»Vater, Mutter«, sagte Kaèl verblüfft. »Was macht ihr hier?« Hilflos trat er erst einen Schritt zurück, dann noch einen. Er versuchte zu lächeln.
»Was schon?«, fragte Elìrios. »Wir gratulieren dem jüngsten Erzmagier des Landes, natürlich.« Unverhohlener Stolz schwang in seiner Stimme mit.
»Aber wart ihr nicht bei den Taìfus geladen?«
Akàri lächelte zufrieden. »Wir sind früher aufgebrochen. Diese Skandalnudel und ihr nichtssagender Sohn sind nicht so wichtig wie dein Erfolg.«
»Akàri!«, mahnte Elìrios. »Jetzt rede nicht so von ihnen!«
»Aber es stimmt doch! Rubìnia ist die einzig Vernünftige von diesem ganzen Haufen.« Sie verdrehte die Augen. »Aber seit Kaèl’thas’ und ihre Verlobung gelöst ist, ist selbst die Konversation mit ihr ermüdend. Du weißt nicht, wie froh ich bin, dass Nyòko und du so wunderbar miteinander auskommt!«
»Ähm, ja. Dem kann ich nur beipflichten.« Kaèl hustete gekünstelt. »Ich fühle mich geehrt, dass ihr hier seid, aber ich würde mich gern zurückziehen, die Krankheit hat mich fest im Griff.« Er legte eine bekümmerte Miene auf.
Akàri musterte ihn. »Mein Goldstück, wie blass du bist.«
»Akàri.« Elìrios wies mit einem Kopfnicken zur Treppe. »Alùna erwartet uns unten zum Festessen. Uns alle.«
»Wie könnte ich das vergessen!«, flötete sie.
»Großmutter wartet unten?«, fragte Kaèl entgeistert. »Was will sie hier?« Hilfesuchend blickte er zu Mister Taryòn, aber der stand stocksteif da, mit versteinerter Miene. Kein Wunder, so wie Kaèls Großmutter gegen Menschen hetzte, musste er sich in ihrer Gegenwart permanent unwohl fühlen.
»Mutter beehrt uns, um deine bestandene Prüfung zu würdigen«, erklärte Elìrios. »Das ist doch schön.« Der letzte Satz klang wie eine Frage.
Sein Vater hatte bereits seine übliche Vermeidungshaltung eingenommen, in die er stets in Alùnas Gegenwart wechselte. Seine weitgeöffneten Augen huschten ziellos hin und her, und seine Schultern waren bis an die Ohren hochgezogen. Kaèl brachte es nicht übers Herz, ihm in diesem Zustand eine Bitte abzuschlagen. Er unterdrückte einen Seufzer. »Fein, ich bin gleich unten. Ich muss mich nur noch frisch –«
Eine Dienerin in blauer Livrée erschien in der Galerie. »Mylady, Mylords«, sie verbeugte sich vor ihnen, »Lady Itàchi lässt ausrichten, dass sie Sie bereits seit zehn Minuten erwartet.«
»Wir sollten besser gehen.« Elìrios warf ihnen einen flehenden Blick zu und schritt zur Treppe.
Akàri zuckte mit den Schultern. »Na dann gehen wir, mein Goldstück. Diese Schreckschraube kennt keine Geduld.«
Das kann ja heiter werden! Seufzend zog Kaèl seinen Mantel enger und folgte ihr die Treppe hinab.
Er blinzelte verwirrt, als er den Speisesaal betrat. Seine Eltern hatten umdekorieren lassen, und Lichtzauber in allen Farben der Magie strahlten ihm entgegen.
»Da seid ihr ja endlich!«, rief Alùna. Sie thronte wie die Herrscherin Finistères persönlich auf ihrem Stuhl. Wie immer trug sie ein langes dunkles Kleid, und ihr graues Haar fiel wallend auf ihre Schultern. Sie machte eine herrische Geste. »Komm her, Junge, lass dich ansehen.«
Durchatmen!, befahl er sich und reckte das Kinn. Langsam, beinahe widerwillig trat er näher, bis er vor seiner Großmutter zum Stehen kam.
