»Ich brauche eine genaue Karte der Region! Schnell!«
Der Wirt starte Kaèl mit offenem Mund an. Kurz verharrte er, dann nickte er und rannte ins Nebenzimmer.
Mit drei Pergamenten kehrte er zurück. Eines erwies sich als unbrauchbar, aber die beiden anderen gaben Kaèl eine recht genaue Vorstellung der Täler und Berge des Umlands.
Bendix beugte sich über ihn. »Nach was schaust du?«
»Ob ich das Wasser noch aufhalten kann.«
»Mit den Golems?«
Kaèl blickte von der Karte auf. »Ich hatte eigentlich etwas anderes im Sinn, aber das ist eine gute Idee!« Er klopfte auf den Platz neben sich. »Komm, setz dich.«
Mit knappen Worten erklärte er Bendix, wie eine Karte zu lesen war, dann ging er auf die Details ein. »Hier ist der See, der uns so viel Kummer macht. Genau hier muss der Damm gebrochen sein. Das Wasser sollte dann hier«, er malte die Strecke mit dem Zeigefinger nach, »entlanglaufen.«
»Woher weißt du das?«
»Siehst du die kleinen Linien und Zahlen dort? Das ist ein Höhenprofil, je größer die Zahl, desto höher befindet sich die Linie. Wasser folgt der Schwerkraft, also läuft es nach unten, hier durch den Pass durch.« Er zeigte auf die gemalten Häuser. »Hier ist unsere Stadt, also mitten dort, wo das Wasser herlaufen wird. Wir müssen das Wasser umleiten, und ich könnte hier«, er malte eine Linie zwischen zwei Berghängen, »eine Barriere zu errichten.« Er massierte sich die Nasenwurzel. »Also … genauer gesagt, nicht ich, sondern die Golems.«
»Genau. Deine Golems sind da doch schneller. Moment mal.« Bendix runzelte die Stirn und beugte sich tiefer über die Karte. »Das kannst du nicht tun.«
»Hm?«
Bendix deutete auf einen Fleck links neben der Stelle. »Schau doch, daneben ist auch noch ein Dorf, wenn du den Wall baust, dann wird das geflutet.«
Dafür, dass er noch nie eine Karte gelesen hatte, ist er erstaunlich gut darin.
Er küsste Bendix auf die Wange. »Du hast recht. Es würde überflutet werden. Aber im Gegensatz zu der Stadt hier ist das ein winziges Dorf. Es ist das kleinere Übel. Wir haben nicht genug Zeit, um alle zu retten.«
»Das gefällt mir nicht«, sagte Bendix. »Ich will nicht, dass die Leute dort sterben. Wir müssen ihnen helfen!«
»Wir können nicht überall gleichzeitig anpacken. Wir haben zu wenig Zeit. Spätestens in einer Stunde ist das Wasser da.«
Jetzt trat der Wirt, der sich die gesamte Zeit im Hintergrund aufgehalten hatte, zu ihnen. Sein Blick wanderte über die Karte. »Welches Dorf?« Er wurde bleich, als er Kaèls Finger folgte. »Da wohnt mein Bruder! Das, das geht nicht!«
Kaèl spürte Bendix’ bohrenden Blick in seinem Nacken. Er seufzte. »Mit viel Glück kann ich die Fließgeschwindigkeit des Wassers verringern. Dann bleibt euch vielleicht genug Zeit, mit ein paar anderen dorthin zu reiten und die Leute dort zu evakuieren.«
»Evaku-was?«, fragte Bendix.
»Sie aus dem Dorf zu retten.«
Bendix’ Gesicht hellte sich auf. »Ja, das mache ich!«
»Gut, dann machen wir das so. Ich reite zum Pass und ihr reitet mit allen, die helfen wollen, zum Dorf.« Er wandte sich an den Wirt. »Suchen Sie die Leute zusammen, am besten fähige Schwimmer*innen. Ich erkläre Bendix derweil, was zu tun ist!«
Der Wirt nickte und eilte zur Tür.
»Ich bin in fünf Minuten bei den Ställen«, rief Bendix ihm hinterher.
Kaèl deutete auf die Karte. »Ihr müsst die Leute genau hierhin in Sicherheit bringen, da sollte die Flut nicht hinkommen. Und ich versuche, die Wassermassen soweit abzubremsen, dass ihr genügend Zeit dafür habt.«
Bendix nickte heftig.
