Zwei Monate später ...
Kaèl verdrehte die Augen. »Und dann sagte die Dekanin wortwörtlich: ›Er beschäftigt sich mit Dämonologie? Da ist er wohl nicht intelligent genug für echte Magie!‹«
Madame Neomùra lachte. »Wie anachronistisch! So etwas liebe ich ja! Und womit beschäftigt sich diese sympathische Dekanin noch einmal?«
»Transzendenzen der Magie.«
»Ach ja, eine der drei großen Wissenschaften mit dem ›Trans‹ als Präfix. Na, da muss sie sich ja überlegen fühlen.« Kopfschüttelnd griff sie nach ihrem Weinglas.
»Wenn das nicht aus Ihrem Mund käme«, erwiderte Kaèl lachend, »würde ich mich als Transformationsmagi persönlich angegriffen fühlen.«
»Aber einer Translokationsmagi können Sie nicht böse sein?«, fragte sie, ohne eine Miene zu verziehen.
»Nicht bei dem Präfix.« Kaèl zwinkerte ihr zu. »Scherz beiseite, früher hätte ich der Dekanin sogar beigepflichtet.«
»Wie kam es zu Ihrem Sinneswandel?«
Bedächtig legte er sein Besteck beiseite. »Ich habe in der letzten Zeit ein paar intelligente Leute kennengelernt, die nie die Chance hatten, formale Bildung zu genießen. Es wäre ein Verlust, wenn sie nicht die Möglichkeit bekämen, etwas aus ihren Talenten zu machen. Aber um sie zu locken, müssen wir unsere Lehrpläne umstellen und Angebote schaffen, mit denen sie etwas anfangen können.« Er runzelte die Stirn. »Bislang haben Bürgerliche es unnötig schwer, an den Akademien Fuß zu fassen.«
»Es ist eine Schande«, sagte Madame Witfield, »dass ausgerechnet die Dekanin der Ultymir-Akademie diese Ansicht nicht teilt.«
»Also kann ich auf die Unterstützung des Rates hoffen?«
»Meine Zustimmung haben Sie«, sagte Madame Witfield und Madame Neomùra nickte dazu. »Es ist höchste Zeit, dass die Akademien Fukuòkas auch für die unteren Schichten durchlässiger werden. Im Gegensatz zum Adel, der nicht gezwungen ist, zu arbeiten, setzen die Bürgerlichen das Erlernte praktisch um, was die Produktivität der Geschäfte und Fabriken erheblich steigert.«
»Auch das«, sagte Kaèl, »aber ich sehe es vor allem als Chance, die Gesellschaft offener zu machen. Alle sollten das Recht haben, ihre Meinung einzubringen, aber dafür müssen die Leute erst einmal gelernt haben, kritisch zu denken.«
»Für dieses Unterfangen müssten aber auch die pekuniären Hürden gesenkt werden«, sagte Madame Witfield. »Ansonsten ändert sich nur auf dem Papier etwas.«
Kaèl nickte. »Ich arbeite bereits an einem Stipendiensystem, damit sich mehr Bürgerliche Fukuòkas ein Studium leisten können. Es ist nicht ausreichend, aber etwas anderes werde ich auf die Schnelle nicht durchsetzen können.«
»Halten Sie uns auf dem Laufenden. Und bringen Sie zum nächsten Ratstreffen die werte Dekanin mit, dann werden wir sie sanft aber nachdrücklich auf ihre Pflichten hinweisen.«
»Wunderbar.« Nachdenklich schwenkte er sein Wasserglas in der Hand. »Ich bin gespannt, wie sich die Gesellschaft Fukuòkas in den nächsten Jahren ändern wird. Theoretisch sollte sich mit der gesteigerten Produktivität auch die reguläre Arbeitszeit der Leute verkürzen – nicht auszudenken, wie viel Zeit dann für Kreativität und persönliche Weiterentwicklung übrigbliebe!«
Madame Witfield und Madame Neomùra tauschten einen Blick, dann brachen sie in schallendes Gelächter aus.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Kaèl.