Alùna kniff bei seinem Anblick die Augen zusammen. »Wieso trägt er noch seinen Mantel?« Sie nickte einem ihrer Bediensteten zu. »Mister Kanèko, nehmen Sie meinem Enkel den Mantel ab.«
»Nein!«, rief Kaèl viel zu laut.
Warum, dachte er, warum habe ich mich nicht in diese alberne Robe gequält?
Er musste alle Willensanstrengung aufbringen, nicht herunter zu seinen – also Bendix’ – Hosenbeinen zu schauen, die verräterisch unter dem Mantel hervorlugten. »Ich bin krank und benötige etwas Warmes am Leib«, versuchte er sich zu erklären.
»Krank? Ein Itàchi wird nicht krank!« Seine Großmutter warf Akàri einen eisigen Blick zu. »Das muss er von eurer Linie haben. Die Hotàrus waren schon immer verweichlicht.«
Akàri presste die Lippen zu einem Strich zusammen, sagte aber nichts. Da Alùna ihr zu ihrer und Elìrios’ Hochzeit ihr gesamtes Herrschaftsgebiet überschrieben hatte, sah die Großmutter es als ihr gutes Recht an, Akàri zu maßregeln, wann immer sie konnte. In der Regel schluckte Akàri die Kritik herunter und tobte sich nach Alùnas Besuch so heftig in ihrem Trainingsraum aus, dass sie ganze Kündigungswellen der Bediensteten auslöste. Zum Glück ›beehrte‹ die Großmutter sie nur ein- bis zweimal im Jahr.
Erleichtert, dass er aus dem Fokus der Aufmerksamkeit war, setzte Kaèl sich und streckte die verräterischen Beine unter das silberne Tischtuch.
Eine Dienerin brachte ein Tablett mit Champagnergläsern, und zwei weitere trugen eine Torte hinein. Rosentorte mit Zuckerguss, Kaèls Lieblingstorte. In dem Moment, in dem sie diese auf den Tisch stellten, gingen die Lichtzauber aus, und ein Funkenwerk aus Grün und Silber britzelte über die Tafel.
Akàri erhob sich, ihr Glas in der Hand. »Auf den jüngsten Erzmagi des Landes.« Sie strahlte.
Auch Elìrios und Alùna erhoben sich, und stießen mit an. »Auf das Wissen und die Magie, die uns aus dem dunkelsten Zeitalter geführt haben.«
»Wir haben eine Kleinigkeit für dich.« Akàri schob ihm ein in buntes Pergament gehülltes Paket hin.
Er löste die Samtschnüre und hielt den Atem an. Vor ihm lag das Original von ›Muriels Reise‹, der ersten Dokumentation über Transformationsmagie. Ungläubig strich er mit den Fingern über den weichen Ledereinband. »Wen habt ihr dafür getötet?«, flüsterte er.
Seine Eltern tauschten zufriedene Blicke. »Das bleibt unser Geheimnis!«
»Danke«, hauchte Kaèl.
»Immer schenkt ihr ihm diese dicken Wälzer.« Seine Großmutter runzelte missbilligend die Stirn. »Vom vielen Lesen bekommt der Junge nur Krähenfüße.«
›Ich habe keine Krähenfüße!‹, wollte Kaèl einwenden, er schluckte die Worte aber hinunter. Es würde sowieso nichts ändern, mit seiner Großmutter zu diskutieren. Um sich seine Verletztheit nicht anmerken zu lassen, nahm er sich ein Stück Torte und gab vor, es von allen Seiten zu bewundern. Innen bestand sie aus Schichten verschiedener Farben, angeordnet wie ein Regenbogen.
»Und was planst du jetzt, nachdem du aufgenommen wurdest?«, fragte Elìrios.