»Hier, nimm du die Karte mit«, Kaèl malte die entsprechenden Markierungen auf die zweite Karte und hielt sie Bendix hin. Er wies auf das Kreuz, das er eingezeichnet hatte. »Wir treffen uns dort wieder, wenn alles erledigt ist.«
Bendix steckte die Karte in seine Brusttasche und erhob sich.
»Und Bendix«, Kaèl fasste seine Hand. »Mach nur das, was dir möglich ist. Bring dich nicht in Gefahr!«
Bendix zog ihn in seine Arme. »Das musst du gerade sagen. Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, dass du allein –«
»Ich müsste nicht allein sein«, sagte Kaèl aus einem Impuls heraus.
Bendix’ Körper spannte sich an. »So?«
»Es gäbe eine Möglichkeit, dass wir zusammen bleiben, auch wenn wir getrennt sind.« Kaèl lächelte. »Sie wird dir nur nicht gefallen.«
»Was?«, fragte Bendix lauernd.
»Du lässt mich in deine Gedanken. Dann könnte ich dir immer übermitteln, was zu tun ist, falls einem von uns etwas Unerwartetes passiert.«
»In meinen Kopf?« Bendix verzog das Gesicht.
»Ich würde natürlich nur das hören«, fügte Kaèl schnell an, »was du bereit bist, zu teilen und nicht tiefer bohren, da bin ich ganz diskret.«
»Deine Diskretion kenne ich«, murmelte Bendix finster.
»Du kannst die Verbindung jederzeit kappen«, sagte Kaèl.
Bendix schien einen inneren Kampf auszutragen, dann atmete er tief durch. »Kannst du mich damit um Hilfe rufen, falls du in Gefahr bist?«
Kaèl nickte.
»Dann«, Bendix ballte die Faust, »machen wir das so.«
»Sicher?«
»Mach schon«, sagte Bendix gepresst. Er ließ sich wieder in den Stuhl fallen und blickte Kaèl erwartungsvoll an.
»Gut.« Kaèl legte seine Hand auf Bendix’ Stirn und schloss die Augen. Zunächst war da Widerstand, aber nach etwas probieren schien Bendix sich zu entspannen, und Kaèls Energie konnte frei fließen. »Hörst du mich?«, schickte er in Gedanken zu ihm.
»Klar und deutlich.«
»Dann denk mal probeweise an irgendein Essen.«
Saftige, rote Äpfel tauchten vor Kaèls geistigem Auge auf. Er lachte. »Äpfel, das gefällt mir.«
Bendix lächelte, aber auf eine ganz bestimmte Weise. Er blinzelte, und seine Pupillen vergrößerten sich. Auf einmal änderte sich das Bild, und Kaèl sah sich selbst, nackt auf einem Bett liegend, die Arme hinter dem Rücken gefesselt. Seine Augen waren weit aufgerissen, Tränen schimmerten in den Rändern. Ein Apfel steckte in seinem Mund wie ein Knebel.
»Bendix!«, rief er halb empört, halb belustigt. »An was du wieder denkst!«
Bendix wischte Kaèls Hand weg, als würde sie ihn verbrennen. Rote Flecken färbten seine Wangen, seine Ohren glühten. »Du wolltest doch nicht so tief in meinen Kopf bohren!«
»Dann denk nicht so laut!« Kaèl grinste und legte eine Hand auf Bendix’ Schenkel. »Weißt du, dass in Aomòri bald Apfelzeit ist?«, fragte er. Er klimperte lasziv mit den Wimpern.
»Du bist wirklich unmöglich.« Bendix verdrehte die Augen. »Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für sowas!«
Kaèl kicherte.
Ruckartig erhob Bendix sich. »Egal, ich reite jetzt los.«
»Warte.« Kaèl hielt ihn am Ärmel fest. »Bitte pass auf dich auf! Ich liebe dich!«
Bendix’ Miene wurde weich. »Du machst dir zu viele Sorgen! Es wird schon alles gut gehen.« Er beugte sich vor und küsste Kaèl auf die geschlossenen Lippen. »Ich liebe dich auch.«
Mit den Worten war er zur Tür heraus, und Kaèl starrte ihm hinterher.
Kopfschüttelnd rollte er die Karte zusammen und erhob sich.