»Nein«, Madame Neomùra wischte sich die Augen, »aber darauf warten wir seit dreißig Jahren, ohne, dass etwas nennenswertes passiert ist. Es wirkt so, als hätten die Leute Angst vor der Leere und würden sie lieber mit sinnlosen Tätigkeiten füllen. Aber es ist schön, dass Sie so frisch und enthusiastisch über die Dinge denken.«
»Sie sind jung«, sagte Madame Witfield, »vielleicht erleben Sie Derartiges ja noch.«
Madame Neomùra hob die Hand. »Mehr Wein!« Sie blickte zu Kaèl. »Trinken Sie noch ein Glas mit?«
Bedauernd schüttelte er den Kopf. »Leider nein, morgen erwarten mich dringende Termine. Ich wünschte, ich könnte bleiben.« Das war nicht einmal eine Höflichkeitsfloskel, seit seiner Prüfung hatte er die Furcht vor den Beiden abgelegt und genoss ihre Gespräche.
Sie tauschten ein paar Abschiedsworte, und Kaèl eilte fort.
Es war bereits stockdunkel, als sich die Kutsche in Bewegung setzte. Mister Taryòn und er würden die Nacht durchfahren müssen, morgen früh erwartete ihn bereits das nächste Treffen am Schloss, und der Weg war weit.
Diesmal war er so eingespannt, dass er nicht einmal Bendix besuchen konnte. Allein der Gedanke daran, durch den Silberwald zu fahren, ohne ihn zu sehen, schmerzte ihn. Sie hatten zwar letzte Nacht zusammen verbracht, aber es reichte ihm nicht, es reichte nie, ihn nur für eine Nacht zu sehen.
Kaèl streckte sich auf den Rücksitz aus und wickelte die Decken um sich. Morgen hatte er viel vor, und er sollte versuchen, wenigstens ein bisschen Schlaf zu bekommen.
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Jemand rüttelte an seiner Schulter.
»Nein, Bendix. Ich will nicht meditieren«, nuschelte Kaèl und drückte den Arm weg. Er wälzte sich auf die andere Seite.
»Mylord!« Mister Taryòns Stimme schmerzte in seinen Ohren. »Ihre Gäste erwarten uns in einer halben Stunde.«
Kaèl öffnete erst ein Auge, dann das zweite. Was er sah, gefiel ihm nicht. Er war noch in der Kutsche und anscheinend hatten sie gerade im Schlosshof gehalten. Viel zu früh für seinen Geschmack.
Vorsichtig streckte er sich. Sein Rücken schmerzte, das hatte er davon, dass er auf das bequeme Pensionsbett verzichtet hatte. Selbst Mister Taryòn wirkte müde und ein wenig zerknittert.
Verdrossen wühlte Kaèl sich aus den Decken und schlurfte seinem Diener hinterher.
In seinen Gemächern angelangt, lockte das weiche Bett, aber Kaèl widerstand seinem Sog. Der Kulturrat Fukuòkas tagte heute Nachmittag, und Kaèl musste einen Statusbericht über den Unterricht in den Menschendörfern vorlegen.
Seit einem Monat wurden die Kinder bereits unterrichtet, und heute würde sich entscheiden, ob das ›Experiment‹ weiter fortgeführt werden konnte. Dafür musste er noch einiges vorbereiten.
Innerhalb von wenigen Minuten stand er frisch gebadet vor dem Spiegel und ließ sich von Mister Taryòn in ein frühlingshaftes Gewand mit Glockenärmeln kleiden. Nach der kurzen Nacht hätte er müde sein müssen, aber das Koffein seines Morgentees pumpte durch seine Adern. Im Kopf ging er ein letztes Mal die wichtigsten Argumente durch. Er fühlte sich beschwingt und motiviert.