Kaèl ließ seinen Teller zurück auf den Tisch schweben. Er spürte Alùnas Blick auf sich ruhen, als er sagte: »Ich werde die Akademien zu einem besseren Ort machen.«
»Was für ein neumodisches Geplänkel. Junge Männer sollten nicht zu ambitioniert sein – keine Frau will einen strebsamen Eierkopf.«
»Meinst du, Großmutter?« Kaèl lächelte diplomatisch. »Es ist paradox, was von uns Männern erwartet wird. Mittlerweile studieren fast alle männliche Adeligen, teils mit beträchtlichem Erfolg. Aber sobald wir ein bestimmtes Alter überschritten haben, sollen wir uns nichts sehnlicher wünschen, als eine Frau und dann Kinder, die wir umsorgen.« Er hob anklagend seine Gabel. »Wofür studieren wir dann überhaupt, wenn am Ende nur Frauen das Gelernte ausleben dürfen?«
»Ein gebildeter Mann ist ein besserer Vater und Ehemann, daher habe ich nichts gegen ein Studium, solange es im Rahmen bleibt.«
Wortlos wandte sich Kaèl wieder seinem Tortenstück zu, aber Alùna legte nach: »Was sagt Nyòko zu deinen Bestrebungen?«
»Sie freut sich für mich, Großmutter.«
»Tut sie das? Wie schön.« Ihre Stimme troff vor Ironie. »Und wann ist die Hochzeit geplant?«
»Wir haben noch keinen Termin«, sagte Kaèl bemüht beherrscht. »Wir ... wollen uns damit Zeit lassen.«
»Was nichts anderes bedeutet, als: ›Wir warten beide auf etwas Besseres‹. Junge, du musst die Gelegenheit beim Schopfe packen.«
»Alùna!«, sagte Akàri scharf. »Lass es gut sein für heute.«
»Ich weiß, was ich tue«, sagte Kaèl.
»So?« Seine Großmutter hob die Brauen. »Bislang erscheint mir das nicht so. Du hast deine besten Jahre an die Akademie verschwendet, für diese wertlose Erzmagiwürde. Erkläre mir, wie das dich und vor allem uns als Familie weiterbringt!«
Kaèls Blick ging zur Torte. Am liebsten hätte er sie Alùna ins Gesicht geklatscht. Er atmete tief durch und zählte bis zehn, dann hob er den Kopf und fixierte seine Großmutter. »Die Erzmagiwürde ist nicht ›wertlos‹. Ich habe zehn Jahre dafür gearbeitet, und ich verbitte mir deine Urteile darüber.«
»Wie empfindlich er ist«, sagte seine Großmutter zu Akàri. »Das muss an eurer Erziehung liegen. Dabei sage ich nur, was ich beobachte: Dein Goldstück wird alt, und keine Frau will einen verbrauchten Mann. Mich würde nicht wundern, wenn Nyòko sich am Ende einem anderen zuwendet.«
Akàri erhob sich. »Es reicht«, sagte sie bedrohlich leise. »Jahrelang hast du an allen meinen Entscheidungen herumgemäkelt. Ich lasse nicht zu, dass du dasselbe meinem Sohn antust.« Alùna und sie starrten sich an, als wollten sie sich gleich duellieren, dann warf Akàri ihre Serviette auf den Teller und verließ den Raum.
Auch Kaèl erhob sich. Er nickte seinem Vater zu und eilte Akàri hinterher.
›Was trägt der Junge für eine verlotterte Hose!‹, war das Letzte, was er hörte.
Kaèl fand seine Mutter an ihrem Lieblingsplatz, auf der Terrasse mit Meerblick. Sie lehnte sich an die Balustrade und betrachtete die Sterne.
Er stellte sich neben sie und stützte die Hände auf den kühlen Stein. »Und, hast du unsere große Jägerin Orion entdeckt?«
»Dort.« Sie zeigte auf einen Punkt vor sich.
