›Du bist nicht mehr mein Sohn.‹
Als seine Mutter ihre Entscheidung getroffen hatte, war alles erschreckend schnell gegangen. Seine Großmutter hatte Akàri beigepflichtet, wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben, und selbst sein Vater hatte keinerlei Einwand erhoben. Keine zehn Minuten später hatten sie ihn offiziell aus dem Schloss geworfen. Als wäre sein Leben nichts wert.
Es war vorbei. Er war nur noch ein Nichts, ein Niemand, ohne Titel und Herkunft. Ohne eine Familie.
Die Wachen führten ihn weiter, an den güldenen Statuen vorbei, durch die Galerie, die Marmortreppe hinab. Wie in Trance folgte er ihnen. Es war surreal. In seinem eigenen Heim wurde er behandelt wie ein Verbrecher.
Nicht mehr mein Heim, korrigierte er sich.
Eine Dienerin passierte sie. Als sie Kaèl inmitten der Wachen erblickte, schaute sie zur Seite, als wäre es etwas Verbotenes, ihn anzusehen. Früher hatten die Dienerinnen ihm zugelächelt.
Er fühlte sich schäbig. So tief war er bereits gesunken.
Er musste seinen Schritt unbewusst verlangsamt haben, die Wachen umgriffen seine Arme und schoben ihn weiter. »Nicht trödeln«, sagte der Hagere.
Sie führten ihn aus dem Nebeneingang, quer durch den Park. Mit dem grellen Sonnenlicht löste sich der Schleier, und Kaèl konzentrierte sich wieder auf seine Umgebung. Er sog die Farben und Gerüche auf. Die bunten Beete, der duftende Pinienhain … die Orangerie, in der er als Kind immer die süßesten Orangen stibitzt hatte … er würde all das nie wieder sehen.
Sein Hals schnürte sich zu. Er würde auch nie wieder seine Gemächer betreten. Nie wieder eine schicke Robe anlegen. Sich nie wieder in seinen Lieblingssessel fläzen und lesen.
Er erschrak. Seine Bücher … was würden seine Eltern mit seinen Büchern machen?
Kaèl schaute hoch, zu den Fenstern des Schlosses. Er meinte, im Lesezimmer seiner Mutter eine Bewegung hinter den Vorhängen wahrzunehmen, aber vielleicht täuschte er sich.
Ich hätte nie gedacht, dass sie mich so schnell aufgibt.
Die Wachen zogen ihn weiter. Sie schleppten ihn bis ans Tor. Dort ließen sie ihn endlich los, und die Anführerin schubste ihn nach draußen.
Mit einem lauten Knall schloss sich das Tor hinter ihm, und Kaèl war allein.
Er blinzelte. Die Mittagssonne brannte auf ihn herab. Er hatte nichts mitnehmen dürfen, nichts einmal seinen Sonnenschirm. Mit einem Seufzer zauberte er sich eine Wolke über den Kopf.
Wer brauchte schon einen Sonnenschirm? Er war kein Lord mehr, da musste er sich auch daran gewöhnen, weniger modisch aufzutreten. Und in schmutzigen Roben herumzulaufen, fügte er in Gedanken hinzu, als er an sich herunterblickte.
Kaèl schüttelte sich. Nein, daran würde er sich nie gewöhnen.
Unbehaglich lief er ein paar Schritte, rang die Hände und lief in eine andere Richtung. Er brauchte einen Plan, eine Idee, wie es weiterging, aber da war … nichts.
»Mylord«, sagte jemand hinter ihm. Es war Mister Scott.
»Ich … bin nicht mehr ›Mylord‹«, erwiderte Kaèl rau. »Ich bin nur noch Kaèl.«
»Ich weiß«, sagte Mister Scott.