»Mylord, ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
Verwirrt wandte Kaèl den Kopf. »Natürlich, warum fragen Sie?«
Mister Taryòn nickte in Richtung seiner Handgelenke. »War er das? Ihr ... Freund?« Das letzte Wort brachte er kaum über die Lippen.
»Ah«, sagte Kaèl und musterte die Blutergüsse, die Bendix’ Griff hinterlassen hatte. »Ja, das war mein Freund. Aber ich hatte ihn auch provoziert.« Er kicherte.
»Mylord, ich mache mir Sorgen um Sie.« Mister Taryòn wirkte einen Stillezauber. »Mir sind bereits vor zwei Wochen Hämatome an ihren Oberarmen aufgefallen, die stark danach aussahen, als hätte Sie jemand mit Gewalt festgehalten. Damals ... habe ich nichts gesagt, aber das jetzt ...« Wieder ging sein Blick zu Kaèls Handgelenken. Er schluckte.
Kaèl hob die Arme und bewunderte die schillernden Farbübergänge zwischen Blau und Violett, die sich auf seiner hellrosa Haut gebildet hatten. An der Außenkante seines Unterarms waren die einzelnen Abdrücke von Bendix’ Fingern zu erkennen. Es sah beängstigend aus, beängstigend schön.
Er setzte ein zuversichtliches Lächeln auf und suchte Blickkontakt mit Mister Taryòn. »Es ist nicht so, wie Sie denken. Das ist ein Spiel, das uns erregt.«
Mister Taryòn runzelte die Stirn. »Das mag sein Mylord, aber ich erinnere mich noch an die Zeit vor fünf Jahren, als Sie Madame Fervency genau deshalb verlassen haben. Sie meinten damals, dass Sie sich auf derlei Dinge nie mehr einlassen würden. Und, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, damals sahen Ihre Blessuren harmloser aus als die heute!«
»Lina?« Kaèl versuchte, sich daran zu erinnern, wie es damals für ihn gewesen war, aber wie meist, wenn es um Gefühle von früher ging, tappte er im Nebel.
Hatte er damals die Dinge weniger stark empfunden oder hatte er es nur vergessen? Er schüttelte sanft den Kopf. Es war merkwürdig, in allen anderen Aspekten war sein Gedächtnis ausgezeichnet.
»Aber nein«, überlegte er angestrengt, »ich habe sie nicht deshalb verlassen, an und für sich mochte ich das. Aber so sehr ich ihren Intellekt und Humor schätze, Lina hat etwas intrinsisch Grausames in sich, das mir Unbehagen bereitet. Ich konnte ihr nie gänzlich vertrauen, und Vertrauen ist für derlei Spiele unerlässlich.«
»Und ... ihm vertrauen Sie? Er ist der Hexenjäger!«
»Bendix würde mir nie etwas tun, was ich nicht wollte, er liebt mich.« Ein warmes Gefühl breitete sich in Kaèls Brust aus. Es war immer noch ungewohnt und wundervoll, das auszusprechen.
Für eine Weile hielten sie den Blickkontakt, dann nickte Mister Taryòn und widmete sich wieder Kaèls Robe. »Für Ihren Termin heute Nachmittag empfehle ich Stulpen, die die Male verdecken«, sagte er, während er Kaèls Kragen richtete. »Werden derlei ... Aktivitäten zukünftig öfter vorkommen?«
»Das hoffe ich doch.« Kaèl grinste.
Jetzt lächelte sogar Mister Taryòn. »Dann werde ich gleich ein Dutzend Seidenstulpen bei der Hofschneiderin bestellen.«
»Hmm«, sagte Kaèl. Wenn es nach ihm ginge, hätte er diese reizenden Male aller Welt zur Schau gestellt, aber Elìrios war argwöhnisch genug, und Kaèl hatte keine Lust auf eine weitere Kündigungswelle.
Er wischte den Gedanken fort. »Wollten Kasimir und Ihre Frau nicht längst hier sein?«
»Sie erwarten Sie bereits in Ihrem Salon, Mylord.«
»Wunderbar.« Kaèl warf einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel und eilte hinaus.
