürlich nicht im wortwörtlichen Sinne, ganz Serèikas Tochter hatte sie deren Teint geerbt. Mit ihrer ockerfarbenen Haut, den dazu kontrastierenden leuchtend-gelben Augen und der angenehm drallen Figur war Nyòko sogar eine recht hübsche Elbin (Pluspunkt), auch wenn Kaèl generell Zauberinnen bevorzugte. Aber wann immer er mit ihr Konversation betrieb, blieb sie schweigsam und in sich gekehrt, deshalb hatte er sie die letzten Jahre gemieden. Ein Abzugspunkt.
Und letztendlich wäre sie ja diejenige, die die Fäden der Macht in den Händen hielt und er nur angenehmes Beiwerk.
Ist das wirklich die Rolle, die ich mir vorgestellt habe?
Er setzte ein umklammertes Fragezeichen hinter seinen ersten Pluspunkt.
Bei ihr angekommen tappte er unschlüssig von einen Fuß auf den andern. »Hallo«, sagte er. »Wir haben lange nicht gesprochen.«
»Ja, das war schön«, murmelte sie.
Er beschloss, ihren pubertären Kommentar zu übergehen, setzte in Gedanken aber ›unreif‹ auf die Liste. Kein Wunder, wie alt war sie noch? Zweiundzwanzig? »Du siehst durstig aus.«
»Nein, nein, mir geht es gut, ich war gerade auf dem Sprung«, sagte sie reflexartig, dann stockte sie und starrte auf einen Punkt hinter Kaèls Rücken. Er drehte sich um und sah Ludòiku, der aufgeregt mit ihr gestikulierte.
»Ach weißt du … ja, ein Getränk kann nicht schaden«, sagte sie und ließ die Schultern hängen.
Er hielt die Weingläser hoch.
»Ich brauche jetzt etwas Stärkeres.«
Das gefiel ihm. Pluspunkt! Er winkte einen Diener herbei und bestellte zwei Whiskey, die er Nyòko mit einer übertriebenen Verbeugung herüberschweben ließ. Wenn er schon sein Haupt vor einer beugen musste, dann wenigstens mit Ironie.
Sie umklammerte das bauchige Glas und betrachtete die goldenen Funken darin, ohne etwas zu sagen.
Kaèl unterdrückte ein Gähnen.
Zum Glück bin ich der geborene Erzähler, sonst wäre das hier ziemlich unangenehm, so dröge, wie sie ist, dachte er.
»Ich habe heute Morgen eine äußerst interessante Veröffentlichung über Invokationsmagie gelesen«, schrie er gegen die einsetzende Blasmusik an. »Dort wird die Hypothese aufgestellt, dass sich nicht die Magi das Wesen aussucht, in das sie sich verwandelt, sondern, dass das Wesen selbst den Wunsch nach Verwandlung in der betreffenden Person sät. Ein faszinierender Gedanke, da sich so natürlich die Frage stellt, inwiefern unsere ›selbstbestimmte Magieausübung‹ eine Illusion ist.«
»Soso.« Nyòko nahm einen tiefen Schluck. Ihre Wangen färbten sich rot. »Spannend.«
Aha, sie hat angebissen.
Er nickte begeistert. »Ja, es ist gut möglich, dass wir lediglich deterministische Maschinen sind mit fiktiver Freiheit, dazu hat ja auch schon die Erzmagi Neomùra in ihren bahnbrechenden Schriften …«
Während er seine Punkte weiter ausführte, verhielt Nyòko sich merkwürdig. Immer wieder linste sie zur großen Flügeltür oder tappte mit dem Fuß auf den Boden.
Warum benimmt sie sich so? Sie wirkt nervös.
Dann wurde es ihm klar.
Gerötete Wangen, glasige Augen, fahrige Hände – alles klassische Anzeichen von Verliebtheit. Ist sie etwa schon von mir angezogen? Das ging aber wieder schnell!
