Vorbemerkung: "Herrengold" habe ich geklaut -- das gabs in den 50ern wirklich (als "Frauengold"), für die "lebensfrohe Hausfrau": https://www.youtube.com/watch?v=0epblS_cyXQ
Die Zeitung raschelte. »Und wieder hat dieser Schuft zugeschlagen«, sagte sein Vater und goss einen weiteren Schuss ›Herrengold‹ in seinen Tee. Er hortete unzählige Phiolen mit Zaubertränken in seiner Hausapotheke, aber ›Herrengold‹ war sein absoluter Favorit. Mit der Meinung war er nicht allein, angefeuert durch die geschickten Werbeversprechen: ›Eine Kur mit Herrengold – und man sieht nur noch die guten Seiten. Für Spannkraft, Frische und innere Ausgeglichenheit‹ – war es gerade der Renner unter allen gelangweilten, adeligen Hausmännern. Kaèl vermutete, dass sich hinter dem glänzenden Tonikum nichts weiter als flüssiges Opium verbarg.
»Der Hexenjäger?«, fragte seine Mutter und Kaèl merkte bei dem Namen auf. »Wen hat es diesmal getroffen?«
»Madame Hroth.«
»Ah, die Anführerin der Armee der Whitecrows. Unvorstellbar, dass er sie besiegt hat.«
»Er sucht sich immer nur die Besten heraus.« Elìrios schlug die Zeitung zu.
Und wieso dann nicht mich?, fragte sich Kaèl. Er beugte sich vor. »Wenn er so gefährlich ist, wieso wird er nicht aufgehalten?«
»Ja, wenn das so einfach wäre, dann wäre der Kerl längst tot«, sagte seine Mutter. »Aber er versteckt sich, keine weiß, wo sich sein Unterschlupf befindet. Ich habe bereits vor geraumer Zeit Madame Treverers Grauen auf ihn angesetzt, aber bislang hatten sie bei ihrer Fahndung keinen Erfolg.« Sie zerknüllte ihre Serviette.
»Haben sie irgendeine Idee, wo man ihn findet?«
»Kaèl’thas, ich will an meinem freien Tag nichts davon hören. Wenn dich das Thema so interessiert, dann frage Madame Treverer, sie wird, wie immer, alles sorgfältig dokumentiert haben.«
»Hmmm«, brummte Kaèl gedankenversunken.
Vielleicht reichen meine sechs Bücher nicht, vielleicht muss ich mich mehr in der Öffentlichkeit zeigen, um ihn auf meine bahnbrechende Magie aufmerksam zu machen.
»Was hast du denn auf einmal mit dem Hexenjäger?«, fragte sein Vater.
»Nichts«, log Kaèl und senkte den Kopf über seine Eiersuppe mit Safran.
Vielleicht sollte ich mir wirklich einmal Myriams Dokumente ansehen.
Er ließ den Löffel sinken.
Warum nicht gleich? Er hatte sowieso keinen Hunger mehr.
Abrupt stand er auf. »Ich muss euch leider allein weiteressen lassen. Ich muss noch ein wichtiges Buch für meine Prüfung besorgen, verzeiht.« Fluchtartig verließ er den Raum.
Aber anstatt die Kutsche nach Nishaì zu nehmen, eilte er zum Westflügel des Schlosses und klopfte an Myriams Tür. Als engste Vertraute seiner Mutter bewohnte sie ein komfortables Apartment im Schloss, um ihr stets zur Hand gehen zu können. Es dauerte einige Zeit, bis er Schritte hörte. Es war ja Wochenende, fiel ihm ein, sie hatte bestimmt frei.
