ANMERKUNG: Die Weinzitate stammen nicht von mir. Die stehen so /tatsächlich/ in einer Karte eines Restaurants, das ich mag: http://www.zest-leipzig.de/drinks.html
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Die Whitecrows hatten zu ihrem alljährlichen Erntefest geladen. Sie gehörten zum Hochadel Finistères und auf ihren Bällen war die Crème de la Crème der Gesellschaft versammelt, folglich durften die Hotàrus nicht fehlen.
Kaèl hatte sie und ihre Veranstaltungen schon immer als besonders nervig empfunden. Die Whitecrows waren borniert, voller Vorurteile und unempfänglich für logische Argumente. Seiner Mutter fiel das nicht auf, da sie die meisten ihrer Ansichten teilte, aber Kaèl bereiteten ihre platten Witze und geistlosen Kommentare beinahe physische Schmerzen.
Meist täuschte er deshalb am Vortag der Abreise Kopfschmerzen oder eine Grippe vor, um nicht mitreisen zu müssen, aber so verkupplungswütig, wie seine Eltern gerade waren, hätten sie ihn auch im letzten Stadium der Pestsepsis mitgeschleppt, schließlich umgarnte Nyòko sich nicht von allein.
Das Erntefest machte seinem Namen alle Ehre, die Tafel bog sich unter den Speisen und alles war mit herbstlich-buntem Laub und Kürbissen dekoriert. Die meisten der Gäste trugen aus Weinblättern gewundene Kränze im Haar und Roben in allen möglichen Gelb- und Rottönen, nur Kaèl stach mit seinem azurblauen Festgewand hervor, das er bewusst gewählt hatte, um zu provozieren.
Er spielte mit seinem Weinglas. Wieder einmal war er neben Nyòko platziert worden, und sie hatten sich wenig zu sagen. Ihm sollte es recht sein. Wirklich störend war lediglich der Sitznachbar zu seiner Linken. Es war Finley Whitecrow, der zweitälteste Sohn ihrer Gastgeber*innen und passionierter Freizeitwinzer, der am liebsten alle mit seinen snobistischen Bouquetanalysen langweilte. Auch heute redete er – wenig überraschend – über Wein. Kaèl hätte ihn allzu gern ausgeblendet und sich seinen Gedanken gewidmet, aber Finley hatte ein ausnehmend lautes Organ und den Willen, es ununterbrochen zu nutzen.
Finleys schweinchenrosa Wangen glühten vor Eifer. »Eine liebreizende Kombination der Aromen. Hochinteressant.« Mit bedeutsamer Miene stellte er sein Weinglas beiseite.
»Ich schwöre dir«, flüsterte Nyòko in Kaèls Ohr, »wenn er noch einmal ›hochinteressant‹ sagt, bringe ich ihn um.«
Kaèl schnaubte amüsiert. »Ich befürchte, dann wird er nicht alt werden.«
Finley hob das nächste Weinglas und schwenkte es aufmerksam. »Jetzt kommen wir zu einer Sorte aus den sonnigen Bergen von Alènia.« Langsam schob er seine Nase über den Rand des Glases und sog den Duft ein. »Ein erlesener Tropfen, lieblich, aber hoch-inter-essant!«
Nyòko atmete scharf ein. Kaèl biss sich auf die Zunge, um ein Lachen zu unterdrücken.
Finley nahm einen kleinen Schluck, zog ihn gedankenverloren durch die Zähne und erzeugte dabei ein Geräusch, das Kaèl würgen ließ. »Hier sind sehr reife Knorpelkirschen im Zwiegespräch mit reinem Kakao.«
»Ich finde, da schwingt eine Note Pflaumenmus mit«, sagte Nyòko laut. »Aber erst im Nachgang.«
Das verwirrte Kaèl. Was hat sie vor? Aber ihr Gesicht verriet keine Emotion.
