Kaèl fror. Es war ein warmer Sommermorgen, aber die Kälte schien sich in ihm festgesetzt zu haben. Er fühlte sich mies. Kurz bevor er gegangen war, hatte Bendix geweint. Lautlos, mit gesenkten Lidern, um es vor ihm zu verbergen, aber natürlich hatte Kaèl es gesehen. Der Anblick hatte sich in ihn eingebrannt.
Wenn er wenigstens richtig reagiert hätte. Er hätte Bendix sagen sollen, dass er ihn liebte. Er hätte ihm einen seiner Siegelringe, seine Kupferkette schenken sollen. Irgendetwas, was Bendix an ihn erinnerte, was ihm zeigte, wie ernst es Kaèl war. Dass Bendix nicht nur einer von Kaèls zahllosen Liebschaften gewesen war, wie er immer befürchtet hatte.
Aber Kaèl war überfordert gewesen. Es hatte ihn so viel Kraft gekostet, sich von Bendix zu lösen, dass er nicht mehr in der Lage gewesen war, Bendix seine Zuneigung zu zeigen. Er hatte ihre letzten gemeinsamen Momente durch seine Finger gleiten lassen. Und jetzt … war Bendix wahrscheinlich schon auf dem Meer, allein in der kleinen Nussschale.
Sie hatten nicht einmal richtig besprochen, was Bendix‘ nächstes Ziel war. Selbst wenn Kaèl ihn wiedersehen wollte, er würde ihn nicht finden. Frustriert brach er einen Stock von einem der windschiefen Bäumchen und hieb damit auf das Gebüsch ein, bis sein Atem rasselte. Er warf den Stock beiseite. Das Gebüsch konnte ja auch nichts dafür.
Kaèl kam nur langsam voran, jeder Schritt kostete ihn Überwindung. Er brachte ihn weiter fort von Bendix und näher zu seiner Familie, obwohl ihn nichts dorthin zog. Ja, er musste heim und sich entschuldigen. Aber es fühlte sich falsch an, Bendix und ihre Liebe zu verleugnen. So als würde er Bendix im Stich lassen.
Auf einmal hörte er Stimmen, sie suchten wahrscheinlich noch nach ihnen.
Kaèl ballte die Faust. Na, dann hatten sie ihn jetzt gefunden. Entschieden trat er auf den Hauptweg in die Sonne.
»Da ist er«, rief jemand, und im nächsten Moment war er umstellt. Die Wachen betrachteten ihn angespannt. Eine mittelalte, weiße Frau in der Uniform der Grauen trat vor ihn. »Lord Hotàru! Sie sind festgenommen.«
Festgenommen?
Lächerlich.
Als hätten diese Stümper die Mittel, das zu tun. Als könnte ein Erzmagi wie er sie nicht mühelos mit ein paar Tornados und Schockwellen beschäftigen und dann im Schutze der Unsichtbarkeit verschwinden. Aber was würde es bringen? Dann hätte er gleich bei Bendix bleiben können.
Kaèl seufzte und trat näher. Die Wachen zuckten zurück, die Augen geweitet. Ihre Angst erfüllte Kaèl mit einer gewissen Befriedigung. Während seiner zahlreichen Kämpfe gegen Bendix hatte er fast vergessen, wie sich das anfühlte, wegen seiner magischen Fähigkeiten gefürchtet zu sein.
Kaèl hob die Hände über den Kopf. »Ich tue nichts. Nehmen Sie mich einfach mit.«
Die Anführerin schien nicht überzeugt. »Fixiert ihn«, bellte sie, und zwei Wachen traten vor und verbanden seine Hände. Magische Fesseln.
»Muss das sein?«, fragte Kaèl.
»Das sind Anweisungen von Madame Treverer.«
Myriam.
Das schlechte Gewissen regte sich in ihm. Noch eine, die er belogen und enttäuscht hatte.
Er folgte dem Tross den Hauptweg entlang. Niemand sagte etwas, und Kaèl malte sich die schlimmsten Szenarien aus, was bald geschehen würde. Es war albern, aber zum ersten Mal hätte er gern ein banales Gespräch über das Wetter geführt, um sich davon abzulenken.
