Kaèl rieb sich die Nasenwurzel. Er konnte sich nicht auf die monatlichen Berichte der Dorflehrkräfte konzentrieren, denn im Hintergrund keiften seine Eltern sich quer über den Frühstückstisch hinweg an.
Es war ihm immer klar gewesen, dass sie Probleme hatten, aber erst seit er mit Bendix seine erste richtige Beziehung führte, fiel ihm auf, wie pathologisch die Kommunikation seiner Eltern war. In jedem Satz, selbst wenn es nur um das Frühstücksei ging, schwang eine gehörige Portion Gehässigkeit mit. Wenn er in Bendix’ Anwesenheit so gesprochen hätte, der hätte ihm was gehustet.
Kopfschüttelnd blätterte er weiter.
»Was sagst du dazu, Kaèl’thas?«
»Wie bitte?« Kaèl richtete ein Viertel seiner momentanen Aufmerksamkeit auf seinen Vater.
»Na, die Programmhefte der heutigen Theateraufführung. Welche Farbe präferierst du?«
Darüber hatten sie sich die letzte halbe Stunde gestritten? Am liebsten hätte er die Augen verdreht. »Ich glaube, ihr verwechselt mich mit jemanden, der sich für so etwas interessiert«, sagte er ohne von seinem Buch aufzuschauen.
»Vielleicht interessiert es dich nicht«, donnerte Akàri, »Aber deine Angebetete liebt Theater, und wir organisieren diese ganze Sache nur, um ihr eine Freude zu machen. Du solltest uns dankbar sein!«
Genervt schaute Kaèl von seinem Buch auf. »Na fein, dann nimm Silbergrün«, sagte er. »Unsere Familienfarbe, klassisch und reizvoll.«
»Siehst du!« Akàri blickte triumphierend zu Elìrios.
Der zog ein bekümmertes Gesicht.
Seufzend schob Kaèl sein Buch beiseite. Er musterte seinen Vater. »Was ist das Problem?«
Elìrios rang die Hände. »Es passt nicht zur Farbe der Bestuhlung.«
Sein Vater kannte nur zwei Zustände: sediert oder affektiert-nervös. Heute tendierte er zu Letzterem, vielleicht waren ihm seine Herrengold-Vorräte ausgegangen.
Irgendwie tat er Kaèl leid, das Leben seines Vaters war erfüllt von Nichtigkeiten, die er zu unüberwindbaren Problemen aufblasen musste, um sich wenigstens ein bisschen lebendig zu fühlen. Vielleicht wäre Kaèl mit der Zeit auch so geworden, wenn er Rubìnia geheiratet hätte.
Er kramte gerade nach ein paar aufbauenden Worten, da erschien ein Diener auf der Türschwelle. Er verbeugte sich tief. »Eine Nachricht von Madame Treverer für Sie, Mylady.«
Akàri streckte die Hand aus, und er ließ ihr den Brief hinschweben, was sie mit einem irritierten Blick quittierte.
Der Diener musste neu sein. Bedienstete waren angehalten, ihre Botengänge zu Fuß auszuführen, die Benutzung von Magie galt als ›faul‹. Der arme Mann würde heute noch seine Kündigung in den Händen halten.
Sie riss das Kuvert auf und las, während sich ihre Stirn in immer tiefere Falten legte.
»Was ist es?«, fragte Elìrios.
»Myriam hat eine der Angestellten erwischt, wie sie Unterlagen aus ihrem Büro entwenden wollte.« Sie zerknüllte den Brief und warf ihn beiseite. »Im Kerker wird sie genug Zeit haben, ihre Taten zu bereuen.«
»Das arme Mädchen«, sagte Elìrios. »Hätte eine Entlassung nicht ausgereicht?«
»Myriam hat ihre Personalien überprüft. Sie hat uns angelogen. Sie ist ein Mensch.«
»Ach so.« Elìrios zuckte mit den Schultern. »Na dann kann sie meinetwegen im Kerker versauern.«
Emma?, dachte Kaèl.
Er beugte sich vor. »Um wen geht es?«
Elìrios warf ihm einen misstrauischen Blick zu.
Kaèl legte eine ungerührte Miene auf und erwiderte den Blick. Besser nicht zu viel Neugierde an den Bediensteten vorschützen, sonst gab es die nächste Entlassungswelle des Küchenpersonals.
»Ich weiß nicht, wie sie heißt«, sagte Akàri. »Ich kann diese ganzen Leute nicht auseinanderhalten.«
Kaèl wusste nicht, wie er das Essen überstanden hatte, ohne eine Miene zu verziehen. Zum Glück war Akàri zeitig aufgebrochen, und keine fünf Minuten später war auch er zurück in seine Gemächer geeilt.