»Ah«, sagte Kaèl. »Sie haben es bereits publik gemacht. Das ging … schnell.« Er atmete tief durch. »Dürfen Sie das noch? Mit mir reden?«
»Nein«, sagte Mister Scott. Er blickte um sich, und zog Kaèl hinter eine Hecke. »Ich habe etwas Wichtiges für Sie«, flüsterte er. Er streckte Kaèl die Hand entgegen. Darin lag das kleine, abgeliebte Eichhörnchen.
»Nuri?«, rief Kaèl. Sein Herzschlag beschleunigte sich. »Sie haben Nuri mitgenommen?«
Lächelnd legte Mister Scott einen Finger auf die Lippen. »Die Wachen waren heute Morgen so rücksichtslos zu Ihnen. Ich konnte das kaum ertragen, also habe ich gelogen. An der Kutsche war überhaupt nichts kaputt. Ich wollte Ihnen bloß helfen.«
»Oh, Mister Scott!« Kaèl lächelte, mit Tränen in den Augen. »Ich kann Ihnen gar nicht genug danken!« Vorsichtig nahm er das Tierchen und drückte es an sich. »Bendix wird außer sich sein vor Freude.« Er hatte Kaèl gestanden, dass er Nuri jede Nacht, in der Kaèl nicht da war, im Arm hielt. Kaèl musste ihn nur noch wiederfinden.
»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte Mister Scott.
»Ich weiß es nicht genau. Ich …«, er überlegte angestrengt. »Vielleicht werde ich eine Freundin um Hilfe bitten.« Sofern sie sich überhaupt als seine ›Freundin‹ bezeichnen ließ. »Und dann will ich in den Ahornhain.«
»In den Ahornhain?«
»Bendix hatte überlegt, dorthin zu gehen. Aber so genau wusste er es noch nicht.« Kaèl zuckte mit den Schultern. »Aber es ist ein guter Startpunkt, um nach ihm zu suchen.«
Mister Scott runzelte die Stirn. »Ist ihnen bewusst, wie groß der Ahornhain ist?«
»Was bleibt mir anderes übrig?«
Mister Scott legte den Kopf schief, dann nickte er. »Wo wohnt Ihre Freundin?«
»An der Grenze zu Luìrula.«
»Das ist ja zwei Fahrstunden von hier!« Mister Scott seufzte. »Ich würde Sie gern fahren, aber …« Seine Augen flackerten Richtung Schloss.
»… Sie dürfen nicht«, komplettierte Kaèl.
»Sonst verliere ich meine Anstellung.«
Kaèl nickte. Alles andere wäre halbherzig gewesen, und das hätte weder zu seiner Mutter noch zu seiner Großmutter gepasst.
»Sie könnten sie per Hologramm kontaktieren«, überlegte Mister Scott.
»Ja, das wäre schön«, sagte Kaèl sarkastisch. Er machte eine Geste um sich herum. »Sehen Sie hier einen Hologrammpunkt?«
»In allen größeren Städten gibt es welche, die Sie gegen eine kleine Gebühr nutzen können. Am besten fahren Sie als Erstes nach Nìshai, dort finden Sie alles, was Sie benötigen. Am Marktplatz können Sie auch Kutschfahrten mieten, sicherlich finden Sie jemanden, der Sie zum Ahornhain fährt.«
»Wunderbar. Dann werde ich nach Nìshai …«, er blickte hilfesuchend zu Mister Scott, »… laufen.«
Mister Scott presste die Lippen aufeinander.
»Ja«, sagte Kaèl und zwang sich zu einem Lächeln. »Ein wenig Bewegung hat niemand geschadet.«
»Ich gebe Ihnen ein Pferd«, sagte Mister Scott nach einigem Zögern. »Leider können Sie es nicht behalten, der Verlust würde spätestens Morgen auffallen, und dann verliere ich meine Anstellung. Aber wenn Sie es frei lassen, wenn Sie in Nìshai angekommen sind, dann findet es von allein wieder zurück zum Stall.« Er musterte Kaèl. »Haben Sie Geld?«
»Wofür?«
»Die Kutschfahrt? Den Hologrammpunkt? Denken Sie, das wird Ihnen gratis überlassen?«
Kaèl machte eine gelassene Geste. »Natürlich nicht. Aber ich lasse es wie üblich auf Rechnung schrei–«
Oh.