»Sind meine Eltern noch im Strandhaus?«, brach er nach ein paar Minuten das Schweigen.
Niemand antwortete.
Bald tauchte das weiße Gebäude vor ihnen auf, und Kaèls Brust schnürte sich zu. Vielleicht musste er sich gleich seinen Eltern stellen. Sie würden toben, das war sicher, aber er hatte keine Idee, ob es ihm gelänge, sie zu besänftigen. Und was passierte, falls nicht.
»Bringt ihn zur Kutsche«, befahl die Anführerin.
Kaèl atmete auf. Seine Eltern waren also nicht mehr hier. Er hatte noch ein wenig Gnadenfrist.
Seine Kutsche stand noch in der Auffahrt und auf dem Kutschbock saß Mister Scott. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, und den Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen. Er schreckte hoch, als er ihre Schritte hörte und rieb sich die Augen. »Mylord«, sagte er leise und neigte den Kopf. Mitleid spiegelte sich in seinem Blick, und Sorge.
Kaèl schaute beiseite. Es war zuviel.
»In die Kutsche mit Ihnen«, brummte die eine Wache.
Kaèl zögerte. »Ich benötige noch etwas aus dem Haus.«
Die Anführerin schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Wir haben den Befehl, Sie sofort mitzunehmen.«
»Aber es dauert nicht lange … ich weiß genau, wo es liegt!«
»Nein.«
»Dann holen Sie es … es ist harmlos, nur ein Stoffeichhörnchen, es liegt auf dem Bett im grünen Gästezimmer im ersten Stock.«
»Rein da jetzt«, rief die zweite Wache und drückte mit der Hand zwischen Kaèls Schulterblätter.
»Aber ich …« Er lehnte sich mit aller Kraft dagegen. Tränen stiegen ihm in die Augen. »Das ist wichtig!«, rief er, aber die Wache war stärker und er landete im Innern der Kutsche.
Die anderen quetschten sich neben ihn, bis sie zu sechst nebeneinandersaßen, viel zu dicht für Kaèls Geschmack.
Die Anführerin warf ihm einen missgünstigen Blick zu. »Losfahren«, bellte sie durchs Fenster, und Mister Scott schnalzte mit der Zunge.
Die Kutsche setzte sich in Bewegung, aber nach wenigen Metern fluchte Mister Scott. Er ruckte an den Zügeln, und sie kamen zum Stehen.
Die Anführerin beugte sich vor. »Was ist los?«
»Verzeihen Sie«, sagte Mister Scott mit gesenktem Kopf. »Eine Achse ist beschädigt. Ich muss sie austauschen.«
»Wie lange dauert das?«, fragte sie scharf.
»Nicht lange. Im Schuppen gibt es Ersatzteile. Ich muss nur –«
»Gehen Sie schon«, knurrte sie.
Er verneigte sich und rutschte vom Kutschbock.
Nach gut zehn Minuten kehrte Mister Scott zurück. Mit geübten Griffen tauschte er das Teil aus. »Wir wären jetzt soweit«, sagte er und schwang sich auf den Kutschbock. Ein Zungenschnalzen, und sie setzten sich langsam wieder in Bewegung.
Kaèl schaute aus dem Fenster, zum Meer, in dem er noch vor wenigen Tagen zusammen mit Bendix geschwommen war. Er konnte kaum atmen, Tränen füllten seine Augen. Er vermisste Bendix jetzt schon. Er vermisste ihn so sehr.
oOOo
In der Kutsche war es stickig, und Kaèl war erleichtert, als sie endlich im Schlosshof ankamen. Am liebsten hätte er sich frisch gemacht und eine neue Robe angelegt, aber die Wachen ließen ihn nicht in seine Gemächer. Kommentarlos führten sie ihn durch die Galerie im Erdgeschoss, wahrscheinlich direkt zu seinen Eltern.
Ihm wurde übel. Jetzt war es also soweit.
Akàri kam ihnen entgegen. Kaèl starrte sie an, versuchte, irgendetwas aus ihrer Miene zu lesen. Er suchte, lechzte nach dem kleinsten Zeichen von Zuneigung, irgendetwas, was ihm zeigte, dass das zwischen ihnen wieder gut werden könnte. Dass er nicht ohne Grund zu ihr zurückgekehrt war.