»Mister Taryòn«, sagte Kaèl atemlos, kaum dass er den Salon betreten hatte. »Ist Ihre Frau wohlauf?«
Mister Taryòn, der gerade die Kissen auf Kaèls Sesseln glatt klopfte, wandte sich um. »Ja, Mylord.«
»Sind Sie sicher?«
Mister Taryòn hob die Brauen. »Als ich meine Schicht vor drei Stunden begonnen habe, war sie das noch.«
Vor drei Stunden.
Wann hatte Myriam die Diebin gefasst? Es musste in der letzten Stunde passiert sein.
»Arbeitet sie bei Hofe?«, hakte Kaèl nach.
Mister Taryòn nahm sich das nächste Kissen vor. »Nein, Mylord. Das war uns zu riskant. Sie erledigt nur Aufträge von außerhalb.«
Kaèl atmete auf. »Das ist wahrscheinlich besser so.«
»Mit Verlaub, warum fragen Sie das alles?«
»Myriam hat heute Morgen eine Angestellte beim Diebstahl erwischt. Einen Menschen, und sie ist jetzt im Kerker. Ich habe mich gefragt, ob es Emma sein könnte.«
»Emma würde so etwas nicht tun.« Mister Taryòn runzelte die Stirn. »Auch wenn es falsch war zu stehlen, es muss furchtbar sein für diese Angestellte. Ich befürchte, sie wird aus dem Kerker nie wieder herauskommen.«
»Ach was«, sagte Kaèl zuversichtlicher, als er es selbst war. »Myriam wird sie sicher gehen lassen, wenn ihre Befragung vorbei ist.«
»Ich weiß es nicht, Mylord. Sie kennen Madame Treverer besser als ich.«
Kaèl wünschte, dass er dies aus voller Überzeugung bestätigen könnte. Aber nach allem, was in der letzten Zeit geschehen war, und was Bendix ihm erzählt hatte, wusste er selbst nicht mehr, was er glauben konnte. »Die ersten Gäste kommen bald«, wechselte er das unangenehme Thema. »Helfen Sie mir, mein Gewand anzulegen.«
Mister Taryòn nickte eilfertig. »Ich hole Ihre Robe von der Schneiderin.«
Im Türrahmen drehte er sich noch einmal um. »Vielen Dank für Ihre Anteilnahme, Mylord.«
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Nyòko strahlte. »Die männliche Hauptrolle war eine Augenweide. Ich wollte mich ja wirklich auf das Stück konzentrieren, aber seine gut ausgeprägten Brustmuskeln haben mich einfach zu sehr abgelenkt.«
Kaèl schnaubte amüsiert. »Da geht sie hin, die Kultur! Muriels Gemahl hatte sicherlich hervorstechendere Eigenschaften, als seine Brustmuskeln! Auch wenn heute niemand mehr davon berichtet, auch er war ein passabler Magi. Aber wir sparen ja immer die historischen Errungenschaften von Männern aus, weil es nicht in unser Weltbild passt!«
Nyòko gähnte affektiert, und Kaèl knuffte sie in die Seite.
»Was?«, fragte sie provokant. »Als wärst du nicht für solche körperlichen Reize empfänglich. Der Kerl hat mich ein wenig an Bendix erinnert.«
»Nie im Leben. Bendix sieht viel besser aus!« Kaèl lachte leise.
Sie senkte die Stimme. »Apropos. Wie geht es ihm eigentlich? Er wirkte ja ziemlich geknickt nach unserem Essen.«
Kaèl machte eine beschwichtigende Geste. »Er hat sich wieder gefangen. Wir haben darüber gesprochen, er war noch ein paar Tage niedergeschlagen, aber jetzt ist es wieder gut. Ich denke, er hat verstanden, dass ich es nur gut meinte.«
»Obwohl ›gut gemeint‹ ja meist das Gegenteil von ›gut‹ ist«, sagte Nyòko spitz.
Er warf ihr einen bösen Blick zu, den sie mit einem Schulterzucken abtat. »Ich verstehe sowieso nicht, wieso du in letzter Zeit permanent auf diesem Hochzeitsthema herumreitest. Ich werde Hiròki heiraten!«
»Hast du bereits mit Ludòiku darüber gesprochen?«
»Noch nicht, weil Serèika und er unterwegs waren, aber das ist das Erste, was ich tun werde, sobald ich wieder zuhause bin.«
Kaèl unterdrückte einen Seufzer. Natürlich starb die Hoffnung zuletzt … aber Ludòiku oder gar Serèika würden niemals zulassen, dass sie Hiròki heiratete. Sie konnte es sich als Kronprinzessin nicht erlauben, die anderen Adelsfamilien derart zu düpieren.