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Emma strahlte wie ein Sonnenschein, als er zur Tür hineinkam. Enthusiastisch schüttelte sie seine Hand, eine Formlosigkeit, die ihn und offensichtlich auch Mister Taryòn schlucken ließ.
Die Begrüßung mit Kasimir fiel weitaus kühler aus, sie rangen sich lediglich die absolut notwendigen Höflichkeitsfloskeln ab. Kaèl sollte es recht sein. Er hatte, seit dem Mittagessen bei Kasimir, mehr Respekt vor diesem Menschen, der es trotz aller Vorurteile geschafft hatte, eine der angesehensten Stellen als Schneider zu bekommen. Aber so wirklich grün war Kasimir ihm trotzdem nicht. Seine Präsenz erzeugte ein diffuses Unwohlsein in ihm.
Aber er hatte die beiden auch nicht zum Plausch eingeladen. »Die Kinder in den Menschendörfern werden seit vier Wochen unterrichtet. Ich habe bereits mit den Lehrkräften gesprochen, aber mir fehlen die Meinungen von Menschenseite, um das Bild zu komplettieren. Deshalb möchte ich von Ihnen erfahren, wie Kinder und Eltern die letzten Wochen aufgenommen haben.«
»Und da wollen Sie unsere ehrliche Meinung hören?«, fragte Kasimir. Missmutig zupfte er an dem Sofakissen herum. »Oder nur etwas Positives, das Sie beruhigt?«
Kaèl unterdrückte einen Seufzer. Jetzt, wo Kasimir etwas gegen ihn in der Hand hatte, war er unerfreulich direkt in seiner Kommunikation geworden. Und da Bendix Kasimir so sehr mochte, konnte er ihn nicht einmal dafür feuern.
Er machte eine ausladende Geste. »Natürlich will ich Ihre ehrliche –«
Er stockte.
Diese verdammten Glockenärmel!
Natürlich waren sie hochgerutscht und offenbarten seine hämatomverzierten Handgelenke, und sowohl Kasimir als auch Emma starrten darauf.
Das Blut war aus Emmas Wangen gewichen. »Aber was ist Ihnen passiert?«
Mit einem Seufzer zog er den Ärmel zurecht. »Das wirkt schlimmer, als es ist, meine Haut ist sehr hell.«
»Aber ...?«
»Das war sein ...«, Mister Taryòn wirkte einen Stillezauber, »... Freund.«
»Sein Freund?«, wiederholte Emma. »Der, für den er das Eichhörnchen genäht hat?«
»Eichhörnchen?« Kasimir prustete los. Er wies auf Kaèl. »Er hat diesen Unfall von einem Stofftier genäht? Das ist doch schief und krumm!«
Kaèl wollte etwas Schnippisches erwidern, aber Emma war schneller. »Liebevoll war das«, korrigierte sie Kasimir. Sie schüttelte den Kopf. »Aber anscheinend hat sein Freund so etwas Schönes gar nicht verdient, wenn er ihn so behandelt!«
»Ich kenne seinen Freund zufällig«, sagte Kasimir, »er würde niemals etwas derartiges tun.«
»So?«, fragte Emma. »Dann wissen Sie sicherlich auch, wie gefährlich er ist, immerhin ist er der Hexen ...« Sie schlug sich die Hände vor den Mund. »Ich meine ... er ist ...«
»Emma«, sagte Mister Taryòn scharf. »Lass es gut sein.«
Genervt fuhr sich Kaèl durchs Haar. Selbst Emma wusste also über Bendix’ Identität Bescheid. Und wessen Schuld war das? Bendix’!
Er war auf die Kutsche gesprungen und hatte Mister Taryòn auf sich aufmerksam gemacht. Und er hatte Kaèl mit nach Morlà geschleppt und sie so vor Kasimir bloßgestellt.