Sie würdigte Kaèl keines Blickes. »Sie haben ihn gefunden«, sagte sie zur Anführerin.
»Nicht gefunden«, widersprach Kaèl. »Ich habe mich freiwillig gestellt.«
Die Anführerin nickte dazu, und Akàris Miene glättete sich ein wenig. »Er wird im Salon erwartet«, sagte sie und wandte sich um.
Sie folgten seiner Mutter in den Salon, wo ihn sein Vater und – zu Kaèls Schrecken – auch seine Großmutter erwarteten.
Auf der Türschwelle blieb er stehen, aber die Wachen drängten ihn in die Mitte des Raumes. Sie schoben ihn nach vorn, bis er wie auf dem Präsentierteller vor seiner Familie stand.
Nur, dass er nicht präsentabel war. Seine Kleidung sah unmöglich aus, knitterig und verdreckt. Genauso fühlte er sich auch. Schmutzig. Die Haut klebte von Schweiß und Sand. Nicht einmal die Haare hatte er richten können, weil seine Hände gefesselt waren.
Verunsichert blickte er in die Runde. Elìrios wirkte, als wäre ihm jegliche Energie entzogen worden, schlaff hing er über dem Sofa, den Handrücken an seine Stirn gepresst, während seine Großmutter wie eine Königin auf ihrem Sessel thronte. Sie warf ihm einen eisigen Blick zu. Akàri nahm im Sessel rechts von ihr Platz und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Ausdruck war kalt und unmöglich zu lesen.
Na, das kann ja etwas werden.
Niemand sagte ein Wort. Kaèl wurde panisch, angesichts der Stille um ihn herum, es drängte ihn, irgendetwas zu sagen, sich zu erklären, zu entschuldigen oder wenigstens einen schlechten Witz zu machen. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass er schweigen sollte. Zu viele Worte richten nur Schaden an, sagte Bendix immer. Wahrscheinlich hatte er recht. Wahrscheinlich war es das Beste, abzuwarten und abzuschätzen wie viel sie wussten und den Rest zu verleugnen.
In der Kutsche war ihm noch heiß gewesen, jetzt zitterte er am ganzen Körper. Selbst seine Finger bebten. Wahrscheinlich sah seine Familie das auch.
»Sie haben ihn also endlich gefangen«, brach seine Großmutter das Schweigen.
»Sie haben mich nicht ›gefangen‹«, korrigierte Kaèl. »Ich bin freiwillig hier.«
»Dass er sich überhaupt noch hierher traut«, sagte Alùna abfällig.
Kaèl spannte den Kiefer an. Niemand hier machte sich die Mühe, direkt mit ihm zu sprechen. Er verstand, dass er sich in ihren Augen das Recht verwirkt hatte, aber es tat trotzdem weh.
»Meine Nerven«, keuchte Elìrios. »Meine armen Nerven. Mein einziger Sohn … und dann das!« Er warf Kaèl einen gequälten Blick zu. »Bis zum Ende hatte ich gehofft, es sei eine Erfindung des Gärtners. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass unser Sohn mit einer Person korrespondiert, die nicht einmal die Grundregeln der Rechtschreibung beherrscht.« Er massierte sich die Nasenwurzel. »Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so furchtbar wäre.«
»Zum Lachen?«, rief Kaèls Großmutter. Sie wedelte mit einem Pergament herum. »Soll ich dich an den Inhalt dieser Schmähschrift erinnern?«
Elìrios winselte. »Nein, Mutter, das ist nicht –«
»Das wird sicher nicht leicht mit deiner Omi«, las seine Großmutter. Ihre Knöchel um den Brief färbten sich weiß. »Versuch einfach, sie nicht zu sehr zu beachten. Man sollte Sachen, die man doof findet, nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken.« Sie senkte das Pergament »›Sachen, die man doof findet?‹«, wiederholte sie und bohrte ihren Blick in Kaèl. »Sachen?«
Kaèl biss die Zähne zusammen. Jetzt bloß nichts Falsches sagen.