Er trat näher, und sein Blick folgte ihrem Finger. »Schön.«
»Und da sind die zwei Drachen.«
Für eine Weile starrten sie in den Nachthimmel, dann hob Akàri die Stimme: »Mach dir keine Sorgen, für mich war es längst überfällig, das zu tun.«
»Das glaube ich dir.«
»Ich bin mir sicher, dass du das Richtige tust und das lasse ich mir nicht von dieser Schreckschraube kleinreden.« Sie legte eine Hand auf seine Schulter. »Ich bin stolz auf dich.«
»Danke, Mutter«, sagte er, aber es schnürte ihm die Kehle zu. Am liebsten hätte er ihre Komplimente relativiert, es fühlte sich verlogen an. Wenn sie wüsste, wie seine Pläne mit Nyòko wirklich aussahen, wäre sie weniger enthusiastisch. Und dann war da noch die Sache mit Bendix ...
Er musste jetzt sehr, sehr vorsichtig sein.
oOOo
»Das hat sie wirklich gesagt?«, fragte Bendix. »Ich dachte, Großmütter wären lieb.«
Kaèl lachte laut. »Meine Mutter nennt sie nicht umsonst ›Schreckschraube‹.«
Er hatte sich vorgenommen, Bendix nicht so schnell wieder zu besuchen, es war zu riskant. Aber als seine Besorgung in Nishaì schneller erledigt war als gedacht, war es mit ihm durchgegangen, und er hatte einen Umweg über den Silberwald genommen.
Zuerst hatte Bendix überrumpelt gewirkt, als Kaèl vor seiner Tür stand, aber dann hatte er ihn doch in die Hütte gezogen und so fest umarmt, dass Kaèls Zweifel verschwunden waren.
Jetzt saß er hier, neben Bendix auf dem Bett, und sie strahlten sich an, obwohl Kaèl eine traurige Geschichte zum Besten gab. Aber mit Bendix fühlte sich der gestrige Abend leicht an.
»Krähenfüße ... beste Jahre hinter sich ...« Bendix gluckste. »Wen habe ich mir da angelacht?« Er zwinkerte Kaèl zu. »Da kann ich ja dankbar sein, dass du dich auf deine alten Tage noch in die rumpelige Kutsche hierhin gewagt hast.«
»Ich bin nicht alt!«, empörte sich Kaèl. »Und ich habe keine Krähenfüße!« Zumindest da war er sich sicher – schließlich hatte er das gestern Nacht fast eine Stunde lang vor dem Vergrößerungsspiegel überprüft, bis er sich endlich beruhigt hatte schlafen legen können. »Das hat auch Mister Taryòn bestätigt«, fügte er kläglich hinzu.
»Moment mal. Du hast deinen Diener gefragt, ob du Krähenfüße hast?« Bendix prustete los. »Du bezahlst den Mann. Natürlich findet der keine!«
Kaèl puffte ihm in den Oberarm, aber Bendix lachte ungerührt weiter. Frustriert griff er nach dem Eichhörnchen und klatschte es Bendix an den Kopf. Beim Nähen hätte er niemals gedacht, dass er einmal so etwas damit tun würde, aber es eignete sich erstaunlich gut, machte ein befriedigend sattes Geräusch. Kaèl holte wieder aus, aber Bendix warf sich gegen ihn. Sie rollten übers Bett und rangelten, bis Bendix rittlings auf ihm landete. Er drückte Kaèls Arme in die Matratze. »Wie frech du bist! Du hast wohl vergessen, wer ich bin.«
»Oh ja, zeig’s mir!«, keuchte Kaèl.
»Ich ...« Bendix atmete angestrengt, und Kaèl spürte den harten Grund dafür gegen seinen Bauch drücken.
»Komm«, flüsterte Kaèl. Er schaute Bendix direkt ins Gesicht. »Zeig mir, was der Hexenjäger mit mir anstellen kann.«
Bendix riss die Augen auf, als würde ihm erst jetzt die Verfänglichkeit ihrer Situation bewusst. Er zog sich von Kaèl zurück und setzte sich auf die Bettkante, richtete seine Kleidung, als wäre nichts gewesen.
Kaèl blieb hart und drängend zurück. Er atmete ein paar mal tief durch, dann richtete er sich auf und setzte sich wieder neben Bendix, mit etwas mehr Abstand als zuvor. »Ich wollte dich nicht provozieren«, murmelte er.