Kaèl blickte wieder zu Emma und Kasimir, die sich immer noch stritten. »Ruhe«, rief er.
Schlagartig verstummten sie.
»Anscheinend wissen wir hier alle, wer mein Freund ist«, sagte Kaèl bitter. Er hielt die Hände hoch. »Ja, diese Male stammen von ihm und ja, mir gefällt das so, und ich verbitte mir jeglichen Kommentar dazu. Und ja, das Kuscheltier habe ich genäht und nein, dazu möchte ich keine fachkundige Meinung hören.«
Er atmete tief durch, und warf Kasimir einen langen Blick zu. »Sehen Sie jetzt, warum ich ausgerechnet Sie beide befrage? Im Gegensatz zu allen anderen können Sie ihre Kritik an meinen Ideen ungestraft äußern, denn ich bin Ihnen zu Dank für Ihr Stillschweigen verpflichtet. Und ich brauche ehrliche Rückmeldungen, sonst kann ich nichts verbessern!«
Kasimir nickte geplättet.
Irritiert wies Kaèl auf Mister Taryòn, der wie immer diskret in einer Ecke stand. »Und Sie? Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?«
»Aber Mylord«, er warf Kaèl einen hilflosen Blick zu, »Das wäre nun wirklich nicht angebracht.«
Da musste Kaèl ihm beipflichten. Sein Diener und er wahrten aus gutem Grund ein rein dienstliches Verhältnis, obwohl sie mehr Zeit miteinander verbrachten, als Mister Taryòn mit seiner Frau. Es hatte zu viele Fälle gegeben, in denen Adelige mit ihren Bediensteten Freundschaften oder gar Liebesverhältnisse pflegten, nur um ihnen dann bei der ersten Streitigkeit zu kündigen. Selbst Kaèl hatte ähnliches ein- oder zweimal getan, aber er hatte daraus gelernt.
Dennoch, dass er hier mit Emma munter diskutierte, während ihr Mann in der Ecke stand, erschien ihm doch arg merkwürdig.
Er machte eine auffordernde Geste. »In aller Drachen Namen, jetzt setzen Sie sich schon neben Ihre Frau.«
Zögerlich kam Mister Taryòn der Aufforderung nach.
Kaèl musterte ihn und Emma aus dem Augenwinkel. Sie hätten nicht verschiedener sein können, Emma fröhlich und lebhaft, Mister Taryòn ernst und steif. Aber wenn sie sich anblickten, hatten sie dieses Leuchten in den Augen, das nur Verliebte teilten.
Auf einmal vermisste er Bendix.
Er riss sich zusammen. »Emma, Sie haben doch eine Cousine in Wìiha. Wie fanden ihre Kinder den Unterricht bislang?«
»Sie sind Ihnen alle sehr dankbar. Das war eine großartige Idee, Mylord.«
»Ich weiß«, erwiderte Kaèl. »Es war ja auch meine.« Er räusperte sich. »Aber ich habe Sie nicht der Komplimente wegen hergebeten, ich möchte von Ihnen hören, was noch ausbesserungsfähig ist, damit ich es in Zukunft anpassen kann.«
Emma und Mister Taryòn tauschten nervöse Blicke.
»Ach nein«, sagte Kaèl. »Jetzt haben Sie keine Scheu, Kritik zu äußern. Wie gefällt es den Kindern?«
»An und für sich mögen sie es«, sagte Emma zögerlich. »Besonders die Großen, denen macht das Lesen lernen richtig Spaß.« Sie überlegte eine Weile. »Aber die Kleinen schimpfen, dass sie nicht mehr so viel spielen können, und sie hassen es, stillzusitzen.«
Kaèl lachte.
»Emma!«, zischte Mister Taryòn.