Es würde eine lange Nacht werden.
oOOo
Zum Glück gab es am Pass genug Lehm für eine ganze Horde an Golems. Mehr als zwanzig wuselten um ihn herum und es hätte sogar für mehr gereicht. Aber Kaèl musste sich seine magische Energie für die weiteren Schritte aufsparen, mit dem Wall allein war es nicht getan. Schon jetzt spürte er ein dumpfes Pochen im Nacken und an den Schläfen. Morgen würde er sicherlich mit Kopfschmerzen aufwachen, so wie immer, wenn er sich übernommen hatte.
Er ließ die eine Hälfte der Golems große Äste und Steine zusammentragen, die anderen stopften Sand in Jutesäcke und füllten damit die Zwischenräume aus.
Nervös schaute er zum Horizont. Es verblieben nur noch wenige Minuten, bis das Wasser sie erreichen sollte, und er hatte nur eine vage Vorstellung davon, wie viel es werden würde.
Sicher war: Es würde knapp werden.
Er tastete nach Bendix’ Geist. »Das Wasser sollte jederzeit hier sein. Habt ihr die Leute evakuiert?«
»Alle, die Pferde hatten, sind in Sicherheit. Den Rest haben wir in die Kutschen gesetzt. Sie sollten hoffentlich noch rechtzeitig wegkommen. Wir werden die Letzte nehmen. Denkst du, damit sind wir schnell genug?«
Kaèl nickte, obwohl Bendix das nicht sehen konnte. »Das solltet ihr, sofern mir gelingt, was ich mir vorgenommen habe.« Und wenn nicht, dann ist es auch egal, fügte er in Gedanken hinzu. Dann sterben wir sowieso alle.
»Dann mache ich noch eine letzte Runde, ob ich –«
Ein ohrenbetäubendes Knacken gefolgt von einem Gurgeln ließ Kaèl aufhorchen. »Warte mal, Bendix!«
Er drehte sich um. Verdammt, war das viel Wasser!
Die heranrollende Woge war höher als Kaèl erwartet hatte, und sie überragte seinen Wall um einige Meter.
Ohne nachzudenken, sprang er direkt vor die Fluten.
»Was passiert da?«, hörte er Bendix’ Stimme.
Kaèl ignorierte die Frage. Er hob die Hand. Aus seinen Fingern schlugen kleine, magische Blitze. Leise knisterten die Entladungen in sein Ohr.
Vielleicht war es das Letzte, was er hörte. Aber selbst wenn es so war, er bereute nichts. Er hatte die richtigen Entscheidungen in seinem Leben getroffen. Außer vielleicht … dass er sich heute nicht für die edlere Robe entschieden hatte. Wenn sie ihn später fanden, dann würde er in diesem Fetzen hier unvorteilhaft ausseh–
Er schüttelte den Kopf. So sollte er nicht denken!
Er hatte diese eine Chance, entweder, er traf den richtigen Moment, oder es würde ihn, den Wall und die Stadt hinfortreißen! Er schloss die Augen, konzentrierte sich auf sein Gehör. Sammelte seine Magie, bis zum letzten Augenblick, wo die Wasserwand direkt vor ihm stand. Er konnte die einzelnen Wassermoleküle in der Luft vor sich spüren, fühlte ihre Schwingungen und feinste Bewegungen.
Kaèl atmete tief ein, drängte Zweifel und Angst beiseite. Dann ließ er los.
Es knirschte, dann war alles still.
Kaèl wagte nicht, die Augen zu öffnen. Aber er war noch nicht ertrunken, also konnte es so schlimm nicht sein, oder?
Vorsichtig hob er die Lider. Direkt vor ihm stand eine riesige Flutwelle, die ihn gut dreimal überragte, zu einer Eissäule erstarrt. Das nachfließende Wasser klatschte dagegen, wurde von dem Eis geteilt und in seiner Wucht gebremst, bis es nur noch sanft gegen seinen Wall brandete.
Der Wall hielt. Kaèl hatte nicht einmal nasse Füße.
Erleichtert stieß er die Luft aus. »Geschafft!«, rief er, und die Golems neben ihm klatschten.