»Jetzt bist du bestimmt enttäuscht«, sagte Bendix. Er blickte starr nach unten, auf seine Hände, die er fest in die Kniefalten seiner Hose gekrallt hatte. »Aber ich sollte nicht ...«
»Ich weiß.« Kaèl löste Bendix’ Hand und nahm sie in die seine. Unsicher lächelte er ihm zu, und als Bendix das Lächeln erwiderte, entspannte sich etwas in ihm. »Ich hab dich trotzdem lieb.«
Die Röte schoss ihm in die Wangen. Wie kindisch das klang! Wofür hatte er zu Schulzeiten hundert elbische Liebessonette auswendig lernen müssen, wenn er jetzt mit einem derart banalen Satz glänzte? Und seit wann sprach er überhaupt über seine Gefühle? Er schwitzte, auch seine Hand wurde schwitzig, und Bendix fühlte das bestimmt. Am liebsten hätte er seine Hand wieder weggezogen, aber er wollte nicht die Stimmung ruinieren.
Kaèl räusperte sich. »Um auf das eigentliche Thema zurückzukehren, so anstrengend ich sie auch finde, Großmutter hat guten Grund, verbittert zu sein. Sie wurde in ihrer Jugend von den Menschen gefoltert. Wochenlang. Und wenn sie nicht im letzten Moment gerettet worden wäre, dann hätten sie sie auch noch als Hexe verbrannt.«
»Bei allen Göttern!« Bendix schüttelte sich.
»Und jetzt traut sie keinem Menschen mehr. Als sie Landesherrin war, hat sie alle Menschen gehetzt, die sich auf ihren Boden verirrt haben.«
»Ich kann das irgendwie verstehen«, sagte Bendix. »Aber es ist die falsche Reaktion. Sie tut so, als wären alle Menschen bösartig.«
»Das stimmt.« Kaèl warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Wir Magi sind übrigens auch nicht alle bösartig.«
Bendix wand sich unter seinem Blick. »Ich weiß«, murmelte er mit gesenktem Kopf. »Ich ... denke da schon länger drüber nach. Aber ich befürchte, das ist zu spät.« Jetzt war seine Hand schwitzig.
Er tat Kaèl leid, wie er so in sich zusammengesunken dasaß. Aber gleichzeitig war genau das ein Zeichen für Hoffnung. Vielleicht hatten Kaèls Worte endlich etwas bei Bendix bewirkt.
»Vielleicht wäre es ein Anfang, wenn du aufhörst, dich ›Hexenjäger‹ zu nennen. Der Name ist historisch aufgeladen, nach den abertausenden von Hexenverbrennungen.«
»Ich mich?« Bendix schüttelte vehement den Kopf. »Ihr nennt mich so. Ich nenne mich Bendix.«
»Ernsthaft?« Kaèl musste zugeben, dass er Bendix auch nie nach seinem Namen gefragt hatte – oder vielmehr viel zu spät.
Er blickte zum Fenster. Die Sonne ging schon fast unter.
Irgendwann musste er mit Bendix über alles sprechen, und ihn davon überzeugen, seinen Rachefeldzug aufzugeben, aber nicht heute, wo er zum Abendessen erwartet wurde.
»So unangenehm der ganze Abend auch war, immerhin gab es Regenbogentorte«, sagte er deshalb nur, um die Geschichte zu beenden.
»Was ist das? Etwas Magisches?«
Kaèl lachte. »Nein, das ist eine Leckerei, die Kindern zur Einschulung geschenkt wird. Die Farben repräsentieren alle Richtungen der Magie, aber die Torte an sich ist nicht magisch. Nur lecker. Sie schmeckt süß und cremig, nach Rosen und Marzipan und dazu ist sie bunt wie der Regenbogen.« Er zwinkerte Bendix zu. »Ich hatte überlegt, dir ein Stück mitzubringen, aber du isst ja keinen Zucker. Ich wollte dich nicht zu viele deiner Gelübde auf einmal brechen lassen.«
»Zu viele?«, fragte Bendix alarmiert.