Sie schnaubte verärgert. »Hat es dir die Sprache verschlagen? Wie erstaunlich, vor diesem Mörder haben dir doch auch nicht die Worte gefehlt, um über uns herziehen!«
Kaèl senkte den Kopf. »Es war … eine momentane Verwirrtheit, Großmutter.« Es fühlte sich falsch an, zu lügen. Es war, als würde er Bendix verraten, dabei war es Bendix, der ihn dazu gedrängt hatte, ihre Beziehung herunterzuspielen.
»Das ist alles, was dir dazu einfällt?«, rief Alùna. »Du hast einem Mörder Zuflucht geboten, Kaèl’thas! Und das alles nur weil du deine perversen Neigungen nicht im Zaum halten kannst.«
Kaèl sagte nichts. Er starrte auf seine gefesselten Hände.
»Du bist eine Schande für unsere Familie! Ein Schmutzfleck!«
»Ich weiß«, flüsterte er. Sein Hals schnürte sich zu. »Aber ich werde es wieder gut machen.«
»Oh, das wirst du«, fauchte sie. »Du wirst heiraten, und diesmal suchen wir dir deine Zukünftige aus. Die Zeremonie wird noch diesen Herbst stattfinden.«
»Und bis dahin bleibst du hier«, fügte Elìrios hinzu. »Unter Arrest. Keine Fahrten mehr nach Nìshai, keine Besuche des magischen Rats.« Er blickte zu Alùna, wie ein Hund, der ihr ein Stöckchen zurückgebracht hatte. Es fehlte nur noch, dass er hechelte.
Kaèl linste zu seiner Mutter. Sie nickte, also nickte auch er. Die Forderungen überraschten ihn nicht. Sie waren die einzig logische Konsequenz seines Verhaltens und verblüffend milde in Anbetracht der Tatsache, dass er beinahe mit einem gesuchten Schwerverbrecher durchgebrannt wäre. Sie schienen wirklich zu glauben, dass das mit Bendix nur von wenigen Tagen Dauer gewesen war.
»Wenn du mein Sohn wärst«, fuhr seine Großmutter fort und betonte dabei jede Silbe, »dann wärst du längst verheiratet. Aber deine Mutter ist zu weich bei derlei Dingen. Ich habe gleich gesagt, dass dir diese Erzmagi-Ausbildung nur den Kopf verdreht! Junge Männer sollten nicht –«
»Es ist nicht Mutters Schuld«, unterbrach sie Kaèl. »Sie hatte eine hervorragende Partie für mich arrangiert. Und wenn nicht …«, er schloss die Augen, »dieser furchtbare Unglücksfall geschehen wäre, dann hätten wir noch dieses Jahr geheiratet.«
»Aber es ist geschehen«, bemerkte Elìrios, »und kurz darauf lässt du dich von diesem Mörder um den Finger wickeln!« Er rümpfte die Nase. »Besonders getroffen scheint es dich also nicht zu haben.«
»Vater!«
Akàri hob die Hand. »Kaèl’thas hat Nyòkos Ermordung sehr mitgenommen. Wir sollten nicht –«
»Das ist so typisch«, rief Alùna, »dass du ihn wieder verteidigen musst! Kein Wunder, dass er so verzogen ist.« Sie starrte Akàri nieder. »Aber der Apfel fällt bekanntlich ja nicht weit vom Stamm.«
Akàri presste ihre Lippen zu einem Strich zusammen.
»Und was diese ›hervorragende Partie‹ angeht«, fuhr Alùna fort, »die Kronprinzessin war zu liberal in ihren Ansichten, sie hat ihn in seinen absurden Ansichten doch nur bestätigt.« Sie lächelte böse. »Eine bittere Ironie, dass ausgerechnet eine Menschenfreundin wie sie von ebendiesen ermordet wird.«
»Großmutter, es reicht!« Kaèls Gesicht glühte vor Zorn. Am liebsten hätte er sie geschüttelt. »Ich verbitte mir jeglichen Kommentar über Nyòko!«
Sie erhob sich. »Du wagst es, mir Befehle zu erteilen? Du widerst mich an!«
Du mich auch, dachte Kaèl.
Er erwiderte ihren Blick voller Abneigung und schluckte drei weitere Bemerkungen herunter, jede respektloser als die letzte.