Die Tür öffnete sich, und eine ihm unbekannte grauhaarige Elbin lugte durch den Spalt. Als sie ihn erblickte, zuckte sie zurück. »Lord Hotàru!«
»Ist Madame Treverer da?«
Die Frau verschwand, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Wenige Atemzüge später erschien Myriam, mit verstrubbelten Haaren. Ihr Gesicht entspannte sich, als sie ihn erblickte. »Ach, du bist es, Kaèl.« Sie lächelte verschwörerisch. »Ich hatte befürchtet, deine Eltern wären mir und Elìsa auf die Schliche gekommen.«
Kaèl legte einen Zeigefinger an die Lippen und schüttelte den Kopf. Myriam war lesbisch, war aber wegen ihrer gehobenen Stellung, und vor allem wegen der konservativen Einstellung von Kaèls Mutter, dazu gezwungen, ihre diversen Beziehungen zu verbergen, genau wie Kaèl seine libidinösen Experimente. Aus dem Grund herrschte ein stillschweigendes Einverständnis zwischen ihnen. Mehr als einmal hatte sie ihm ein Alibi für ein exquisites Wochenende verschafft.
»Womit kann ich dir helfen?«, fragte sie.
»Der Rat der Elf befasst sich zur Zeit mit den Verbrechen des Hexenjägers, und Mutter meint, dass du Informationen über ihn hast.«
Er wollte nicht zugeben, dass allein er Interesse an dem Thema hatte, deshalb war es gut, eine Instanz wie die illustre Erzmagier*innen-Riege vorzuschieben.
»Ich habe einiges über ihn archiviert, aber noch nicht ausgewertet«, sagte sie. »Bislang hat uns die Ritzerin von Nishaì in Atem gehalten. Aber das Thema ist ja jetzt erledigt.« Sie lachte zufrieden.
Kaèl hatte keinerlei Idee, wovon sie sprach – er interessierte sich nicht für Nachrichten, mit Ausnahme von magischen Publikationen – aber er verbarg seine Unkenntnis hinter einem wissenden Lächeln. »Kann ich in die Unterlagen sehen?«
»Tu dir keinen Zwang an«, sagte Myriam. »Ich lasse sie auf dein Zimmer schicken.«
Knapp eine Stunde später brachte eine Dienerin eine große metallene Kiste voller Papiere, Artikel und Notizen herbei. Kaèl schüttete alles auf dem Boden aus und wühlte sich durch die Zeitungsartikel der letzten Jahre.
Über seine einsamen Studien schien ihm einiges entgangen zu sein. Der Hexenjäger hatte während der letzten Jahre mehr als ein Dutzend Morde in ganz Finistère begangen. Dabei lief es immer gleich ab: Er sammelte Informationen über seine Opfer oder stellte ihnen nach, bis er ihre Angewohnheiten verinnerlicht hatte. Dann lauerte er ihnen an einer einsamen Stelle auf und forderte sie zum Duell heraus. Und dann tötete er sie. Es war erstaunlich, nicht eines seiner Opfer war mit dem Leben davongekommen, dabei waren die attackierten Magi definitiv wehrhaft gewesen.
Mit seinem Finger folgte er auf einer Karte Finistères den Orten der Verbrechen. Es wirkte, als hätte sich der Hexenjäger systematisch eine Lordschaft nach der anderen vorgenommen, um dort seine Gräueltaten zu verüben. Fünf der neun Lordschaften hatte er bereits abgearbeitet.
Die ersten Morde waren in Whisperwood, also nahe der Grenze zum Menschenland Dinstermor passiert. Darüber gab es nur wenige Informationen, Kaèl vermutete, dass die Behörden damals keinen Zusammenhang zwischen den Todesfällen erkannt hatten. Aber dann breiteten sich die Morde über Ryumàr nach Avalon aus. Seitdem füllte der Hexenjäger die Schlagzeilen der Zeitungen und sorgte für allerlei Spekulationen. Das Phantombild wurde erstellt und in allen Geschäften und Amtsstuben aufgehängt, ohne Erfolg. Der Hexenjäger ließ sich nicht aufhalten. Im letzten Jahr hatte er Beechlands und Willows heimgesucht und zuletzt, seit knapp einem halben Jahr, dann Kaèls Fukuòka.
Interessant war, dass der Hexenjäger in der letzten Zeit mehrfach in Gaststätten gesichtet wurde, wo er, im Tausch für ein paar Getränke und eine warme Mahlzeit, Informationen über seine Opfer einholte.