»Nur so viele, wie du willst.« Kaèl ließ Bendix’ Hand aus der seinen gleiten. »Ich sollte heimfahren«, sagte er bedauernd.
Er wollte sich erheben, aber Bendix’ Hand legte sich auf seinen Oberarm. »Musst du wirklich schon wieder los?«
»Es ist zu riskant. Offiziell bin ich in Nishaì, und wenn ich länger bleibe, werden sie misstrauisch.« Er beugte sich vor und küsste Bendix auf die Stirn. »Aber ich komme bald wieder. Und dann reden wir ausführlich über alles.«
Bendix griff in Kaèls Haar und zog ihn an sich. »Küss mich richtig!« Zu Kaèls Verblüffung drückte er seine Lippen auf Kaèls und schlang die Arme um ihn, zog ihn an sich, bis Kaèl seine Wärme durch die zwei Schichten Kleidung spüren konnte. Er schloss die Augen und wagte sich mit seiner Zungenspitze vor, nur ein kleines Stückchen und kitzelte gegen Bendix’ Lippe. Mit einem Seufzer öffnete Bendix den Mund. Er umfasste Kaèls Gesicht, und seine Finger streiften seine Ohrspitze. Sofort schoss ein wohliges Prickeln Kaèls Rücken hinunter, bis in seine Lenden. Er wurde fahrig, küsste Bendix heftiger, bis der sich von ihm löste.
»Vielleicht sollte ich doch bleiben«, sagte Kaèl atemlos. Sein Ohr prickelte noch von Bendix’ Berührung.
Aber Bendix schob ihn sanft vom Bett. »Nein, du Vogel! Jetzt fahr' zurück zu deiner Omi und leiste ihr Gesellschaft.«
Widerwillig erhob Kaèl sich. Er streifte seine Schuhe über und griff nach dem Mantel.
»Und ... bring mir nächstes Mal ein Stück Torte mit, also ...«, Bendix wiegte den Kopf hin und her, »ein ganz Kleines.«
»In Ordnung.« Lachend schritt Kaèl zur Tür. Im Türrahmen blieb er stehen und warf einen Blick zurück. »Bendix?«
»Hm?«
Er verdrehte seine Hände ineinander. »Findest du mich zu alt?«
Bendix warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Du machst dir wirklich Sorgen wegen der Krähenfüße!« Mit zwei großen Sätzen war er bei ihm. Er schlang die Arme um ihn, so dass es Kaèl fast die Luft wegdrückte und bedeckte Kaèls Gesicht mit Küssen. »Ich finde dich umwerfend. Reicht das als Antwort?«
Kaèl nickte lächelnd. Bendix war nicht in der Lage, seine Gefühle oder Gedanken zu verbergen, und was er sagte, das meinte er auch so. »Kann ich nächstes Mal bei dir übernachten?«
»Natürlich«, sagte Bendix. Aber dann glomm Misstrauen in seinen Augen auf. »Warum fragst du das? Willst du etwa mit mir ...?«
»Shhh«, machte Kaèl. »In erster Linie will ich in deinen Armen einschlafen. Und was den Rest angeht ... das schauen wir gemeinsam.« Er warf ihm eine Kusshand zu und trat aus der Tür. Zum Abschied hexte er Bendix noch ein Glühwürmchen auf die Schulter.
»He«, protestierte Bendix. »Das Letzte hat die ganze Nacht vor meinem Gesicht herumgeleuchtet!«
Kichernd lief Kaèl zur Kutsche.
oOOo
»Wo ist Mutter nur«, fragte Elìrios. Nervös blickte er zur Tür. Sie saßen bereits seit zwanzig Minuten an der gedeckten Tafel, aber Alùna ließ auf sich warten. Es verwunderte Kaèl keineswegs. Hätte es das Wort ›Allüren‹ nicht gegeben, es wäre für seine Großmutter erfunden worden. Er nippte an seinem Weinglas und tauschte einen Blick mit Akàri, die beinahe unmerklich mit den Schultern zuckte.