»Aber bald wird das nicht mehr mein Problem sein«, bemerkte Alùna, als er nichts sagte. Sie ließ ihren Blick von Kaèl zu Akàri schweifen. »Ich bin mir sicher, dass Familie Whitecrow weniger Nachsicht bei seinen Eskapaden zeigen wird.«
Es dauerte einen Moment, bis Kaèl die Bedeutung ihrer Worte begriff. »Ich soll Gwenhwyfar heiraten?«, platzte es aus ihm heraus. »Nein!«
»Du hast dein Mitspracherecht verwirkt«, sagte Alùna kalt. »Ich habe mit der jungen Lady Whitecrow und ihrer Mutter gesprochen. Sie sind – erstaunlicherweise – nicht abgeneigt, dich in ihre Familie aufzunehmen.«
Kaèl blinzelte. Seine Großmutter verlangte nicht nur, dass er Gwenhwyfar heiratete, sondern auch, dass er dort lebte und sich der Familie unterordnete. Er biss sich fest auf die Innenseite seiner Wange, um die Emotionen am Überfließen zu hindern. Bei den Whitecrows würde er eingehen. Sie waren borniert und menschenfeindlich und würden alle seine politischen Bemühungen im Keime ersticken.
Dafür hatte er Bendix ziehen lassen?
»Wir sind politisch und charakterlich nicht kompatibel«, brachte er schließlich heraus. »Es wäre ein unfruchtbares Bündnis.«
»Du bist so verdreht, mit dir ist niemand kompatibel«, sagte Elìrios.
›Doch‹, wollte er einwenden. ›Bendix.‹
Aber Bendix war fort. Er würde ein neues Leben beginnen, ein wildes und freies, ohne Kaèl. Sie hatten sich gemeinsam dazu entschieden, weil sie wussten, dass Kaèl niemals dazu fähig wäre, so zu leben. Er brauchte Sicherheit und Wohlstand. Und er brauchte seinen politischen Einfluss, und den hatte er nur mit der Unterstützung seiner Familie.
Er trat einen Schritt nach vorn. »Ich bereue meine Taten, und ich werde diesen Herbst heiraten, wen immer ihr für mich aussucht.« Er ignorierte seine Großmutter und warf stattdessen Akàri einen flehentlichen Blick zu. »Nur, bitte nicht Gwenhwyfar! Wenn ihr mich zwingt, bei den Whitecrows zu leben, nehmt ihr mir alles, was mir wichtig ist.« Seine Stimme brach. Hinter seinen Augen brannte es und seine Kehle schnürte sich zu. Aber er würde jetzt nicht in Tränen ausbrechen. Nicht vor seiner Großmutter.
Akàri betrachtete ihn. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, schloss ihn aber sogleich wieder. Nach einer gefühlten Ewigkeit räusperte sie sich. »Ich möchte mit meinem Sohn allein sprechen.«
oOOo
Akàri hatte angeordnet, seine Fesseln zu lösen. Dankbar rieb sich Kaèl die Handgelenke und folgte seiner Mutter ins Teezimmer. Sobald die Tür hinter ihnen geschlossen war, sprudelte es aus ihm heraus: »Bitte, Mutter, rede ihnen das mit Gwenhwyfar aus. Sie ist furchtbar, die Familie ist furchtbar, ich will dort nicht hin. Ich würde eingehen.«
Sie schritt zum Fenster und schaute hinaus, die Arme auf dem Sims abgestützt. Lange Zeit sagte sie nichts.
Angespannt lief er im Zimmer auf und ab, immer wieder warf er ihr einen Blick zu, aber sie starrte einfach nur aus dem Fenster.
Er hielt es nicht mehr aus. »Mutter, bitte sag etwas. Ich weiß, dass du enttäuscht von mir bist und es tut mir leid. Wirklich! Aber bitte, rede mit mir.«
Als sie wieder nicht reagierte, seufzte er. »Dein Leben lang beklagst du dich darüber, dass du zu einer Ehe gedrängt wurdest, die dir geschadet hat. Bitte, verlange nicht –«
»Wie kam es dazu?«, fragte sie. Sie drehte sich um und fixierte ihn. »Hat … er dich im Strandhaus überrascht, oder wieso kennst du ihn?«
»Er …«, begann Kaèl, brach dann aber ab. Was sollte er auch sagen? ›Ich fand ihn so interessant, dass ich mich ihm auf dem Silbertablett präsentiert habe?‹ Unmöglich. Aber sollte er sie wieder anlügen?