Besonders bei den Menschen Fukuòkas schien er einige Beliebtheit zu genießen. Zeug*innen hatten den Grauen sogar berichtet, dass ihm mehrfach Lebensmittel oder andere Kleinigkeiten geschenkt worden waren, aber niemand von ihnen hatte sich getraut, Namen zu nennen, aus Furcht vor Vergeltung des Hexenjägers.
Kaèl holte einen genaueren Plan Fukuòkas hervor und zeichnete dort alle Gaststätten und Marktstände ein, an denen er gemeldet worden war. Diese Besuche bildeten ein radiales Muster um eine Region nahe dem Zentrum von Fukuòka. Anscheinend war der Hexenjäger sesshaft geworden, und zwar, wenn Kaèl seine Markierungen korrekt deutete, mitten im Silberwald.
Kaèl frohlockte. Der Mörder wohnt ganz bei mir in der Nähe!
Kaèls Recherche musste Stunden gedauert haben, denn es war bereits dunkel, als er aus seiner arbeitsamen Trance erwachte.
Zusammen mit Mister Taryòn brachte er die Unterlagen zum Geheimarchiv zurück. Diesmal saß Myriam dort an ihrem Schreibtisch, die Feder in der Hand. »Und, etwas gefunden?«, fragte sie, als sie die Papiere in Empfang nahm.
Er zögerte kurz. Irgendetwas hielt ihn davon ab, ihr die Wahrheit zu sagen. Das hier war seine Angelegenheit und nur er wollte das Rätsel um den Hexenjäger lösen, ohne Unterstützung von Myriams Geheimgarde.
»Nicht wirklich«, log er. »Er scheint seinen Aufenthaltsort regelmäßig zu wechseln.« Er zuckte mit den Schultern. »Schade, das wird den auserwählten Elf keine Hilfe sein.«
»Bald heißen sie ›auserwählte Zwölf‹.« Sie zwinkerte ihm zu.
Ihm wurde warm vor Freude. Nur noch vier Monate!
Sie wurde wieder ernst. »Was den Hexenjäger angeht – Wir haben Wachen an allen größeren Straßen und Stadttoren aufgestellt. Mach dir keine Sorgen, deine Wege sind sicher.«
Keine Sorgen. Er verkniff sich ein Grinsen. Meine Sorge ist eher, dass er mich nicht findet.
Aber das würde sich bald ändern. An einigen Stellen war der Hexenjäger mehrmals gesichtet worden. Sollte er dort nächstes Mal eine Auskunft suchen, dann würden die Leute ihn auf eine ganz andere Spur bringen. Auf eine, die in Kaèls säuberlich gesponnenes Netz führte.
Er hatte schon die Schlagzeilen im Kopf, sollte sein Plan aufgehen:
»Sensation! Jüngster Erzmagi des Landes besiegt Hexenjäger.«
›Denn wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, dann kommt der Prophet eben zum Berg‹, dachte er.
oOOo
Alles an dem Ort war trostlos. Die Felder waren stoppelig abgeerntet, die Wege staubig und ein einsamer Köter kläffte hinter einem Zaun. Eine Bäuerin mit Kopftuch warf ihm einen misstrauischen Blick zu, als Kaèl durch den Schotterweg hin zur einzigen Gaststätte schritt. Er hatte bewusst einfache Kleidung gewählt und seine Haare mit einem Zauber verdunkelt, um nicht als Lord Hotàru erkannt zu werden. Die hoheitsvolle Kutsche hatte er ein paar hundert Meter weit vom Dorf entfernt stehen lassen.
Dennoch schien er aufzufallen, als Elb in diesem hauptsächlich von Menschen bewohnten Dorf. Davon gab es über Fukuòka verstreut ein paar – die Menschen hatten sich irgendwann während der letzten zwei Dekaden hier angesiedelt, um dem Hunger und den Krankheiten zu entgehen, die ihre Heimat regelmäßig erschütterten.