»Nyòko«, sagte er vorsichtig, »wenn du mit deinem Vater sprichst … dann erwähnst du besser nicht Hiròkis Namen.«
»Das überlege ich mir noch.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Das ist zu riskant! Sag einfach, es ist ein ›Bürgerlicher‹.«
»Du unterschätzt Lu–«
Weiter kam sie nicht. Finley Whitecrow gesellte sich zu ihnen. Strahlend legte er eine Hand auf Kaèls Schulter. »Aber wer wird denn hier streiten? Das macht man doch erst nach der Hochzeit.« Er lachte laut.
»Ahaha«, lachte auch Nyòko pflichtschuldig.
Finley drückte Kaèls Schulter. Kaèl zwang sich dazu, seine Hand nicht sofort wegzuwischen. Finleys Familie hatte zu viel Einfluss, um es sich mit ihnen zu verscherzen, und er brauchte ihre zukünftige Unterstützung bei einer Reihe von politischen Themen, die er sich für das nächste Jahr vorgenommen hatte.
Er unterdrückte einen Seufzer. Bevor er mit der Politik angefangen hatte, war das Leben weitaus bequemer gewesen.
»Wie lange ist es her, dass wir uns richtig unterhalten haben?«, fragte Finley.
»Zu kurz«, rutschte es Kaèl heraus.
»Haha, immer der alte Scherzbold.« Finley lachte affektiert, und Kaèl fühlte sich gezwungen, ins Gelächter mit einzusteigen.
»Hatte ich euch mein neustes Gedicht vorgelesen?«
Nyòko und Kaèl tauschten einen Blick. »Wir wollten gerade …«, setzte Kaèl an, aber Finley nestelte bereits an seiner Brusttasche.
Er zog ein zusammengefaltetes Stück Pergament heraus und entfaltete es bedächtig. »Es heißt: ›Was der Wein uns lehrt.‹ Die Inspiration dazu kam mir beim Wandern durch mein Weingut. Es ist ja so malerisch dort, besonders jetzt, im Frühjahr! Ich muss euch Turteltäubchen nach eurer Hochzeit dorthin einladen, ihr werdet es lieben.«
Sein Diener reichte ihm seine Brille, und er ließ sie auf seine Nase schweben. Und erbleichte. Panisch starrte er über Kaèls Schulter. »Oh, Sir John ist auch hier?« Er ließ den Zettel sinken. »Das ist gefährlich!«
»Was zum Drachen?«, fragte Kaèl verwirrt.
Finley senkte die Stimme. »Sir John ist … homosexuell.« Es kostete ihn sichtlich Mühe, das Wort auszusprechen. »Und ich glaube, er hat ein Auge auf mich geworfen.«
»Wer hat das nicht«, sagte Nyòko.
Finleys schweinchenrosa Wangen glühten. »Ja … aber ich bin ja nicht … ihr wisst schon.«
»Schwul?«, ergänzte Kaèl, und Finley zuckte zusammen.
Mit aller Macht verkniff Kaèl sich ein Lachen. »Na, da wird der gute Sir John aber traurig sein.«
»Oh nein, er kommt direkt auf uns zu«, quiekte Finley. Er schnappte sich sein Weinglas. »Ich muss jetzt gehen. Ich rezitiere das Gedicht ein andermal.« Mit einem entschuldigenden Kopfnicken machte er sich von dannen.
»Wir können es kaum erwarten«, rief Nyòko ihm hinterher.
»Gefahr gebannt«, sagte Kaèl, als er außer Hörreichweite war. »Ich sollte Sir John zu jeden Ball einladen.«
Nyòko nickte kichernd. »Dass so Kerle wie Finley auch immer denken müssen, jeder stehe auf sie.« Sie blickte Finley hinterher, der in Richtung Ausgang strebte. »Er war übrigens die zweite Option. Wenn du kein ›Interesse‹ gezeigt hättest, dann hätte Vater mich mit ihm verkuppelt.«
»Nicht dein Ernst«, keuchte Kaèl. »Ludòiku muss dich hassen.«
Sie seufzte. »Er ist zu gutherzig. Sieht in allen Leuten nur das Positive. Er findet Finley energetisch und kreativ.«
»Energetisch, das trifft es. Er ruht nicht eher, bis er alle vollkommen genervt hat.«
Kaèl orderte zwei Brandygläser und ließ das eine zu Nyòko schweben. »Du magst es stark? Die Lust auf Wein ist mir heute vergangen!«
Sie grinste und griff nach dem Glas. »Aber was würde dein Mönch dazu sagen, dass du so etwas trinkst? Er war ja schon empört, als du ein halbes Glas Wein getrunken hast.«
»Er wird es nie erfahren, wenn du es ihm nicht erzählst.« Zwinkernd hob Kaèl sein Glas. »Auf Sir John!«
»Auf Sir John.« Sie stießen an.