Oh.
»Meine Familie wird nicht mehr für meine Ausgaben auskommen?«, stellte er das Offensichtliche fest. Er wühlte durch seine Taschen, aber natürlich fand er nichts von Nutzen. Warum auch? Er hatte nie Geld benötigt, sein Name und Titel waren genug gewesen.
Mister Scott seufzte erneut. »Ich bin gleich zurück.«
Nach zwanzig Minuten, in denen Kaèls in Achten herumlief und versuchte, nicht an seine erbärmliche Zukunft zu denken, kehrte Mister Scott zurück. Er führte ein braunes Pferd am Zügel.
»Das ist Leòn«, stellte er ihm den Wallach vor. »Er ist ein ganz Braver. Er wird Sie sicher nach Nìshai bringen.« Mister Scott nickte in Richtung der Tasche, die am Sattel baumelte. »Dort habe ich Ihnen zwei Wasserbeutel, eine Decke und etwas Brot mit Käse eingepackt. Und hier«, er reichte Kaèl ein kleines Säckchen, »ist etwas Geld, das sollte für eine Mahlzeit und die Gebühr für den Hologrammpunkt reichen.«
»Aber Mister Scott«, hauchte Kaèl. »Ist das Ihr Geld?«
Mister Scott nickte langsam.
Es fühlte sich falsch an, von seinem Kutscher Geld anzunehmen, aber das hier war ein Notfall. Kaèl schloss seine Hand um den Beutel. »Vielen Dank!«
»Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, für alles, was kommt«, sagte Mister Scott ernst. »Und bitte denken Sie daran, Leòn freizulassen, wenn sie dort sind.«
oOOo
Nìsahi war ein gänzlich anderer Ort, wenn man bedürftig war. Es dauerte eine Weile, bis Kaèl das Etablissement gefunden hatte, das Hologrammpunkte zur Verfügung stellte. Jetzt war er endlich hier, und wie durch ein Wunder erreichte er Lina sogar bei sich zuhause,
»Lina«, sagte Kaèl. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. »Du bist da!«
Sie blinzelte verwirrt. »Was ist mit dir los? Warum siehst du aus wie ein Landstreicher? Ist das dein neuer Fetisch?«
Kaèl verdrehte die Augen. Er wollte zu einer schnippischen Antwort ansetzen, hielt sich dann aber zurück. Er durfte es sich nicht auch noch mit Lina verscherzen.
»Ich … brauche deine Hilfe«, sagte er kleinlaut.
Sie seufzte exaltiert. »Das ist so typisch du. Monatelang meldest du dich nicht, und dann nur, weil –«
»Meine Familie hat mich verstoßen.«
Sie sog scharf die Luft ein. »Bitte, was?«
»Es ist eine lange Geschichte. Sie … haben ein Problem mit meinem Freund.« Das war euphemistisch ausgedrückt, aber er hatte keine Lust, weiter in die Tiefe zu gehen.
»Dein … Freund?«
»Der Mann, den ich liebe.«
»Du bist verliebt?«, wiederholte sie. »Du?«
Er zuckte hilflos mit den Schultern.