Als sich sein Herz wieder beruhigt hatte, suchte er nach Bendix’ Geist. »Es ist alles gut gegangen«, übermittelte er ihm. »Wie ist es bei dir?«
»Ich kann das Wasser schon am Horizont sehen. Es sollte gleich hier sein.«
»Bist du in Sicherheit?«
»Ich bin in einer der Kutschen. Es sollte alles gut geh – Oh, warte mal, Kaèl.« Das Gesicht einer Elbin tauchte vor Bendix’ Blickfeld auf, und Bendix und sie tauschten ein paar hektische Worte, die Kaèl nicht zur Gänze erfasste. Dafür pochten seine Schläfen zu laut. Seine Kopfschmerzen wurden langsam besorgniserregend. Unter normalen Umständen hätte er sich ins Bett gelegt und alle Vorhänge zuziehen lassen. Das ging jetzt natürlich nicht, aber immerhin hatte er die anstrengenden Zauber bewältigt. Den Rest der Nacht würde er auch noch hinter sich bringen.
Bendix fluchte.
»Was ist los?«, fragte Kaèl alarmiert. Er rieb sich die Nasenwurzel.
»Wir haben ein Haus vergessen. Und ausgerechnet da leben zwei kleine Kinder, die nicht schwimmen können!«
Bendix wandte sich wieder der Frau zu. »Das bekomme ich hin«, sagte er zu ihr. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Zur Not schwimme ich dorthin und hole die Leute da raus.«
Kaèl ballte die Faust. »Das Wasser ist gleich da! Bleib bei der Kutsche!«
Aber Bendix sprang schon hinaus und rannte in Richtung Tal.
»Bendix!«, rief Kaèl. Entgeistert beobachtete er, wie Bendix sich mit drei Blinksprüngen vor dem heranrollenden Wasser bis zum Haus und dann auf das Hausdach rettete.
Kaèl atmete auf.
Von oben starrte Bendix auf die Fluten. Die erste Woge schlug klirrend durch die Fenster. »Ich dachte, ich schaffe es«, sagte er deprimiert.
»Nein, verdammt!«, rief Kaèl. »Mach sowas nie wieder! Ich hätte dir vorher sagen können, dass du zu spä–«
Hinter ihm knirschte es.
Er wandte sich um. Seine Eismauer vibrierte, dann barst sie, mit einem ekelhaft hohen Sirren.
Kaèl machte einen Satz nach hinten. »Bei allen Drachen!«, fluchte er. »Das hat mir gerade noch gefehlt!«
Er war müde, seine Energie war erschöpft. Aber ohne die Eismauer klatschten die Wassermassen direkt auf seinen Wall und rissen ganze Äste heraus, schwemmten Lehm und Sand fort. Die Golems schütteten zwar ununterbrochen neuen Sand hinzu, aber auf Dauer würde das Wasser die Oberhand gewinnen.
Kaèl hob die Hand. Seine Finger zitterten, nein, es war der ganze Arm, der bebte. Er biss die Zähne zusammen, blinzelte gegen die Blitze an, die über seine Iris tanzten. Mit seinen letzten Kräften zog er per Telekinese die Backsteine einer Ruine zu sich, und ließ sie ins Wasser fallen. Er ordnete sie zu einer bizarren Hügelformation an, an der sich die Wogen brachen.
Erleichtert stieß er die Luft aus. Es war nicht elegant, aber es schien zu funktionieren.
Als er vom Wall hinabsteigen wollte, überwältigte ihn ein Schwächeanfall. Er fiel auf die Knie, griff sich an die Brust. Sein Puls raste, es flimmerte vor seinen Augen. Langsam und kontrolliert atmete er ein und aus, wie er es an der Akademie gelernt hatte.
»Kaèl?«, hörte er Bendix’ Stimme.
Kaèl ächzte leise.
»Kaèl!«
Kaèl schlug die Augen auf. »B-Bendix?«
»Ah, beim großen Kreis des Lebens, da bist du ja!«
»Hmm«, murmelte Kaèl. »Erschöpft.«
»Hier ist ein merkwürdiges Wesen im Wasser. Es lässt mich nicht mehr ans Haus.«
Es dauerte eine Weile, bis Kaèl sich auf das fokussieren konnte, was Bendix vor sich sah. Er riss die Augen auf. Sein Magen krampfte sich zusammen. Ein schlangenartiger Drache mit silbrigen Schuppen schwamm in langsamen Kreisen vor Bendix durch das Wasser. Kaèl kannte Lindwürmer aus alten Sagen. Sie waren fast ausgestorben, aber einige wenige Exemplare hausten noch in den tiefen Bergseen, fernab jeglicher Zivilisation. Sie waren grausame Wesen und verteidigten ihr Territorium mit ihrem Giftbiss. Dieses Exemplar musste wohl durch die Flut heruntergespült worden sein.
