Voller Vorfreude stolzierte Kaèl über die Lichtung zum Unterschlupf des Hexenjägers.
Er hatte nach ihrem letzten Kampf begriffen, dass eine Begegnung mit dem Hexenjäger immer im Nahkampf enden würde. Deshalb hatte er die letzte Woche über mit ein paar Zaubern herumexperimentiert, die seine Nahkampffähigkeiten verbessern sollten. Besonders nützlich erschien Kaèl der ›Eilfertigkeitszauber‹, den er in den Büchern seiner Mutter gefunden hatte. Dieser steigerte die Geschwindigkeit seiner Bewegungen, und er hoffte, so mit dem absurden Tempo des Hexenjägers mithalten zu können. Für den Notfall hatte er geübt, per Telekinese Äste oder andere Gegenstände zwischen sich und den Hexenjäger zu ziehen und sich so vor seinen Attacken zu schützen. Jeden Abend hatte er sich zu Liegestützen gezwungen, und als Ergebnis seiner Mühen konnte er die Andeutung eines Bizeps an seinem Oberarm fühlen. Ja, er war bereit für die nächste Runde!
Zu seiner Überraschung saß der Hexenjäger im Schneidersitz vor seiner Hütte, die Augen geschlossen. Ein Eichhörnchen putzte sich neben ihm und eines saß auf seinem Knie. Seine Waffen lagen locker in ein Öltuch geschlagen hinter ihm – er hatte sie also wiedergefunden.
Das wäre ein Gemälde wert, dachte Kaèl. Nicht diese ewigen Gipfelbilder meines Vaters. Fasziniert schlich er ein Stückchen näher heran.
Der Hexenjäger hatte seine Anwesenheit wohl gespürt, denn er sagte, ohne die Augen zu öffnen: »Ich bin beschäftigt. Kann ich dich ein andermal ignorieren?« Er verzog dabei keine Miene, aber ein Lächeln schwang in seiner Stimme mit.
Kaèl musste kichern. Der Kerl hat doch Humor!
»Mich ignorieren?«, fragte er mit gespielter Empörung. »Das wird schwierig werden.«
Der Hexenjäger schlug die Augen auf. »Das befürchte ich auch.« Jetzt lächelte er richtig und Kaèl wurde warm. Auch er musste lächeln, bis über beide Elbenohren.
Er deutete auf den Hexenjäger. »Was tust du da überhaupt?«
»Ich meditiere. Wie jeden Tag.«
»Was ein Unfug. Du willst doch überhaupt nicht zaubern lernen!«
Der Kerl runzelte die Stirn. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Kaèl war schneller. »Meditation«, zitierte er den Almanach für Zauberkunde, Band fünf, »ist eine grundlegende und zentrale bewusstseinserweiternde Übung, um den Geist zu sammeln. Ziel ist es, die Trennung des sich als Subjekt erlebenden Individuums von einer als Objekt erfahrenen Welt zu überwinden und in den vierten Hauptbewusstseinszustand zu gelangen. Überdies ...«
»Du hörst dich selbst gern reden, oder?«, fiel ihm der Hexenjäger ins Wort.
Kaèl hielt inne. Er überlegte kurz. »Das ist meine Taktik. Die meisten geben nur hohlen Unfug von sich, deshalb steuere lieber ich die Gespräche.«
Der Hexenjäger schnaubte. »Eine gute Taktik, um nichts dazulernen zu müssen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Na, die Meinung anderer interessiert dich offensichtlich nicht, da kannst du dir die Fragen auch sparen und gleich mit deinem Spiegelbild reden!«
»Ich lausche nur denen, die meiner Aufmerksamkeit würdig sind.« Kaèl warf dem Hexenjäger einen bitterbösen Blick zu. »Und du bist es offensichtlich nicht.« Er verschränkte die Arme und für ein paar Atemzüge schwiegen sie sich an. Als würde ich nichts Neues lernen, dachte er. Das ist sozusagen mein Lebenszweck!