Finley drehte sich um und starrte zu ihr. »Pflaumenmus?« Er griff nach seinem Glas und führte es an die Lippen. Wieder nahm er einen Schluck und es folgte das unappetitliche Schlürfgeräusch. Er nickte bedächtig. »In der Tat! Saftig, ja beinahe charmant, mischt sich ein Schlag Pflaumenmus ein. Dieser Wein – wahrhaftig ein Wolf im Schafpelz!« Er stellte das Glas wieder ab. »Wie sehen Sie das, Madame Thompson?«
Madame Thompson machte ein nachdenkliches Geräusch. »Pflaumenmus trifft es. Aber auf der Zunge dominieren die Tannine und eine Spur Holunderbeere.«
»Und Cayennepfeffer«, ergänzte Lady Kàshiko von Gegenüber.
Finley wiegte Kopf hin und her. »Ich schmecke da vor allem etwas frisch aufgeschnittene Mispel heraus.«
»Was Sie nicht alles herausschmecken!«, sagte Kaèl sarkastisch.
»Jahrelange Übung«, erklärte Finley mit unverhohlenem Stolz in der Stimme.
Kaèl konnte nicht mehr. Für heute war sein Bedarf an aufgeblasener Einfältigkeit gedeckt. Zum Glück wurde in dem Moment die Käseplatte serviert und nach ›nur‹ einer weiteren blasierten Bouquetanalyse war das Essen vorbei.
Er blickte zu Nyòko, aber die schwatzte bereits mit Lady Kàshiko am Rande der Tanzfläche. Kurz überlegte er, die Gelegenheit zu nutzen, um in der Unsichtbarkeit zu verschwinden und sich dann einfach fortzustehlen, aber der Blick seiner Mutter ruhte auf ihm. Er schnappte sich ein Glas vom Tablett eines Dieners und gesellte sich zu Nyòko und der Freundin.
»Seit Iònatan in Mistivale ist, ist Ludòiku noch wachsamer«, sagte Nyòko gerade. »Andauernd beobachtet er mich. Ich brauche unbedingt eine Atempause.«
Als sie ihn bemerkten, unterbrachen sie ihren Plausch. »Hallo mein Teuerster«, sagte Nyòko.
»Nyòko, Lady Kàshiko«, er nickte den beiden zu und sie tauschten ein paar Floskeln aus.
»Pflaumenmus?«, fragte er Nyòko. »Ernsthaft?«
»Ach das.« Sie machte eine verächtliche Geste. »Finley ist so unerträglich! Prìssi und ich haben uns deshalb angewöhnt, ihn mit inadäquaten Vorschlägen aus dem Konzept zu bringen.«
Prìssika Kàshiko lachte. »Leider funktioniert die Taktik nicht. Dafür versteht unser lieber Finley zu wenig von Wein.«
»Wären seine Eltern besser fünf Minuten spazieren gegangen!« Nyòko seufzte theatralisch.
Kaèl gluckste.
»Ludòiku schaut wieder herüber«, sagte Nyòko zu Lady Kàshiko. »Ich fürchte, es wird Zeit für meine Balkonstunde mit meinem Kavalier.«
»Du Ärmste!«
Wie unverschämt!, dachte Kaèl, aber er verkniff sich eine Bemerkung.
Nyòko zuckte mit den Schultern. »Wir sehen uns später.« Sie hauchte Prìssika einen Kuss auf die Wange, wandte sich zu Kaèl und hielt ihm den Arm hin. »Wollen wir?«
»Haben wir eine Wahl?« Er hakte sich bei ihr ein, und sie führte ihn an den Stehtischen vorbei durch den Festsaal. Die Decke zierte ein monumentales Gemälde, das die wichtigsten Szenen des magischen Krieges zeigte: Scheiterhaufen, nackte, blutende Leiber, die Münder zu Schreien aufgerissen und dann die Erlösung durch fliegende Drachen und zum Abschluss ein rauschendes Fest der magischen Welt.
So etwas Grässliches bekommt man selten zu sehen, dachte er. Das ist auch irgendwie eine Kunst.
Er zuckte zusammen. An einem der Tische stand Lanaya. Als sie ihn mit Nyòko am Arm erblickte, verzog sie ihr Gesicht, als wolle sie Kaèl gleich an die Gurgel springen.
»Lass uns anders herum gehen«, bat er Nyòko.