Er verdrehte die Hände ineinander. »Ich –«
Akàri machte einen entsetzten Laut, der ihn verstummen ließ. Die Augen geweitet, blickte sie auf seinen Hals. »Aber mein Goldstück, er hat dir Gewalt angetan!« Sie trat vor, umfasste seine hämatomverzierten Handgelenke, untersuchte seinen Hals. »Er hat dich gezwungen, nicht wahr? Er hat dich zu allem gezwungen!«
Hoffnung flackerte ihn ihren Augen auf. Sie wollte ihm glauben. Sie klammerte sich an seine Unschuld. Er musste ihrer Hoffnung nur nachgeben, und sie würde ihm verzeihen.
Vielleicht würde dann alles so werden, wie früher. Sie würde ihn verteidigen, und ihm würde diese furchtbare Hochzeit erspart werden. Wahrscheinlich würde er stattdessen um Rubìnias Hand anhalten. Es würde eine bequeme Ehe sein. Ein gutes Leben.
Ein Leben ohne Bendix. Eines, das auf einer Lüge aufbaute.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Er wollte das nicht. Er wollte nicht ohne Bendix sein. Und er wollte seine Mutter nicht weiter täuschen, das hatte sie nicht verdient. Er war der Lügen so müde.
Kaèl atmete tief durch. »Nein.«
»Wie, ›nein‹?«
»Er … hat mich nicht gezwungen.« Die Röte stieg ihm ins Gesicht. »Ich wollte, dass er es tut. Das ist ein Spiel zwischen uns … es … erregt uns.«
»Nein«, sagte sie. Sie wurde bleich.
»Ich liebe ihn.«
»Was redest du da?«, flüsterte sie. Sie presste eine Hand an ihr Herz. »Wie kannst du von Liebe sprechen? Du kennst ihn erst ein paar Tage!«
Oh, dachte Kaèl. Verdammt.
»Wir kennen uns schon ein wenig länger«, sagte er vage.
»Und Nyòko?« Sie machte eine verzweifelte Geste. »Du sagtest damals, du würdest sie lieben.«
»Ich … habe sie geliebt.« Tränen stiegen ihm in die Augen, und diesmal kämpfte er nicht dagegen an. »Glaub mir Mutter, ich wollte sie heiraten, ich weiß, wie viel dir das bedeutet, und ich wollte dich glücklich machen. Sie wäre eine wundervolle Partnerin gewesen, die beste. Aber … sie war wie eine Schwester für mich. Ich habe sie nicht so geliebt, wie ich Bendix liebe.«
»Und sie? Hast du einmal an sie gedacht? Was das mit ihr anrichtet, wenn du ihr etwas vorspielst?«
»Sie wusste von Bendix. Sie … wusste natürlich nicht, wer er war, aber dass er existierte. Sie hatte selbst einen Freund, den sie nicht heiraten durfte und –«
»Sie hatte einen Freund?«, fragte sie scharf.
»Ja, sie –«
»Wie lange lief das so?« Sie starrte ihm ins Gesicht.
Kaèl wurde heiß. Bendix hatte ihm geraten, die gemeinsame Zeit herunterzuspielen. Es als kurze Episode abzutun. Aber jetzt war es sowieso zu spät, also konnte er den Rest auch noch erzählen. Er schob das Kinn vor und erwiderte ihren Blick. »Bendix und ich sind seit einem halben Jahr zusammen, aber ich kenne ihn fast ein Jahr. Und … fast ebenso lange habe ich Gefühle für ihn.«
Seine Mutter presste ihren Mund zu einem Strich zusammen. Ihr komplettes Gesicht spannte sich an. Kurz dachte Kaèl, sie würde ihn anschreien, da füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie fiel in sich zusammen, verdeckte ihr Gesicht mit den Händen.