Das Eichhörnchen, das sich gerade noch geputzt hatte, hoppelte zu ihm, stellte sich auf die Hinterbeinchen und blickte mit seinen großen Knopfaugen zu ihm hoch. Eine Weile schaffte Kaèl, seinen verärgerten Gesichtsausdruck zu wahren, aber dann musste er schmunzeln. Er beugte sich hinunter und hielt dem Tier vorsichtig seine Hand hin. Kurz schnupperte das Eichhörnchen daran, dann huschte es hinter einen Haufen Holzscheite. »Hat das Kleine einen Namen?«
»Das ist eine sie«, sagte der Hexenjäger. »Lisi.« Sachte klopfte er gegen sein Knie, auf dem das andere Eichhörnchen saß. »Und dieser junge Bursche heißt Anton.«
»Stören die beiden dich nicht beim Meditieren?«
Der Kerl hob die Brauen. »Warum sollten sie?«
»Wenn ich meditiere, brauche ich absolute Ruhe. Sonst kann ich mich nicht konzentrieren.«
»Aber genau das lernst du doch beim Meditieren! Und das nirgendwo besser, als in einer unruhigen Umgebung.«
»Hmm«, machte Kaèl, wenig überzeugt.
»Im Kloster musste ich unter allen möglichen Bedingungen meditieren. Auf einem Nagelbrett, im Schnee, mit nichts als einer dünnen Tunika am Leib oder unter der sengenden Sonne ohne einen Tropfen Wasser.«
»Das klingt beängstigend.«
Der Hexenjäger zuckte mit den Schultern. »Jeder Schritt auf dem wahren Pfad ist steinig. Dafür kann ich mich jetzt in allen noch so hektischen Situation auf das Wesentliche konzentrieren.«
Also uns Magi zu töten, dachte Kaèl, er schluckte die Worte aber herunter.
Vorsichtig hob der Hexenjäger das Eichhörnchen – Anton – von seinem Knie und setzte es auf den Boden, was Anton mit einem leisen Fiepen über sich ergehen ließ. Er erhob sich und streckte sich mit einem Seufzer. »Durch die Meditation habe ich gelernt, dass alles im Leben, jeder Gedanke, jedes Gefühl, vergänglich ist, so wie das Leben selbst. Wenn du das begriffen hast, dann hängst du nicht mehr an Dingen … oder Gefühlen.« Ein harter Zug hatte sich um den Mund des Hexenjägers gebildet, als er sprach, er wirkte fast wie ausgewechselt.
Kaèl fragte sich, was für ›Dinge‹ er genau meinte. Er wollte gerade eine Frage dazu formulieren, da schaute ihm der Hexenjäger ins Gesicht. »Wie meditierst du?«
Die Frage brachte ihn aus dem Konzept. Er überlegte kurz, dann sagte er: »Zunächst konzentriere ich mich auf meinen Atem, um meinen Geist zu beruhigen. Und dann nehme ich mir einen Gegenstand vor, zum Beispiel diesen Stein dort«, er zeigte auf einen kleinen Kiesel vor den Füßen des Hexenjägers, »und stelle mir vor, wie er sich zusammensetzt.«
»Du meinst, dass er aus vielen kleinen Teilchen besteht?«
»Genau«, freute sich Kaèl, »wurde das auch bei euch in der Schule gelehrt?«
»Schule?« Der Hexenjäger schnaubte belustigt. »Dafür hatten wir kein Geld. Ich musste meinen Eltern auf dem Feld helfen!«
Die Erkenntnis durchfuhr Kaèl. Er ist ein Bauersjunge? Wie diese knechtischen, dreckigen Gestalten, die sich krumm über den Pflug beugen?
Verstohlen musterte er den Hexenjäger. Er wirkte nicht krumm oder klein. So wie er dastand, mit durchgedrücktem Rücken, wirkte er eher wie einer, der sich von niemanden etwas sagen ließ.