Endlich rauschte Alùna in den Saal. Sie würdigte Akàri und Kaèl keines Blickes und setzte sich neben Elìrios.
»Eine Freundin, die im Rat der Elf ist, hat mir geschrieben«, sagte sie übergangslos.
»Jetzt ist es der Rat der Zwölf«, korrigierte Kaèl.
Alùnas Blick verhärtete sich bedrohlich. »Sie hat mir berichtet, dass mein eigener Enkel dort gefordert hat, den Menschen mehr Rechte zuzusprechen.« Sie sprach leise, aber ihre Stimme zitterte vor Wut. »Wie in aller Drachen Namen kannst du so etwas verlangen? Diejenigen zu schützen, die uns verbrannt haben!«
Bei den Worten sackte Elìrios in sich zusammen.
»Schwiegermutter«, sagte Akàri. »Ich denke, da liegt ein Missverständnis vor, unser Kaèl’thas würde nie –«
»Nein, Mutter«, unterbrach sie Kaèl, »Großmutter hat recht.« Er drückte den Rücken durch. »Und ich stehe zu meiner Meinung. Nicht alle Menschen sind schlecht und ja, sie bedürfen unseres Schutzes.«
Alùna lachte bitter. »Wie nennt man das nochmal, wenn man an das Gute im Menschen glaubt? Ach ja, Dummheit.«
»Oder begründeten Optimismus.«
»Begründet auf was? Schau dir die Statistiken an. Wer begeht in Finistère die Verbrechen? Hauptsächlich die Menschen. Warum? Weil es ihre Natur ist.«
›Weil es ihre Natur ist‹. Seufzend rieb Kaèl sich die Stirn. Der Tag war bislang so schön gewesen. »Die Menschen hier sind überproportional häufig Gewalt ausgesetzt«, sagte er spitz. »Welche Optionen bleiben ihnen da?« Ein Blick in das Gesicht seiner Großmutter, und er bereute seine Worte. Ihre Diskussion war ebenso sinnlos wie zerstörerisch, jeder weitere Kommentar von ihm stachelte seine Großmutter nur zu weiteren Hasstiraden an.
»Die Menschen sollten überhaupt nicht hier sein«, murmelte Elìrios. Er linste zu seiner Mutter, wie ein Hund, der auf ein Leckerli wartet.
Die beachtete ihn nicht, ihre volle Aufmerksamkeit ruhte auf Kaèl. »Befürwortest du auch, dass Leute wie der Hexenjäger durch das Land ziehen, und eine Magi nach der anderen töten?«
Der Name brachte Kaèl aus dem Konzept. Er atmete tief durch, krallte seine Hand um die Tischkante. »Natürlich nicht. Mord ist immer die falsche Antwort. Aber wir sollten uns auch fragen, was ihn dazu gebracht hat, das zu tun.«
»Unfassbar! Für Schwerverbrecher bringst du mehr Verständnis auf, als für dein eigen Fleisch und Blut! Für solche Verräter wie dich haben wir nicht im Krieg gekämpft!«
»Schwiegermutter!« Akàris Stimme zerschnitt den Saal. »Das geht zu weit.«
»Ich lasse mir den Mund nicht verbieten.« Alùna erhob sich. »Diese Menschenfreundlichkeit. Hat er das von dir, Akàri?«
»Nein, hat er nicht.« Kaèls Mutter seufzte. »Aber ich habe Kaèl’thas so erzogen, dass er seine eigene Meinung bilden kann.«
»Sich ins Verderben stürzen kann, wolltest du sagen.« Alùna warf ihre Serviette auf den Teller. Ihr Blick schweifte von Kaèl zu Akàri, die hochrot angelaufen war. »Ich sehe, hier ist Hopfen und Malz verloren. Lass ihn tun und lassen, was er will. Aber beklag dich später nicht, wenn dein Söhnchen deine Erwartungen nicht erfüllt.« Sie reckte das Kinn und schritt zur Tür.
Elìrios eilte ihr hinterher. »Mutter, sie hat es bestimmt nicht so gemeint«, murmelte er, dann schloss sich die Tür hinter ihnen, und Kaèl und Akàri blieben allein zurück.