»Oh.«
»Ja, oh«, sagte er bitter. »Aber es ist einerlei, er ist geflohen und versteckt sich, und wahrscheinlich werde ich ihn nicht mehr finden. Aber ich muss es wenigstens versuchen, weißt du?«
»Er versteckt sich? Vor deiner Familie?«
»Vor denen auch«, sagte Kaèl vage. »Ich sagte doch, es ist kompliziert.«
»Was, bei Muriel, hat er getan? Oder …«, sie zögerte, »was habt ihr getan?«
Kaèl stieß gequält die Luft aus. »Ist das wirklich wichtig?«
Ihre wachen Augen wanderten über sein Gesicht, seinen Hals, blieben an Bendix’ Markierung hängen, dann blickte sie ihm wieder in die Augen. Sie nickte. »In Ordnung. Ich werde dich nichts mehr zu ihm fragen.« Sie fuhr sich durchs Haar. »Was brauchst du?«
»Alles.« Er errötete bis an die Haarspitzen. »Ich … habe nur die Kleidung, die ich am Leib trage und etwas Geld. Warte …« Er öffnete das Säckchen und zählte nach, »fünfzehn Kupfermünzen.«
Sie lachte ungläubig. »Fünfzehn Kupfermünzen?«
»Ja, ist das viel?«, fragte er irritiert.
»Das reicht nicht einmal für eine Übernachtung, außer du hast kein Problem mit Bettwanzen.«
Kaèl schüttelte es.
Sie seufzte exaltiert. »Ich kann dich leider hier nicht aufnehmen, wenn deine Eltern davon erfahren, hat meine Familie nichts mehr zu lachen. Aber ich schicke dir Geld. Damit wirst du für ein paar Wochen ein Dach über dem Kopf haben. Bis du …«, Lina machte eine bedeutungsvolle Geste, »eine Arbeit gefunden hast.«
»Arbeit?« Auf einmal fühlte er sich unglaublich müde.
»Na, was denkst du, wie sich die ganzen Leute ernähren?«
»Woher soll ich das wissen?« Er runzelte die Stirn. »Und … woher meinst du das zu wissen?«
»Ich habe mit genug Leuten geschlafen, die nicht aus der Adelsschicht stammen. Und im Gegensatz zu dir höre ich ihnen manchmal zu.«
Er verzog das Gesicht. »Als würde ich das nicht tun.«
Lina hob die Brauen.
»Na gut«, räumte er ein, »vielleicht sind sie mir egal. Dann bin ich eben arrogant. Aber … mein Freund war auch lange Bauer und damit habe ich überhaupt kein Problem.«
»Na das kann ja noch was werden, mit euch beiden.«
Kaèl schwieg beleidigt.
Sie seufzte. »Dich hat es wirklich erwischt, oder?«
Errötend mied er ihren Blick.
»Ach, Kaèl«, sagte sie. »Eigentlich bist du kein übler Kerl.« Sie lächelte so offen, dass es beinahe un-Linahaft war. Vielleicht waren sie doch so etwas wie Freund*innen geworden. »Ich werde dich auf den Bällen vermissen.«
»Ich dich auch«, sagte er. »Und weißt du, was lustig ist? Ich werde sogar die verdammten Bälle vermissen.«
oOOo
Lina hielt Wort. Bereits eine Stunde später tauchte eine Frau in dem Teehaus auf, in dem er sich auf Linas Empfehlung hin zurückgezogen hatte, und überreichte ihm ein Säckchen. Es war um einiges schwerer, als das, was Mister Scott ihm überlassen hatte. Kaèl löste die Verschnürung. Silbermünzen, und einige wenige aus Gold.
Das sollte reichen, um sich hier ein Zimmer zu nehmen. Das Teehaus war ansprechend, und das Essen erträglich. Er hob die Hand. Wenige Atemzüge später war eine der Bediensteten zur Stelle.
»Ich möchte hier einkehren. Für ein paar Nächt–«
Kaèl verstummte. An der Wand hing ein altvertrautes Bild. ›Gesucht. Tod oder lebendig‹, stand in dicken Lettern darüber. Hilflos starrte er auf Bendix’ gemalte Züge, seine Hände, die blitzenden Waffen darin. Er brauchte ihn. Er musste ihn finden.
»Sir?«, fragte die Bedienstete.