»Das mit den Steinen«, fuhr der Hexenjäger fort, »ist mir irgendwann aufgefallen, als ich Feuer mit Feuersteinen machen wollte. Man kann immer mehr abschlagen, und die Stücke sind wiederum kleinere Steine. Ich habe mir vorgestellt, dass es endlos so weiter gehen könnte, bis man die einzelnen Splitter nicht mehr erkennen kann.«
»Endlos weiter geht es nicht«, sagte Kaèl. »Irgendwann erreicht man einen kleinsten Teil. Und dann wird es spannend. Auch der härteste Stein ist nichts weiter als winzige Partikel, zusammengehalten durch Energie. Wir Magi verändern diese Energie so, dass sich auch der Stein verändert. Je genauer die eigene Vorstellung des Steines ist, desto feinere, präzisere Verwandlungen können wir damit anstellen.« Er hob die Hand und sammelte seine Energie. Kurz genoss er das feine Kribbeln zwischen den Fingerspitzen, dann zog er den Stein mit seiner Magie auseinander wie Teig. Für einen Atemzug ließ er ihn in diesem Zustand und drängte ihn dann wieder in seine ursprüngliche Form zurück. »So funktioniert Transformationsmagie. Sie ist komplexer und interessanter als Zerstörungszauber. Ich sehe keinen Sinn darin, eine immer brachialere Waffe zu entwickeln, um andere zu töten.«
»Dann bist du anders als die anderen Hexen«, sagte der Hexenjäger.
»Wir sind eine inhomogene Gruppe.« Kaèl schaute dem Kerl in die Augen, aber dieser starrte zurück, als glaube er ihm kein Wort.
Kaèl seufzte. »Leider fällt es mir momentan schwer, mich zu konzentrieren, eine Schande, denn in nur drei Monaten ist meine Prüfung.«
»Was ist das Problem?«
»Ich …« Er errötete. So genau musste der Hexenjäger nicht wissen, wie sehr er Kaèls Gedanken beherrschte. »Das ist nicht so wichtig«, sagte er hastig.
»Es ist auch nicht schlimm«, sagte der Hexenjäger. »Selbst wenn du dich nicht konzentrieren kannst, lernst du etwas, vielleicht sogar mehr, als wenn alles so läuft, wie du es dir wünscht, denn dann bist du wirklich gefordert. Du musst nur weitermachen.«
Interessant. Er betrachtet die Meditation wirklich als Konzentrationsübung.
»Das ergibt erstaunlich viel Sinn«, sagte Kaèl widerstrebend. Sollte dieser Bauernjunge ohne Schulbildung mehr Kenntnisse der Meditation haben, als ich?
»Genug geredet.« Der Hexenjäger deutete zur Lichtung, auf der sie beim letzten Mal miteinander gerungen hatten. »Lass uns kämpfen. Die Sonne geht bald unter.«
Diesmal griff er nicht zu seinen Klingen.
»Ganz ohne Waffen?«
Der Hexenjäger lachte. »Glaub’ mir, die brauche ich nicht.«
Kaèl musste zugeben, auch ohne Waffen war der Kerl eine Herausforderung. Aber diesmal hatte Kaèl sich wenigstens auf Nahkampf eingestellt. Der Hexenjäger mochte mehr Kraft haben und sicherlich auch die Technik, um Kaèls Genick mit einer einzigen Bewegung zu brechen, aber Kaèl hatte trainiert und verhinderte mit seinen Schockwellen und ein paar gekonnt gesetzten Telekinesezaubern das Schlimmste.
So wälzten sie sich die meiste Zeit übereinander im Gras, umklammerten sich, zerrten und zogen an Kleidung, Armen und Beinen, immer auf der Suche nach einer Schwachstelle, um zu würgen oder die Gelenke des anderen zu verdrehen. Zum Glück hatte Kaèl interessehalber einen Kurs in Anatomie belegt und konzentrierte seine Energie auf alle empfindlichen Körperstellen, dort, wo Nerven zusammenliefen oder wo Gelenke besonders anfällig waren.
Diese Art zu kämpfen gefiel ihm besser als der Fernkampf, was ihn selbst überraschte. Es hatte seinen ganz besonderen Reiz, sich fest an den Körper des Hexenjägers zu pressen oder ihn mit gezielten Fauststößen vor Frustration aufstöhnen zu lassen.
Kaèl schlug sich erstaunlich gut, für einen, der sonst nicht physisch kämpfte. Aber ja, in Notfällen war er schon immer zu Höchstform aufgelaufen.