Er atmete auf. »Danke.«
Akàri erhob sich schweigend. Sie wirkte einen Stillezauber um sie herum, dann setzte sie sich wieder und fixierte ihn. »Nur weil ich dich verteidigt habe, heißt das nicht, dass ich deine Meinungen teile.«
»Ich weiß.« Unter dem Stillezauber hörten sich ihre Stimmen verzerrt an, wie unter einer Kuppel aus Glas, was sein inneres Fremdheitsgefühl verstärkte. »Genau darüber wollte ich mit dir sprechen, Mutter. Ich kann nicht vergessen, was mit den aufständischen Bauersleuten geschehen ist.«
»Hast du dem Rat auch davon berichtet?«
»Nein, das bleibt in unserer Familie.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, immerhin wusste Nyòko davon, aber er musste jetzt auf ihr Stillschweigen hoffen. »Die Menschen Fukuòkas brauchen mehr Rechte und es liegt an uns, das durchzusetzen.«
»Das hat dieses aufständische Pack nicht verdient.«
Die Wut stieg in ihm hoch. »Natürlich haben sie das verdient! Sie bewirtschaften die Felder, fahren ihre Ernte ein und arbeiten für uns. Was erwartest du noch?«
Akàri schwieg.
»Du willst, dass ich deine Arbeit kennen lerne«, probierte er es erneut. »Ich gebe zu, anfangs habe ich mich dagegen gesträubt, aber jetzt begrüße ich das, und ich bitte dich darum, mir mehr Entscheidungsfreiheit zu geben.«
»Du bist noch nicht so weit.«
»Mutter«, beharrte er. »Gib mir wenigstens eine Chance.«
»Du erinnerst mich daran, wie ich vor dreißig Jahren war.« Sie lächelte versonnen. »Auch ich hatte Pläne. Aber dann siehst du die Grausamkeit in allen kleinen und großen Dingen und merkst, dass vieles von dem, was du kritisiert hast, seine Berechtigung hatte. Das ist der Punkt, an dem du wirklich anfängst, zu regieren.«
»Es gibt meist mehrere Lösungen für ein Problem«, sagte Kaèl.
Akàri zuckte mit den Schultern. »Allzu oft gibt es nicht einmal eine Einzige. Das wirst du früh genug feststellen.« Kopfschüttelnd erhob sie sich, löste den Stillezauber und ließ ihn allein.
Zurück in seinen Gemächern lief er in großen Achten durch den Salon. Je länger er darüber nachdachte, desto weniger gefiel ihm, wie er die Diskussion geführt hatte. Ja, die Menschen waren fleißig und ernteten das Korn, zu dem später Kaels Brötchen verarbeitet wurden. Aber war das überhaupt der Punkt? Sie waren Individuen, keine Nutztiere. Wieso war es überhaupt wichtig, wer sich was und wie verdient hatte? Wie hatte Kaèl es sich verdient, ein derart komfortables Leben zu führen?
In einem hatte Akàri recht: Kaèl war ein Kind des Elfenbeinturms. Er wusste wenig von den Zuständen der Welt draußen und es mangelte ihm an Ideen, die praktisch umsetzbar waren. Aber daran konnte er arbeiten.
Er setzte er sich in den Sessel vorm Kamin und wirkte den Hologrammzauber.
Nyòkos Gesicht flackerte vor ihm auf, sie saß in ihrem Salon, auf dem Sofa. Ihr Haar stand wirr zu allen Seiten ab, und sie hatte sich in einen derart hässlichen Morgenmantel gehüllt, dass er vor Fremdscham schlucken musste. So lief sie also herum, wenn sie allein war. »Störe ich?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe es mir mit meinem Buch bequem gemacht, aber das kann ein Weilchen warten. Warum rufst du an?«
»Du meintest beim Lichtfest, dass du mich mit Lady Midòri bekannt machen wolltest.« Kaèl blickte sie fest an. »Könntest du ein Treffen arrangieren? Ich will endlich politisch aktiv werden.«