»Was denn? Wenn es so schlimm wäre, dann würde er nicht lachen. Und er wollte doch ehrliche Kritik!«
Kaèl lachte immer noch. »Die wollte ich. Wie alt sind die Kleinen ihrer Cousine?«
»Fünf und Sieben, Mylord.«
»Dann sollte ich die Klassen vielleicht noch einmal unterteilen, damit die Kleinen einen kindgerechten Unterricht erhalten.«
Emma nickte. »Ja, das wäre für alle das Beste. Aber dann bräuchten Sie ja mehr Lehrkräfte?«
Er nickte abwesend. »Wir werden sehen, ob der Rat dem zustimmt.«
»Ansonsten kann ich viel Gutes berichten. Letzte Woche hatten sie mir erzählt, dass sie zusammen im Wald waren und Frühlingsblumen bestimmt haben. Da waren sie ganz begeistert.«
»Das hatte sich mein Freund ausgedacht«, sagte Kaèl stolz. »Gibt es Bücher im Dorf ihrer Cousine?«
»Nicht dass ich wüsste, Mylord.«
Er zückte sein Notizbuch. »Gut, dann benötigen wir für alle Dörfer eine kleine Bibliothek mit Belletristik sowie ein paar einfachen Sachbüchern. Wie verstehen sich die Kleinen mit ihrer Lehrerin?«
Emma rieb sich die Nasenwurzel. »Ah, im Dorf meiner Cousine läuft alles hervorragend. Allerdings …«, sie warf ihm einen unsicheren Blick zu, »gibt es im Nachbardorf ein paar Probleme. Die Kinder dort haben Angst vor der Lehrerin, weil sie eine Elbin ist. Einige schwänzen deshalb den Unterricht.«
»Dasselbe kann ich aus Morlà berichten«, sagte Kasimir. »Viele Kinder fürchten sich vor dem Lehrer, weil er zaubern kann.«
Kaèl wiegte den Kopf hin und her. Er kannte die beiden erwähnten Lehrkräfte, beides engagierte, freundliche Leute. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendjemand vor ihnen Angst hatte.
›Sie haben Angst? Unmöglich!‹, wollte er sagen, schloss den Mund aber wieder. Ihm fiel die Unterhaltung mit Bendix ein, die sie genau darüber geführt hatten. Vielleicht hätte er ihn damals nicht so abwürgen sollen.
»Das ist bedauerlich«, sagte er deshalb. »Ich hatte gehofft, dass die Schule ein Ort des Kennenlernens sein könnte, aber vielleicht war ich da zu optimistisch.«
»So schnell geht so was eben nicht«, sagte Kasimir. »Aber das hatte ich Ihnen vorher gesagt.«
Kaèl ärgerte sich. Wieder war Kasimir viel zu direkt, fast schon frech für seinen Geschmack. Ihm lag eine Rechtfertigung auf der Zunge, aber er zwang sich, sie nicht auszusprechen.
›Hör den Leuten einfach mal zu‹, hatte Bendix ihn ermahnt, ›mit deiner Bildung und deinem tollen Titel hast du fast immer das letzte Wort. Aber hier geht es nicht darum, wer Recht hat. Es geht darum, dass die Kinder es gut haben! Glaub mir, da wissen die Menschen besser als du, was sie brauchen.‹
Zuhören fiel Kaèl schwer, aber für Bendix wollte er es versuchen. Er atmete tief durch und fixierte Kasimir. »Was ist dann Ihr Vorschlag?«
»Wir brauchen mehr Menschen als Lehrkräfte.«
»Das wird kompliziert«, wandte Kaèl ein. »Auf mein Gesuch haben sich zu wenige beworben.«
»Warum rekrutieren Sie nicht aus Lindenreich?«, fragte Kasimir.
»Hm«, machte Kaèl. Das war eine überraschend gute Idee. Also für jemanden, der nicht er war. »Das könnte funktionieren. Oder ich frage in Aomòri an.« Er notierte es sich in seinem Büchlein.