»Vergessen Sie es«, krächzte er. »Ich will nur zahlen.«
Wahrscheinlich war das ein Fehler. Es dämmerte bereits, und er war hundemüde. Aber er wollte die Nacht nicht allein in einem viel zu großen Bett verbringen und dabei an all das denken müssen, was heute passiert war. Er brauchte Bendix’ Umarmung, um sich dem zu stellen.
Am Marktplatz ging er zum Stand mit den Reisekutschen.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Mylord?«, fragte der Mann am Schalter.
Kaèl korrigierte ihn nicht. Es tat zu gut, mit seinem Titel angesprochen zu werden. »Mein Ziel ist der Ahornhain und ich wünsche eine Nachtfahrt.« Das war das Beste. Dann würde er hoffentlich, gewiegt von dem monotonen Kutschgeklapper, einschlafen. Und wenn er aufwachte, dann war er bei Bendix. Oder zumindest irgendwo in seiner Nähe.
»Sehr wohl, Mylord. In einer halben Stunde steht Ihre Kutsche bereit.«
Kaèl nickte und schob dem Mann die verlangten Silbermünzen hin.
oOOo
Seine Kutscherin war eine schweigsame Person, was Kaèl nur recht war. Die meisten Leute brabbelten sowieso nur Nichtigkeiten und zehrten damit an seiner Energie.
So hatte er viel Zeit, aus dem Fenster zu schauen. Draußen rollten die ersten Sommerblitze über den Horizont. Es regnete, und die Luft hatte sich abgekühlt. Kaèl trug nur eine dünne Sommerrobe aus Seide und fröstelte, also suchte er Mister Scotts Decke aus der Tasche und legte sie über seine Beine.
Wahrscheinlich hätte er in Nìshai eine zweite Robe kaufen sollen, irgendetwas Wärmeres, aber er war zu durcheinander gewesen, um an derlei Dinge zu denken. Er war sich auch nicht sicher, ob Linas Geld für solche Dinge ausreichte – wie viel kostete eine ordentliche Robe? Er hatte keinerlei Idee.
Hoffentlich regnete es nicht mehr, wenn sie im Ahornhain ankamen, er hasste Regen. Gab es dort überhaupt ein Gasthaus in der Nähe?
Kaèl seufzte tief. Früher hatte sich Mister Taryòn um derlei Formalitäten gekümmert.
Er lehnte sich in die Kissen und starrte auf die an ihnen vorbeiziehende Landschaft, bis es so dunkel war, dass er nur noch die Baumwipfel im Mondlicht erkannte.
Den ganzen Tag war er so angespannt gewesen, dass ihm jetzt Kiefer und Schultern schmerzten. Er war quälend müde, weil er die letzte Nacht nicht geschlafen hatte, aber gleichzeitig pulsierte in ihm eine nervöse Energie, die ihn dazu brachte, alles zu tun, was ihn vom Einschlafen abhielt.
Nachdenken zum Beispiel.
›Du bist nicht mehr mein Sohn.‹
Kaèl ballte die Fäuste. Das, was seine Mutter gesagt hatte, war keine Laune von ihr gewesen, keine dahingeworfene Bemerkung in der Hitze der Auseinandersetzung. Wahrscheinlich hatte sie ihn einmal geliebt. Vielleicht liebte sie ihn noch immer. Aber sie hatte sich vor ihm oder irgendjemand anderem noch nie so verletzlich gezeigt. Und genau diese Verletzlichkeit war es, die jetzt ihr Herz erkalten ließ. Akàri würde diese Gefühle nie wieder zulassen, dafür war sie zu stolz.
Er zog die Decke enger um sich. Seine Lider waren bleischwer. Warum konnte er nicht einfach schlafen? Wieso musste er immer und immer wieder diese Bilder in seinem Kopf hin- und herschieben?