»Komm da weg!«, rief er. »Das ist ein Lindwurm, die sind giftig!«
»Aber ich muss doch noch das andere Kind holen. Und den Vater.«
»Nein«, schrie Kaèl, »du musst da weg! Dieses Biest ist aggressiv! Wenn es dich beißt, bist du tot!«
»Aber ich kann doch nicht die Leute –«
»Bendix! Spiel jetzt bloß nicht den Helden!«
»Kaèl, ich weiß was ich tu–«
»Nichts weißt du«, brüllte Kaèl, »Du musst –«
»Weißt du was?«, rief Bendix genervt. »Ich hab keine Lust mehr auf deine Kommentare! Ich kann das selbst beurteilen!«
Es wurde schwarz.
»Bendix!«
– Nichts.
Bendix hatte die Verbindung gekappt.
Kaèl versuchte einmal, zweimal, zehnmal die Verbindung wieder herzustellen, aber es blieb still.
»Dieser verblendete Mann!«, fluchte er. Er rannte zu seinem Pferd und schwang sich mit einem Satz drauf. Das arme Tier wieherte, aber Kaèl drückte ihm die Fersen in die Flanken. Sie preschten los.
oOOo
Zwei kleine Elbenkinder standen völlig durchnässt am Ufer. Das Größere hatte seinen Arm um das andere geschlungen, das kleine, das vielleicht gerade Mal laufen konnte, weinte. »Der nette Mann ist ganz stark«, sagte die Große. »Der kann sogar den Papa tragen. Sie kommen gleich, ganz bestimmt. Das hat der nette Mann versprochen.«
Kaèl trat näher. »Wo ist euer Papa?«, fragte er die große.
Sie deutete nach links. »Hinter den Bäumen.«
Er ließ seinen Lichtzauber dorthin wandern. Von den Bäumen ragten nur noch die Kronen aus dem Wasser.
»Danke«, sagte Kaèl.
Er schloss die Augen, um die Kopfschmerzen beiseite zu drängen, dann hexte er ein paar der herumtreibenden Planken zu einem Floß zusammen. Kurz schöpfte er Atem. Als die Blitze hinter seinen Augen verebbten, erzeugte er einen Golem und drückte ihm zwei Planken als Ruder in die Hand. Kaèl hüpfte auf das wackelige Floß und ließ sich in die ausgewiesene Richtung rudern. Der Golem ruderte so schnell, dass das Wasser hinter ihnen aufspritzte, wie eine Fontäne.
Als sie die Bäume umrundet hatten, erfasste sein Lichtzauber eine Bewegung im Wasser. Es war keine menschliche Bewegung, sie war schnell und schlängelnd. Ihm gefror das Blut in den Adern.
Er nahm allen Mut zusammen, und wies dem Golem an, langsam näher zu rudern. Jetzt erfasste er es zur Gänze. Das Wesen, ein Lindwurm so lang wie zwei Pferde, schwamm nicht nur schnell, sondern zielgerichtet, als würde er etwas verfolgen. Etwas … oder jemanden. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Kaèl ließ seinen Lichtzauber vor dem Lindwurm fliegen, und ja, da waren zwei Köpfe an der Wasseroberfläche, nur wenige Meter von dem Wesen entfernt.
»Bendix!«, brüllte er aus vollem Halse. Er hielt auf den Lindwurm zu, ließ den Lichtzauber taghell aufleuchten und riss die Arme gen Himmel. »Hier! Komm hierhin, friss mich, wenn du dich traust, aber lass die beiden in Ruhe!«
Der Lindwurm drehte seinen Kopf zu ihm. Seine geschlitzten, giftgrünen Augen erfassten Kaèl. Für zwei Atemzüge starrten sie sich an, dann blinzelte der Lindwurm und hielt direkt auf das Floß zu.
»Genauso«, murmelte Kaèl. »Schwimm in dein Verderben.«
Seine Knie zitterten, aber er musste nur noch diesen einen Zauber bewältigen. Nur noch einmal die Hände heben, seine Energie sammeln. Die notwendigen Gesten vollführte er mit halbgeschlossenen Augen, fast wie im Schlaf. Er staute so viel Energie an, bis sein Kopf drohte, zu explodieren, dann ließ er los.