Emma nickte. »Und dann könnte man ja Magi für einzelne Unterrichtsstunden einladen. Ich habe von einer Lehrerin gehört – einer Magi – die den Kindern Blumen gezaubert hat, die im Dunklen leuchten. Das hat sie beeindruckt. Vielleicht könnten sie mit der Zeit so jemanden genug vertrauen um sie als Lehrkraft zu akzeptieren.«
»Ja, das ist möglich«, sagte Kaèl gedankenverloren. Er lächelte. Vielleicht war das ein Weg. Selbst Bendix hatte mit der Zeit seine Glühwürmchen akzeptiert.
Er wandte sich an Kasimir. »Und was haben Sie noch aus Morlà zu berichten?«
»Das Meiste klappt sehr gut. Allerdings würde ich ein paar Dinge am Lehrplan umstellen.«
»So?«
»Lesen, Schreiben und Rechnen ist ja schön und gut, aber die Kinder sollten auch etwas Praktisches lernen, das ihnen später einen Vorteil in der Arbeitswelt verschafft.«
Kaèl runzelte die Stirn. »Aber dafür habe ich extra höfische Konversation in den Lehrplan eingebunden!«
Kasimir hob die Brauen. »Das ist Ihre Vorstellung von ›praktisch‹?«
»Offensichtlich«, knurrte Kaèl. »Sprache ist Macht, wenn die Kinder grammatikalisch falsch sprechen oder mit einer merkwürdigen Betonung, dann wird sie niemand ernst nehmen, wenn sie eine Anstellung in den Städten suchen.«
Kasimir lief rot an. »Das ist keine ›merkwürdige Betonung‹, das ist ein Dialekt!«
»Und dennoch werden sie dadurch Probleme bekommen.« Kaèl zuckte mit den Schultern.
Emma räusperte sich. »Die wenigsten der Kinder werden später in die Städte ziehen. Aber auch für das Leben in den Dörfern sollten sie mehr wissen, als das, was wir ihnen beibringen können. Feldarbeit, Handwerken und Wäsche waschen ist wichtig, aber wenn die Kinder es später einmal besser haben sollten, dann sollten sie die Feldfrüchte noch weiter verarbeiten können. Wenn sie den Flachs nicht nur pflanzen und ernten, sondern auch brechen und zu Stoffen verarbeiten könnten, würden sie das mit größerem Gewinn verkaufen.«
»Aber das meine ich doch«, sagte Kasimir. »Sie sollten die Möglichkeit haben, ein höheres Handwerk zu lernen, etwas mit dem sie sich später verdingen können. Sie könnten auch Schuhe und Wämse aus dem gejagten Wild herstellen.«
Kaèl nickte. »Ein guter Punkt. Wenn ich das höre, dann denke ich fast, dass wir auch die Erwachsenenbildung vorantreiben sollten.« Er seufzte leise. »Es gibt so viel zu tun!«
Nach dem Gespräch rieb Kaèl sich die Hände. Die letzten Tage hatte er ununterbrochen gearbeitet, aber die Aussicht, mit seinem Handeln etwas bewegen zu können, elektrisierte ihn.
Natürlich war da noch das Treffen mit dem Rat ... Ihn erwartete eine Horde missgünstiger, bornierter Adeliger, deren einziger Lebenszweck darin zu bestehen schien, seiner Mutter Steine in den Weg zu legen. Für diese verkalkten Gestalten war Kaèl nichts weiter als der missratene Sohn, der nicht in der Lage war, ›eine gute Partie‹ zu machen.
Aber das würde sich ändern. Er musste gleich nur noch Nyòko überzeugen, dann würde sich schon alles in Wohlgefallen auflösen.
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»Du willst was?«, kreischte Nyòko.
»Dich heiraten«, wiederholte Kaèl. Irritiert zupfte er an seinen Stulpen. Er begriff nicht, was ihr Problem war. Sie konnte nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, Hiròki zu heiraten, das würden ihre Eltern ihr niemals durchgehen lassen. Und von einer Liebesheirat abgesehen, war Kaèl das Beste, was Finistère zu bieten hatte. Aber da fehlten ihr wohl der Geschmack und die Reife, um das einzusehen.