Der angeekelte Blick, den sein Vater ihm zugeworfen hatte. Als wäre Kaèl ein Schmutzfleck. Das triumphierende Grinsen seiner Großmutter, weil er endlich ›angemessen bestraft‹ worden war. Und, was das Schlimmste war, die tränenverschmierten Wangen seiner Mutter. Die Hoffnung in ihren Augen, bis er mit seiner Aussage alles zerstörte.
Und dennoch, flüsterte ein trotziges Stimmchen in ihm, habe ich das Richtige getan.
Die Welt verschwamm in unzusammenhängende Fragmente, dann in Träume.
Etwas knallte, und Kaèl wurde gegen die Sitzbank vor ihm geschleudert. Schlaftrunken richtete er sich auf, rieb sich die schmerzende Schulter. »He!«
Draußen schrien Leute wild durcheinander, ein Pferd wieherte, und Kaèl hörte Hufgetrappel, das sich entfernte.
Irgendetwas war definitiv nicht in Ordnung. Er stieg hinaus, in den prasselnden Regen. »Was zum Dra–«
Ein Feuerball schlug neben ihm ein, nur eine Handbreit von seinen Füßen entfernt. »Geld oder Leben!«, schrie eine Frau.
Kaèl wirkte einen Lichtzauber. Vor ihm standen drei Gestalten. Er konnte ihre Gesichter nicht erkennen, da sie ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen hatten. An ihren Gürteln blitzten Messer.
Ein weiterer Feuerball flog auf ihn zu.
Kaèls Reflexe übernahmen die Kontrolle. Er hatte nicht monatelang mit dem Hexenjäger gekämpft, um jetzt bei einem Standardzauber einzuknicken. Instinktiv warf sich zur Seite und rollte sich ab. Sofort kam er wieder auf die Füße und hexte den dreien eine Reihe an Zerstörungszaubern gegen die Brust.
Sie erwiderten das Feuer, aber Kaèl wirkte auf jeden ihrer Angriffe den Konter und schickte sofort einen Zerstörungszauber hinterher. Nach ein paar Attacken ging eine*r der Dreien in die Knie und hielt sich den Arm. Die Person daneben erstarrte. »Scott«, rief sie und beugte sich über ihn.
Kaèl nutzte die Ablenkung und entfesselte einen Wirbelwind, der die drei in die Luft hob. Er war so wütend, dass er sie fast mit ein paar Blitzen geröstet hätte, entschied sich aber im letzten Moment dagegen und schleuderte sie zu Boden.
Stöhnend drückten sie sich hoch und rannten davon, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen.
Triumphierend hielt er die Faust in die Höhe. »Ja, rennt ihr nur«, brüllte er. »Sonst vergesse ich mich!«
Er war so mit Adrenalin vollgepumpt, dass er lachte, trotz des Regens und der beschädigten Kutsche. Es war alles so absurd, der ganze Tag war so absurd gewesen. Erst der Morgen am Strand, seine Eltern … das Chaos in Nìshai, und dann, im eigentlich so sicheren Fukuòka, dieser absolut unwahrscheinliche Überfall.
Es dauerte eine Weile, bis er wieder normal denken konnte. Das Sinnvollste war wohl, die Kutsche zu inspizieren, vielleicht ließ sich daran noch etwas retten. Er hatte wenig Lust, bei dem Wetter bis zum Ahornhain zu reiten. Seine Robe hing klatschnass an ihm herunter und von einem Haar tropfte es ihm kalt in den Nacken. Selbst sein Lichtzauber wirkte merkwürdig matt, als hätte der Regen ihn gedämpft.
Kaèl wirkte einen Wärmezauber, der sofort vom Sturm verweht wurde. Zitternd schlang er die Arme um sich, und ging um die Kutsche herum. Es waren nur noch drei Pferde übrig, mit dem Vierten war die Kutscherin davongeritten. Und im Gegensatz zu Mister Scott damals würde sie nicht zurückkehren. Die Vorderachse war zerbrochen und ein Rad war abgefallen. Er steckte fest. Mitten in der Pampa, im strömenden Regen.