Der Tornado schlug sich seine Bahn durch das Wasser. Es schmatzte laut, als er gegen den Lindwurm stieß, und ihn in die Höhe riss. Der Lindwurm strudelte um die eigene Achse, während er hunderte von Metern durch die Luft befördert wurde. Immer weiter, bis er mit einem lauten Klatschen wieder auf der Wasseroberfläche aufsetzte.
»Ruder zu den Leuten!«, herrschte er den Golem an. Im Rekordtempo hatten sie die beiden erreicht. Der Golem zog zunächst den Elb von Bendix’ Rücken und legte ihn auf die Planken, wo er schwer atmend liegen blieb. Dann hievte er Bendix auf das Floß.
Bendix wirkte durch und durch erschöpft, er keuchte und hustete. Aber er war hier, bei Kaèl, und er atmete. Erleichtert ließ Kaèl sich neben ihn sinken. Er umklammerte Bendix’ Arm. »So was tust du nie wieder«, murmelte er. »Ich wäre fast gestorben vor Sorge!«
Matt schüttelte Bendix den Kopf. »Nie wieder.«
Kaèl seufzte. Er vergrub sein Gesicht an Bendix’ nasser Brust und es war, als löste sich die Anspannung der gesamten Nacht, er weinte, und lachte gleichzeitig. »Mach das nie wieder«, brabbelte er. »Nie wieder.«
Kaèl musste wohl eingeschlafen sein, denn als er die Augen wieder öffnere, waren sie am Ufer angelangt, und Bendix und der Elb bereits an Land. Am Horizont wurde es langsam wieder hell, ein zartes Rosa vor dicken, grauen Wolken.
Der Golem streckte Kaèl die Hand entgegen und schaute ihn erwartungsvoll an. Kaèl ergriff sie und ließ sich ans Ufer ziehen. Er feuerte eine bunte Leuchtsalve in den Himmel, um damit um Hilfe zu rufen, dann wankte er zu den anderen.
Der Elb saß mit den beiden Kindern auf dem matschigen Boden, daneben hockte Bendix auf einem Baumstumpf.
Die Kinder weinten leise. Das Kleine saß auf dem Schoß des Vaters, das Große klammerte sich an seine Taille. Der Elb war verletzt. Seine helle Tunika war zerrissen und voller Blut, und sein linker Arm wirkte merkwürdig verdreht. Am Ellenbogen schaute der Knochen aus dem Fleisch.
Kaèl wurde übel. Er drehte den Kopf zur Seite.
Die Verletzung schien den Elb nicht zu entmutigen, er redete unentwegt auf Bendix ein: »Die anderen hätten uns wirklich vergessen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Sie nicht da gewesen wären.« Er schüttelte sich. »Mit dem Arm hätte ich nicht schwimmen können. Wir wären nie aus dem Haus gekommen. Meine Mädchen und ich, wir wären gestor–«, er linste zu seiner älteren Tochter, »ich meine, Sie haben uns alle gerettet! Wir können Ihnen gar nicht genug danken!«
Bendix schien seine Worte kaum wahrzunehmen, er sagte nichts, nickte nur ab und zu an den falschen Stellen.
Kaèl trat zu ihm. Er legte eine Hand auf Bendix’ Schulter. »Das ist ja gerade noch einmal gut gegangen«, sagte er leise zu Bendix.
»Hmm«, machte Bendix. Er war bleich und zitterte.
»Du siehst so fertig aus, wie ich mich fühle«, bemerkte Kaèl. »Aber keine Sorge, ich habe Hilfe angefordert, bald sind sie hier. Dann können wir uns endlich ausruhen.«
Bendix schloss die Augen. Eine dünne Blutspur lief aus seinem Mund.
Ein dunkles Gefühl stieg in Kaèl auf. Irgendetwas war falsch. Bendix verhielt sich so untypisch – egal, wie hart er früher geschuftet oder gekämpft hatte, Kaèl hatte ihn noch nie so apathisch gesehen.
»Bendix?«, fragte Kaèl, um einen ausgeglichenen Tonfall bemüht, obwohl in seinen Eingeweiden die Panik blubberte. »Ist alles in Ordnung?«
Bendix atmete schnell und flach. Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
»Komm, steh auf.« Kaèl hielt Bendix die Hand hin. »Bitte«, schob er nach. »Bitte, steh auf!« Er rüttelte an Bendix’ Schulter.