»Nein, nein, und nochmals nein!« Sie machte auf dem Absatz kehrt und stapfte davon, mitten ins Rosenlabyrinth hinein.
»Warte«, rief er, aber schon war sie im Rosentunnel verschwunden.
Es war unfair, Nyòko wusste genau, dass er seit dem Ball panische Angst vor diesen Ranken hatte.
Er atmete tief durch, und stürmte ihr hinterher, den Blick starr nach vorn gerichtet, aber das Blutrot der Rosen drängte sich immer wieder in sein Sichtfeld und ließ ihn zusammenzucken.
»Nyòko!«, brüllte er panisch.
Fast wäre er in seine Mutter und Ludòiku hineingerannt, die um eine Ecke bogen.
»Mutter!«, keuchte er. »Ludòiku.« Er deutete eine Verbeugung an.
»Na, seid ihr flanieren?«, fragte Ludòiku freundlich.
Kaèl nickte hektisch. Das hatte ihm gerade noch gefehlt!
»Diese Turteltäubchen!«, sagte Akàri zu Ludòiku. »Kaum angekommen, verschwinden sie im Rosengarten.« Sie strahlte übers ganze Gesicht.
Ludòiku lachte. »Bei dem Frühlingswetter ist es auch kein Wunder. Da schießen die Hormone über.«
Kaèl schluckte die Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag. Es war sowieso alles schrecklich genug. »Ja ja«, sagte er stattdessen. »Ich muss jetzt auch ...« Mit einem Kopfnicken wies er Richtung Rosengarten und setzte sich wieder in Bewegung.
»Na, dann lass dich nicht aufhalten, mein Goldstück«, rief Akàri ihm hinterher.
Eine halbe Ewigkeit und zehn Sackgassen später fand er Nyòko. Sie war im roten Pavillon, dort lehnte sie gegen die Balustrade und blickte auf die Orangerie.
Kaèl blieb in der Eingangspforte stehen und hielt sich die stechenden Seiten.
Sie wandte sich um. Als sich ihre Blicke trafen, verengte sie die Augen. »Dass du dich hierher traust!«
»Ich kann doch nichts dafür«, keuchte er. »Aber sie lassen einfach nicht locker, und mittlerweile denke ich, dass es das Beste –«
»Wir wollten nie heiraten«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Das war unsere Abmachung!«
»Das mag sein«, lenkte er ein, »aber seit wir zusammen in dem Lustgarten waren, denkt alle Welt, dass wir –«
»Du hast dich derart daneben benommen, dass ich keine Wahl hatte, als dich dort zu verstecken!«, keifte sie, untermalt von hektischen Gesten. »Du selbstverliebter Schleimkopf! Glaubst du wirklich, dass ich jemanden heiraten will, der so wenig über gesellschaftliche Konsequenzen nachdenkt?«
Mit jeder Silbe rutschte ihm das Herz tiefer in die Hose. »Und ich dachte, wir wären damals Freund*innen geworden«, flüsterte er.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schwieg bockig.
Auch Kaèl verschränkte seine Arme. Unwohl tappte er von einem Fuß auf den andern.
»Wir ... sollten jetzt gehen«, sagte er irgendwann, als ihm das Schweigen zu laut wurde. »Die Ratssitzung beginnt in wenigen Minuten.« Er warf Nyòko einen nervösen Seitenblick zu. »Also, sofern du überhaupt noch willst.«
»Ich komme mit«, knurrte sie. »Dafür bin ich hier. Aber ich mime nicht deine Verlobte, nur damit sie dich als zukünftigen Königsgemahl ernst nehmen. Den Respekt musst du dir selbst verdienen!« Sie reckte das Kinn und drückte sich an ihm vorbei.
Großartig. Frustriert blickte er ihr hinterher.
»Kommst du endlich?«, rief Nyòko über ihre Schulter. Als wäre er ein störrischer Hund.
Na das kann ja heiter werden!