Frustriert trat er gegen das Rad. Ein stechender Schmerz schoss durch seinen Fuß. Das Holz war härter als gedacht. Er wimmerte.
Kaèl sank in die Hocke. »Verdammt, verdammt, verdammt«, presste er zwischen den Zähnen hervor, »heute geht auch alles schief!« Vor Frustration und Selbstmitleid kamen ihm die Tränen, und er schlug beide Hände vors Gesicht und schluchzte.
»Was weinst du denn? Das war doch ein ordentlicher Kampf, den du dir da geliefert hast.«
Kaèls Kopf fuhr hoch. Eine dunkle Gestalt näherte sich ihm. »Bendix?« Er schickte den Lichtzauber näher und Bendix’ Gesicht leuchtete ihm entgegen. Er grinste.
»Du hast den Überfall gesehen?«
Bendix nickte, breiter grinsend.
»Was zum –« Kaèl sprang auf die Füße. Er trat einen Schritt näher. »Und wieso hast du mir nicht geholfen?«
»Ich wollte erstmal sehen, wie du dich so schlägst.«
»Unfassbar.« Kaèl legte eine beleidigte Miene auf, was ihm aber nur halb gelang, denn insgeheim war er zu erleichtert, Bendix zu sehen. »Dafür schlafe ich mit dem Hexenjäger, dass er mich in solchen Situationen allein lässt?«
»Als hättest du mich gebrau– aua!«
Kaèl hatte ihn gegen das Schienbein getreten. »Das hast du verdient!«
Bendix rieb sich das Schienbein. Er grummelte böse.
»Du fandest den Kampf also gut, ja?«, hakte Kaèl nach.
»Ich wusste ja, dass du gut bist, aber das«, Bendix pfiff durch die Zähne, »hat echt alles übertroffen.« Er lächelte wieder, und auch Kaèl musste lächeln. Eine Weile grinsten sie sich an, als wäre alles in der Welt in bester Ordnung.
»Und was zum Drachen tust du hier?«, fragte Kaèl, als die Realität wieder einsickerte.
»Dasselbe wollte ich dich fragen. Warum fährst du mit einer gemieteten Kutsche durch die Gegend?«
»Weil …« Er warf Bendix einen langen Blick zu. »Lenk nicht ab. Bist du mir gefolgt?«
»Hinterhergeritten.« Mit schmerzverzerrtem Grinsen deutete Bendix auf seine O-Beine. »Das mit dem Reiten muss ich noch ü–«
»Seit wann?«, unterbrach ihn Kaèl.
Bendix verdrehte die Hände ineinander. Auf einmal wirkte er verlegen. »Ich war am Schloss«, sagte er vage. »Und dann dachte ich mir, dass du nach Nìshai reitest. Aber dann hat es ewig gedauert, bis ich …«, er äugte zu Kaèl, »… ein Pferd gefunden hatte, und als ich endlich in der Stadt ankam, warst du verschwunden. Ich hab dich erst Stunden später bei den Kutschen entdeckt.«
»Moment, du hast ein Pferd gestohlen? Du hast gestohlen? Du warst ein Mönch!«
»Ich bringe es noch zurück«, murmelte Bendix. »Irgendwann.«
»Sicher«, sagte Kaèl. Er lachte leise. Auf einmal fühlte er sich leicht. Bendix war hier.