»Warum?« Sie folgte seinem Blick. »Wegen Madame Psi? Eine deiner vielen Verflossenen?«
»Es war nicht mehr als ein kurzes Stelldichein. Direkt, nachdem ich es beendet hatte, ist sie Tempeldienerin geworden und hat der fleischlichen Lust abgeschworen.«
»Du bist unglaublich«, sagte Nyòko. »Was habe ich nur verbrochen, dass Ludòiku mich mit dir verkuppeln will?«
Kaèl zog sie zur anderen Seite des Saales. Als er sich fern genug von Lanaya wähnte, sagte er: »Sie war wirklich penetrant. Kaum hatten wir drei Nächte miteinander verbracht, fing sie an, Metaphern über unsere Liebe zu spinnen. ›Das glitzernde Wasser, tief wie unser beider Gefühle‹, hieß es dann bei einer Bootsfahrt und so weiter. Es war schwülstiger als die schlimmste Operette!« Er lachte. »Um es in Lanayas Stil auszudrücken: ›Ihre Liebe brannte wie eine Harnwegsinfektion.‹ Ich musste es beenden!«
»Wie lieblos du bist!«
»Ich nenne es ›differenziert‹.«
Sie schnaubte. »Differenziert? Du lässt kein gutes Haar an ihr! Wahrscheinlich führst du auch imaginäre Listen über andere, auf denen du alle ihre Fehler und Schwächen aufzählst.«
»Nein, nein«, log Kaèl und zauberte ihr mit einer kleinen Verbeugung die Tür zum Balkon auf.
Sie trat hinaus und atmete tief durch. »Aus genau dem Grund habe ich dich immer gemieden. Weil du so hartherzig und kalt bist.«
Er verzog keine Miene, aber innerlich versuchte er, das Gesagte zu verarbeiten. Die Worte trafen ihn unerwartet hart. Mit der Liste hatte sie recht gehabt, aber er verstand nicht, was daran so schlimm sein sollte oder warum er gar ›lieblos‹ dadurch wirkte. Wie sonst soll ich günstige Entscheidungen über meine Zukunft treffen? Wie macht sie das denn bitte?
Die Abendluft war herbstlich-kühl, aber dafür hatten ihre Gastgeber*innen mit Fellen ausgelegte Bänke um ein magisches Feuer drapiert, das in immer wiederkehrenden Formen brannte, einmal war es ein Drache, dann ein Fuchs, dann ein Glühwürmchen.
Die Wappentiere der Adelsfamilien, dachte Kaèl. Das ist originell!
Sie machten es sich auf einer Eckbank bequem und Kaèl kuschelte sich in eine Felldecke.
»Iònatan studiert jetzt in Mistivale?«, fragte er. »Das ist eine hervorragende Akademie! Dort lehrt Neomùra, ein Mitglied des Rates der Elf und eine Koryphäe der Transformationsmagie.«
Sie machte eine genervte Geste. »Das weiß ich, Kaèl und es freut mich für ihn. Trotzdem wäre mir lieber, er wäre hier.«
»Du vermisst ihn?«
Sie nickte langsam. »So etwas wie das mit dem Wein haben wir früher andauernd gemacht. Einmal hat er Finley sogar Jauche in seinen Wein gehext, und der hat es nicht einmal bemerkt.« Sie kicherte leise, dann senkte sie den Blick. »In solchen Momenten fehlt er mir besonders.«
»Hm«, sagte Kaèl ratlos. Was sollte er dazu sagen? Er hatte keine Geschwister und konnte sich auch nicht vorstellen, wie es wäre, welche zu haben.
Sowieso war es kurios, wie anhänglich die meisten Leute waren. Ihn hätte man in einen hohen Turm sperren können, solange er dort Zugriff auf seine Bücher gehabt hätte, hätte ihm nichts gefehlt. Aber mit der Ansicht schien er allein zu sein. Andererseits ... der Hexenjäger lebte ja auch fernab von allen in seiner Hütte. Und er schien zufrieden zu sein, mit der Gesellschaft seiner Waffen, seinem Garten und neuerdings den Eichhörnchen.