Verdenken konnte er es ihr nicht. Kaèl war von stattlichem Bau, mit prächtigen, platinblonden Haaren, dabei intelligent und gebildet. Und witzig. Er war es gewohnt, dass ihm alle zu Füßen lagen, alle Geschlechter gleichermaßen.
Aber wer hätte gedacht, dass auch das Herz der bald mächtigsten Person Finistères so leicht zu erobern ist?
Kaèl selbst wartete mit seinen wohldosierten Zuneigungsbekundungen immer, bis seine imaginäre Liste eine erquickliche Länge angenommen hatte und dabei mindestens eine Zweidrittelmehrheit an positiven Punkten aufwies. Natürlich gewichtete er einige Punkte schwerer als andere, und die Königswürde hatte einiges an Relevanz. Er lächelte und ließ die nächste Geschichte vom Stapel.
Sie gähnte.
»Das musst du dir vorstellen«, ereiferte er sich, während er mit großen Gesten auf die Klimax seiner Erzählung zusteuerte, »er hat zuerst Harleks Incinerationszauber gewirkt, und dann erst den Tornado, was für eine verschwendete …«
Es störte ihn, dass Nyòko immer wieder auf ihre Armbanduhr linste. Keine normale Magi trug so ein Ding, wofür gab es Zeitzauber, die die Zeit verlässlicher anzeigten?
Sie stürzte den letzten Rest Whiskey hinunter und stellte das Glas auf dem Stehtischchen ab. »Das ist spannend, Kaèl, aber ich …«
In dem Moment tauchte ihr älterer Bruder Iònatan hinter ihr auf. »Hier steckst du!«
Sie sprang ihm entgegen und schlang die Arme um seinen Hals. »Oh, ich dachte, du kommst gar nicht mehr!« Sie drückten sich eine Weile, was Kaèl unangenehm war. Zuviel Intimität.
Hoffentlich erwartet sie so ein Verhalten später nicht von mir! Ein großer Abzugspunkt. Allmählich sah es nicht gut aus, für Nyòkos und seine gemeinsame Zukunft.
Iònatan ließ sie los, hielt sie an den Schultern fest und musterte sie. »Alles in Ordnung, Nyòko?«
Sie nickte lächelnd. »Natürlich, natürlich, Kaèl hat mir gerade einige spannende Anekdoten über Magietheorie erzählt. Was wäre das Leben doch tragisch ohne sie.«
Iònatans Augen blitzten auf. Ein harter Zug bildete sich um seinen Mund. »Hat er das?«, fragte er. »Wie schön. Faszinierend.«
Kaèl überlegte, ob er seine letzte Geschichte wiederholen sollte, da sagte der Kerl: »Nyòko, Prìssi hat dich schon länger gesucht. Ich bringe dich zu ihr.« Er warf Kaèl einen Blick zu, der offene Feindseligkeit spiegelte. »Leider muss ich meine Schwester entführen.«
Und weg waren sie beide.
oOOo
»Nyòko und du, ihr scheint euch ja prächtig amüsiert zu haben«, sagte seine Mutter auf der Heimfahrt am nächsten Morgen.
Stirnrunzelnd ging er mit seinem geistigen Auge die Liste über Nyòko durch. Er hatte sie beim Frühstück noch um ein paar Punkte ergänzt, auch Pluspunkte, aber sie war immer noch recht ausgeglichen. »Wirkte das so?«
»Aber natürlich«, sagte sie. »Wie auch nicht, du bist brillant und geistreich, eben ganz mein Goldstück. Jetzt darfst du nur nicht locker lassen. Wir sollten ihr heute noch eine kleine Karte schicken. Und in zehn Tagen gibt es einen Tanztee bei den Macalisters und Ludòiku und Nyòko wollen auch vorbeischauen.«
»Äh, ja«, sagte er unangenehm berührt. »Das ist nett.«
Sie nickte zufrieden und ließ Kaèl damit in Ruhe. Heilfroh lehnte er sich tiefer in die güldenen Kissen, zog sein Buch aus der Tasche und begann, zu lesen.