»Was denn?«, patzte Bendix. »Hatte ich eine Wahl? Ich fand es eben merkwürdig, dass du nicht mit deiner eigenen Kutsche fährst, und ich wollte sichergehen, dass es dir gut geht, bevor ich dich endgültig allein lasse!«
»Aber … wieso hast du mich nicht einfach gefragt?«
»Weil deine Familie uns nicht zusammen sehen darf, natürlich! Ich will nicht, dass sie noch wütender auf dich werden.«
Kaèl lachte bitter. »Dafür ist es zu spät.«
»Wie, zu spät?«
»Sie haben mich herausgeworfen. Ich …«, er schloss die Augen, »bin kein Lord mehr.«
»Was? Obwohl du dich entschuldigt hast?«
Kaèl fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Es glühte. »Ich wollte nicht mehr lügen. Ich habe meiner Mutter alles erzählt. Auch, dass ich dich liebe.«
Bendix riss die Augen auf. »Du hast …« Er machte eine hilflose Geste. »Warum?«
»Weil es stimmt.«
»Aber du solltest ihnen nicht die Wahrheit sagen. Das ist nicht gut für dich. Du solltest –«
Kaèl schloss die Distanz zwischen ihnen. Er packte Bendix an den Schultern. »Wieso in aller Welt denkst du, dass nur du weißt, was ›gut‹ für mich ist?«
»Weil du deinen Titel brauchst«, flüsterte Bendix. »Das hast du selbst gesagt, am Strand.«
»Dann brauche ich dich eben mehr als meinen Titel. Ich will nicht ohne dich leben.«
Eine Reihe von Emotionen wanderte über Bendix’ Gesicht: Skeptisch zusammengezogene Brauen, Verwirrung, ein Anflug von Unsicherheit. Schließlich manifestierte sich ein breites Lächeln auf seinen Lippen, das er erfolglos versuchte, vor Kaèl zu verbergen. »Du … hast wirklich deinen Titel aufgegeben … weil du bei mir sein willst?«
Statt zu antworten, schlang Kaèl die Arme um Bendix’ Nacken und küsste ihn. Einen Atemzug lang bleib Bendix seltsam steif, aber als Kaèl an seiner Unterlippe saugte, seufzte er und lehnte sich in den Kuss hinein. Seine Hände glitten über Kaèls Rücken, er zog ihn an seine warme Brust, so fest, dass es Kaèl fast den Atem abschnürte.
Als Kaèl sich löste, war Bendix’ Haar zerzaust und seine Augen riesig. Er atmete schwer. »Kaèl«, krächzte er und schaute dabei so verwirrt, dass Kaèl nicht anders konnte, als ihn erneut zu küssen.
Bendix hielt ihn zurück. »Geht es dir wirklich gut damit?«, flüsterte er.
Kaèl erstarrte. »Ich …«, begann er und wollte es lässig klingen lassen, aber es war zu spät. Die Frage hatte irgendetwas tief in ihm gelöst. Eine Welle an Emotionen überspülte ihn, und er konnte sich nur hilflos an Bendix’ Schultern festklammern und weinen, zuerst leise, dann immer lauter. »Sie ha- haben mich nicht mehr lieb«, schluchzte er und schämte sich, weil es so furchtbar banal und kindisch klang.
»Hee.« Bendix sank vor ihm in den Matsch und zog ihn in seinen Schoß. Sein Duft füllte Kaèls Kopf, wie ein Kräutergarten unter der Sommersonne, frisch und duftend. Eine Weile sagte er nichts, hielt nur Kaèls zitternden Körper in seinen Armen. »Nicht weinen«, sagte er schließlich. Es klang seltsam schüchtern und unsicher. »Ich hab dich lieb … nein – ich liebe dich. Und ich werde alles wieder gut machen. Du wirst sehen, es wird dir gut gehen.«
»Aber ich hab k- kein Zuhause mehr.«
»Dann baue uns ein neues Heim. Wir bauen uns ein Heim, ja?«
Kaèl nickte langsam. Er legte seinen Kopf auf Bendix’ Brust und schluchzte und schniefte.
»Kaèl«, sagte Bendix sanft. »Wir bauen uns ein Heim. Zusammen.« Und dann ließ ihn nicht mehr los, bis die letzte Träne versiegt war.