Kaèls Eltern beäugten diese Völkerwanderungen mit Misstrauen. Aber die Menschen hier zahlten brav ihre Steuern und fuhren Jahr für Jahr ihr Korn in Nishaìs Speicher ein, daher fehlte ihnen die rechte Motivation, sie wieder fortzujagen.
Kaèl hatte eine indifferente Einstellung gegenüber Menschen. Er kannte keinen persönlich, der letzte Krieg war über siebzig Jahre her, und die Geschichten seiner Großeltern von Inquisition und Folter waren für ihn nicht mehr, als längst vergangene Schauermärchen.
Er begriff allerdings nicht, warum die Menschen sich in Dörfern wie diesem absonderten. Die Städte Fukuòkas waren so viel ansprechender – die unterentwickelten Menschen hätten dort einiges von den Magi lernen können.
Aber wahrscheinlich wollen sie überhaupt nichts von uns lernen, dachte er mit Blick auf die armseligen Lehmhäuser. Was eine bedauerliche, triste Existenz.
Die Gaststätte war das einzige Fachwerkhaus des Dorfes. Vor der Tür zögerte Kaèl kurz. Bereits hier draußen schlug ihm der Geruch von billigem Fusel und in ranzigem Fett gebratenen Speisen entgegen. Hilfesuchend blickte er zu seiner Leibgarde, die sich entspannt zu beiden Seiten der Tür positioniert hatte.
Er gab sich einen Ruck, und drückte die Klinke herunter. Drinnen war der Gestank beinahe unerträglich und die Luft im Raum verbraucht und stickig. Kaèl fühlte sich unwohl. Es war nicht seine Art, zuviel Zeit mit anderen in geschlossenen Räumen zu verbringen. Zum Glück war es später Nachmittag und die Kneipe erst spärlich besucht, nur drei alte Männer saßen in einer Ecke und spielten Karten.
Kaèl trat an den Tresen. Der glatzköpfige Wirt ließ einen verwunderten Blick zwischen Kaèl und seiner Eskorte hin- und herschweifen. Er machte eine ungelenke Verbeugung. »Willkommen, edler Herr.«
›Edler Herr‹ nicht ›Mylord‹. Kaèls Verkleidung schien ihren Zweck zu erfüllen.
»Kennen Sie diesen Mann?« Er hielt dem Wirt das Phantombild des Hexenjägers vors Gesicht.
»So einen habe ich schon mal gesehen«, überlegte der Wirt. »Er war hier, ein paar Mal. Wieso fragen Sie?«
Kaèl rollte das Plakat wieder ein, nicht ohne selbst einen kurzen Blick darauf zu werfen. »Das ist der Hexenjäger, ein gesuchter Mörder.«
Der Wirt wich zurück, blass um die Nase. »Das war mir nicht bekannt.«
Lügner, dachte Kaèl. Du deckst ihn, wie die meisten Menschen hier.
»Wie auch immer.« Er zückte einen Goldbeutel und warf ihn auf den Tresen. »Wenn der Kerl hier wieder auftaucht, und Auskünfte über eines seiner zukünftigen Opfer verlangt, dann werden Sie ihm folgendes sagen: ›Kaèl Hotàru ist der bedeutsamere Magi. Wenn er einen töten sollte, dann den.‹«
»Verstehe ich das richtig? Sie wollen, dass ich den Hexenjäger auf Lord Hotàru ansetze?«
»Genau«, sagte Kaèl.
Der Mann schob den Goldbeutel wieder zu Kaèl hin. »Ich werde unseren Lord nicht in eine solche Gefahr bringen. Wer sind Sie überhaupt, so etwas vorzuschlagen!«
Entnervt löste Kaèl den Zauber, und sein platinblondes Haar floss über seine Schultern. Der Mann starrte verwirrt, dann riss er die Augen auf. »Lord Hotàru?«
»Höchstpersönlich.«
»Aber ... Sie wollen …?«, stotterte der Wirt.
»Tun Sie das, was ich von Ihnen verlangt habe.« Ohne den Wirt eines weiteren Blickes zu würdigen, stolzierte er zum Ausgang.