Beim Gedanken an die Tierchen musste er lächeln. Lisi und Anton ... Ob er sie nachts in seiner Hütte schlafen lässt?
Irgendwie war es absurd. Er kannte die Namen der Eichhörnchen, aber der Hexenjäger hatte ihm den seinen nicht verraten. Kaèl hatte bereits einige Male darüber nachgedacht, wie er ihn auf eine möglichst unverfängliche Weise danach fragen könnte. Aber so etwas wie: ›Welchen Namen soll ich auf deinen Grabstein schreiben‹ erschien ihm dann doch zu affektiert – was schade war, denn für den Spruch hatte er eine halbe Nacht wachgelegen.
»Na dann«, sagte Nyòko und holte ein kleines Buch unter ihrem gebauschten Rock hervor. Sie fing an zu lesen. Dabei positionierte sie sich so zur Tür, dass es für alle Außenstehenden aussah, als würde sie mit Kaèl parlieren. Es machte ihn sprachlos, wie mühelos sie damit alle täuschte. Nyòko hatte es faustdick hinter den Ohren.
Vielleicht las der Hexenjäger auch so gern wie Nyòko und Kaèl, mit irgendetwas musste er sich ja beschäftigen, in seiner Einöde.
Er schüttelte den Gedanken fort, und fing an, die Zauber durchzuexerzieren, die er sich für heute Abend vorgenommen hatte. Aber seine Gedanken wollten nicht so recht fließen und nach zwanzig Minuten kam er an eine Stelle, an der er nicht mehr weiterwusste. Irgendetwas an seiner Handbewegung war falsch, und die Energie floss nicht, er konnte aber nicht genau bestimmen, woran es lag. Dafür hätte er ins Lehrbuch blicken müssen. Er gab auf.
Ich hätte auch ein Buch unter meiner Robe verstecken sollen!
Nyòko hingegen schien sich prächtig zu amüsieren. Neidisch blickte er auf den Einband, aber sie verdeckte den Titel mit ihrer Hand. Es schien lustig zu sein, denn sie kicherte immer wieder verhalten.
Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. »Was liest du da?«
»Das ist nichts für dich«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Da kommt nicht ein Zauber darin vor.«
»Belletristik?«
Sie warf ihm einen verschwörerischen Blick zu. »Menschenbelletristik.«
Das war in der Tat nicht sein Metier. »Liest du sowas öfter?«
»Einiges davon ist richtig gut. Mich fasziniert immer wieder, wie Menschen mit ihren Erfindungen Lösungen dafür entwickeln, dass sie nicht zaubern können.«
»Wie überaus mühevoll!«
»Und doch erwächst oft so viel Schönes daraus«, sagte sie mit einem leisen Seufzen und konzentrierte sich wieder auf ihre Geschichte.
Kaèl starrte unterdes ins Leere, aber irgendwann wurde es ihm zu bunt. »Kannst du mir etwas empfehlen?«, fragte er. »Von deinen Menschenbüchern?«
Genervt schaute sie vom Buch hoch. »Benötigst du neue Kritikpunkte für deine Liste?« Aber nach einer Weile verschwand die Härte aus ihrem Gesicht. »Du meinst das wirklich ernst.« Sie schlug ihr Buch zu und lehnte sich zu ihm. »Was genau suchst du denn?«
»Nichts bestimmtes«, sagte er schnell, aber dann zögerte er, dachte nach. Er senkte die Stimme. »Na ja, … Liebesgeschichten vielleicht?« Ihm wurde heiß bis über beide Ohren.
Sie warf ihm einen langen Blick zu. »Liebesgeschichten?« Einer ihrer Mundwinkel zuckte nach oben. »Ich dachte, das wäre unserem beinahe-Erzmagi zu ›schwülstig‹.«
»Ach, vergiss es«, murmelte er.
Sie lächelte nachgiebig. »Kaèl, ich mag das ja auch. Ich stelle dir morgen eine Auswahl zusammen, in Ordnung?«
Er nickte verlegen.
Sie zwinkerte ihm zu. »Aber das mit den Menschenbüchern bleibt unser Geheimnis!«
Nichts lieber als das, dachte er.