›Jüngster Erzmagi besiegt Hexenjäger im Nahkampf‹, dachte er, das wäre auch eine interessante Überschri–
Verdammt, er hatte einen Moment nicht aufgepasst! Der Kerl hatte es genutzt und schwang sich mit Wucht auf Kaèls Torso. Jedes einzelne Kilo Muskelmasse bohrte sich schmerzhaft in Kaèls Rippen und presste ihm die Luft weg. Der Hexenjäger packte seine Handgelenke und drückte sie über Kaèls Kopf auf den Boden. »Hab‘ ich dich!«
Kaèl hatte dem nichts entgegenzusetzen, mit fixierten Armen konnte er nicht zaubern.
Wenn er mich würgt, bin ich verloren!, dachte er panisch.
Mit aller Wucht strampelte er um sich. »Runter«, rief er.
Der Hexenjäger grinste wölfisch. »Warum? Du bist genau da, wo ich dich haben will.« Er beugte sich tiefer und flüsterte in Kaèls Ohr: »Unter mir und vollständig meiner Gnade ausgeliefert.« Dabei streifte sein warmer Atem die Spitze von Kaèls Ohr. Ein Schauer rann Kaèls Wirbelsäule hinunter und er konnte ein leises Stöhnen nicht unterdrücken. Verdammt, seine Ohren waren zu empfindlich!
Der Hexenjäger schob Kaèls Arme über dem Kopf zusammen und fixierte sie nur noch mit seiner linken Hand. Die freie Hand legte er auf Kaèls Hals. Ein Zittern ging durch Kaèls Glieder. Das hier nahm eine ganz dunkle Wendung.
Der Hexenjäger hat Recht, er braucht keine Waffen um mich zu besiegen. Sein verdammter Körper ist genug.
Fünf Finger schlossen sich um seine Kehle und drückten zu. Ein heißer Schmerz erfasste ihn, voller Panik versuchte er, seine Hände freizubekommen, aber der Hexenjäger war zu stark für ihn. Er zuckte und bäumte sich, ohne Effekt. Sein Blick verschleierte sich.
»Bitte nicht«, keuchte er. Tränen liefen ihm die Wangen herunter.
Der Hexenjäger schluckte schwer. Die Härte wich aus seinen Augen und er lockerte seinen Griff. Langsam glitt er mit der Hand höher, über Kaèls Kiefer, seine Wange. Beinahe zärtlich strich der Daumen über Kaèls Kinn und kam auf seinen Lippen zum Ruhen.
Wie gebannt starrte der Hexenjäger auf Kaèls Lippen, dann riss er die Augen auf und zog die Hand zurück. Er schüttelte den Kopf, offensichtlich verwirrt.
Kaèl schaltete schnell. Er drückte ihn mit einer Schockwelle fort und verschwand in der Unsichtbarkeit. Er rannte in den Wald hinein, rannte, bis seine Lungen brannten und seine Beine nachgaben. Keuchend kam er zum Stehen, hielt sich die Seiten.
Was, bei allen Drachen, war das?
Zurück im sicheren Heim verbarrikadierte er sich im Bad. Er fühlte sich ausgelaugt vom Kampf, er konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder einen Zauber wirken zu wollen.
Kaèl begutachtete sich im Spiegel. Seine Kleidung war an mehreren Stellen zerrissen und die ehemals silberne Seide war nun fleckig-braun. Er fühlte sich schmutzig, sein Körper klebte vom getrockneten Schweiß oder dem Geruch nach zu urteilen, von einer Mischung aus seinem Schweiß und dem des Hexenjägers.
Sein gesamter Körper schmerzte. Er musste sich schleunigst des Gewandes entledigen, die Wunden reinigen und mit Madame Hazels magischer Tinktur behandeln. Aber vom vielen Klammern und Reißen waren seine Fingerkuppen aufgerissen, sodass er es kaum schaffte, die unzähligen Knöpfe und Verschlüsse zu lösen. Mit seiner letzten Energie wirkte er einen Zauber, und die Kampfrobe glitt zu Boden.
Gedankenverloren hob er sie hoch und schnupperte daran. Sie roch nach dem Hexenjäger.
Warum hat er mich nicht getötet?
So gefährlich dieser Kerl auch war, Kaèl würde wiederkommen und es herausfinden!