»Ich kann nicht«, ächzte Bendix. »Mein Fuß. Er ist taub.«
»Taub?«, wiederholte Kaèl. Alle Alarmglocken schrillten in ihm. »Was ist passiert? War das der Lindwurm?« Seine Stimme überschlug sich. »Hat er dich gebissen?«
Langsam nickte Bendix.
Kaèl wurde eiskalt. Lindwürmer hatte eines der stärksten Gifte in ihren Fangzähnen. »Er hat dich gebissen?«
»Ich konnte ihn nicht davon abhalten. Ich hatte den Vater auf dem Rücken.«
Kaèl ging vor ihm in die Hocke. Er schlug Bendix’ Hosenbein hoch. Der Unterschenkel war schwarzgrau angelaufen, bis knapp über die Kniescheibe. »Oh Bendix! Du brauchst Hilfe.« Er blickte um sich. »Wir können hier nicht bleiben, wir müssen in die Stadt reiten, du brauchst eine Heiler*in!«
Bendix schüttelte den Kopf. »Kann nicht laufen.«
Kaèl versuchte, Bendix mit seiner Magie anzuheben, aber dafür reichte seine Energie nicht mehr. Er hatte alles verbraucht.
Mit einem Seufzer legte er Bendix’ Arm über seine Schultern. »Komm, ich stütze dich.«
Langsam, Schritt für Schritt, setzten sie sich in Bewegung. Bendix atmete schwer und lehnte wie ein nasser Sack auf ihm, aber Kaèl trieb ihn immer weiter an. Mit jedem Atemzug stieg das Gift höher in Bendix’ Körper. Noch lähmte es nur den rechten Unterschenkel, aber in ein paar Stunden, spätestens morgen, würde es das Herz erreichen. Sie mussten vorher zu einer Heiler*in. Und zwar einer verdammt Guten – wie viele Heiler*innen in der Gegend hatten so etwas schon einmal behandelt?
»… kann nicht mehr …« Bendix sank auf die Knie.
Kaèl keuchte. »Bitte Bendix, wir müssen weiter. Wir können nicht hierbleiben.« Mit einer letzten Kraftanstrengung zog er Bendix wieder hoch auf die Füße. Ein paar wackelige Schritte schafften sie, dann stolperte Bendix, klammerte sich mit seinem gesamten Gewicht an Kaèl und riss ihn zu Boden.
»Bendix!« Kaèl lehnte sich über ihn. Er nahm Bendix’ Hand in die seine.
Der Elb rüttelte an Kaèls Schulter. »Was hat er? Kann ich irgendwie helfen?«
»Er ist vergiftet und braucht eine Heilerin!«
Die Augen des Mannes weiteten sich. »Der Lindwurm?«, hauchte er, und Kaèl nickte.
»Ich nehme an, Sie wollen bei ihm bleiben?«
Erneut nickte Kaèl, während ihm Tränen die Wangen herunterliefen.
»Dann werde ich versuchen, mit Ihrem Pferd in die Stadt zu reiten. Das bin ich ihm schuldig. Ich rede nur kurz mit meinen Mädchen.«
Kaèl bekam nur am Rande mit, wie er davonritt. Bendix war das Einzige, was zählte.
Bendix’ Augen öffneten sich. Er schaute Kaèl ins Gesicht, mit unfokussiertem Blick. »Kaèl«, sagte er leise.
Er sprach seinen Namen so anders aus als alle anderen. Weicher. Es war, als wäre Kaèls Name sicher in Bendix’ Mund. Das war Kaèl bereits früh aufgefallen, schon, als sie noch gegeneinander gekämpft hatten, aber damals hatte er es noch nicht verstanden.
»Es wird alles wieder gut.« Er drückte Bendix’ Hand. »Du darfst jetzt nur nicht einschlafen, hörst du?«
Bendix’ Lider fielen immer wieder zu. »… kann nicht mehr.«
Kaèl rüttelte ihn an der Schulter. »Nicht einschlafen, Bendix! Sieh mich an!«
Bendix riss die Augen auf, sie waren riesig in ihren Höhlen.
»Genauso«, brabbelte Kaèl, »Halt noch ein bisschen durch. Es kommt gleich Hilfe! Du musst nur wach bleiben!«
»Hmm.« Bendix’ Hand wurde schlaff. Seine Augen fielen zu.