Kaèl senkte den Kopf. Er hatte sie nie weinen sehen, nicht einmal, als vor ein paar Jahren ihre Eltern gestorben waren und sie wochenlang kein Essen angerührt hatte, bis ihre Wangenknochen aus dem Gesicht stachen. Es fühlte sich falsch an, sie so zu sehen. »Mutter«, hauchte er.
Sie reagierte nicht. Sie gab keinen Ton von sich, nur ihre Schultern bebten. Am liebsten hätte er sie umarmt.
»Es tut mir leid, dass ich dich enttäuscht habe. Ich … ich wollte niemanden verletzen. Vor allem nicht dich. Aber ich …« Er grub sich die Nägel in die Handfläche. »… konnte nur nicht aufhören. Ich war so glücklich mit ihm.«
Seine Mutter schluchzte immer noch, also redete er weiter, es brach aus ihm heraus. »Er tut mir gut, Mutter. Ich habe durch Bendix erst gelernt, über meine Gefühle zu sprechen. Er will, dass ich ehrlich zu ihm bin, dass ich ihm sogar die albernsten Kleinigkeiten sage, so etwas wie ›ich bin traurig, dass du heute den ganzen Tag noch nicht meine Hand genommen hast‹.« Er blickte zu ihr, aber sie verharrte in derselben Pose. »Und dann nickt er, und nimmt meine Hand. Es … ist lächerlich, und die erste Zeit hat es mich Überwindung gekostet, über solche Banalitäten zu sprechen, aber es ist wichtig. Sonst verberge ich meine Gefühle, manchmal so sehr, dass ich nicht einmal selbst weiß, dass sie existieren.«
Sie hob den Kopf. Ihre Augen, ihre Wangen waren rot und verquollen. »Du hast mich seit Monaten belogen.«
Er nickte langsam. »Aber … ich bin dir in der Zeit auch näher gekommen. Findest du nicht? Durch Bendix habe ich gelernt, auch mit dir offener zu sprechen. Früher habe ich alles vermieden, was mir unangenehm war. Wenn du mir etwas gesagt hast, habe ich es abgenickt, aber dann doch das getan, was ich wollte. Jetzt rede ich mit dir, ich bin offen, und immer wieder bemerke ich, wie ähnlich wir uns sind.«
Sie schlang die Arme um sich, schüttelte den Kopf. »Du hast mich seit Monaten belogen und jetzt sprichst du von Offenheit?«
Kaèl hob die Hände. Er wollte seinen Standpunkt begründen, aber ihm fehlten die Worte. Langsam ließ er die Arme wieder sinken. »Es ist kompliziert«, seufzte er. Vorsichtig blickte er zu ihr. »Wir haben nicht in allen Punkten dieselbe Ansicht, aber trotzdem«, er zitterte, »liebe ich dich.«
Sie atmete scharf ein, und ihre Augen spiegelten etwas Verletzliches, dann schüttelte sie den Kopf und ihre Miene wurde hart. »Deine Großmutter wird entscheiden, was das Beste für dich ist.«
»Bitte, Mutter. Bitte tu mir das nicht an. Bei dir und Ludòiku war das damals doch auch –«
Sie lief rot an. »Wie kannst du es wagen, Ludò in einem Atemzug mit diesem Mörder zu nennen?«
»Ich meine nur –«
»Sei still!«
»Nein«, sagte er. »Nicht, bevor wir das nicht geklärt haben.« Er gestikulierte heftig. »Bist du glücklich? Ist Vater glücklich? Was bringt euch euer verdammter Reichtum, eure Macht, wenn ihr nichts davon genießen könnt? Willst du, dass es mir genauso ergeht wie dir?«
»Raus.«
Er verkrampfte sich. Etwas an ihrem Tonfall war anders. Bedrohlich, ließ sein Innerstes gefrieren. »Mutter«, sagte er leise.
»Raus«, flüsterte sie. Sie atmete heftig. »Du bist hier nicht mehr willkommen.«
Er trat einen Schritt auf sie zu, hob die Hände. »Mutter«, wiederholte er.
»Nenn mich nicht so.« Akàris Gesicht war tränenverschmiert, aber ihr Blick voller Hass. »Du bist nicht mehr mein Sohn.«