Nyòko nahm einen tiefen Schluck. Sie verzog das Gesicht. »Uhh. Das reicht fürs Erste.« Hustend stellte sie das Glas beiseite. »Was ich noch zu Bendix sagen wollte … ich finde, er hat erstaunlich verständnisvoll reagiert. Hiròki wäre wegen so etwas mehr als nur ein ›bisschen grantig‹. Das, was du ihm verschwiegen hast, ist doch eine existentielle Bedrohung für eure Beziehung.«
»Ach bitte, jetzt übertreibst du aber«, sagte Kaèl.
»Versetz dich in seine Lage. Er ist vollkommen von deinen Entscheidungen abhängig, es muss bedrückend sein, sich derart machtlos zu fühlen.«
»Als ob ich so frei wäre.« Kaèl stürzte den Rest seines Brandys herunter. »Ich würde es ohne ihn nicht aushalten, deshalb steht außer Frage, dass wir zusammen–«
Genervt wandte er den Kopf. »Was ist eigentlich hier los?«
Der Raum war erfüllt von einer Kakophonie aus Schreien und Fußgetrappel. Alles drängte zum Ausgang.
Er runzelte die Stirn. »Trägt Finley wieder eins seiner Gedichte vor?«
Nyòko packte ihn am Oberarm. »Irgendetwas muss passiert sein. Komm!« Sie zog ihn ins Gewusel, Richtung Ausgang.
»Ich will nicht –«, wollte Kaèl protestieren, aber auf einmal tauchte Elìrios vor ihnen auf. Schweiß stand auf seiner Stirn.
»Kaèl’thas!«, rief er schrill. »Da seid ihr ja! Bei allen Drachen, ihr seid wohlauf.« Er zitterte. Sein Haar war wirr, das Gesicht kreidebleich.
Kaèl hatte seinen Vater seit Jahren nicht mehr derart verstört erlebt, es konnte nicht nur an den knappen Opium-Vorräten liegen.
Kaèls Hals wurde eng. »Was ist los?«, krächzte er.
Elìrios starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. »Es gab einen Überfall. Vier Wachen sind tot … und Myriam wurde verwundet … wir wissen nicht, ob sie überlebt.«
»Was? Myriam? Warum?« Ungläubig schüttelte Kaèl den Kopf. »Wieso–«
»Es war der Hexenjäger«, flüsterte Elìrios.
oOOo
Die Sonne ging gerade auf, als die Kutsche mit einem lauten Quietschen am Waldrand hielt. Bevor Mr Scott die Stiege anhexen konnte, war Kaèl schon aus der Tür gesprungen und lief in den Wald. Er hatte die ganze Nacht wachgelegen und hatte in seinem Kopf herumgewälzt, ob und warum Bendix das getan haben konnte.
Er musste es wissen. Er konnte es nicht glauben, es musste ein Gerücht, ein Versehen sein. Bendix hatte diese Leute nicht getötet. Er hatte ihm versprochen, so etwas nicht mehr zu tun.
Und vor allem würde er das nicht direkt in Kaèls Heim, vor Kaèls Nase machen. Es war bestimmt jemand anderes gewesen, der die Leute getötet hatte. Jemand, der sich als ›Hexenjäger‹ ausgegeben hatte.
Kaèl wischte mit der Hand ein paar Haselsträucher beiseite. Gleich würde sich alles klären, und dieses furchbare Herzklopfen endlich ein Ende haben, und dann würde Bendix über ihn lachen, weil er so leichtgläubig war.
Er konnte den Bach schon vor sich glitzern sehen.
Und noch etwas anderes. Er kniff die Augen zusammen. Dort am Rand kniete Bendix, er beugte sich über etwas.
Wäsche, er wusch seine Kleidung.
Das war gut, oder? Es war eine so banale Tätigkeit, nichts, was einer tun würde, der die Nacht über gemeuchelt hatte. Kaèl zwang sich zu einem Lächeln.
Er lief weiter, aber mit jedem Meter wurde sein Lächeln dünner und sein Schritt langsamer.
Bendix hielt eine Tunika in den Händen. Die beige, enggeschnittene, die er bei ihrem ersten Kampf getragen hatte. Er hatte sie lange nicht mehr angehabt. Bei ihren letzten Treffen hatte er nur noch die Purpurnen getragen, mit denen Kaèl ihn überhäuft hatte.
Die Tunika hatte rostrote Flecken. Auch Bendix’ Hände waren rot.
Kaèl sog scharf die Luft ein.
Bendix hob den Blick. Seine Augen weiteten sich. »Kaèl!« Hastig drückte er die Tunika unters Wasser. »Was machst du hier?«
Ungläubig trat Kaèl näher. Einen Schritt. Zwei Schritte. Es roch nach Eisen.
Ihm wurde übel. Die Kraft wich aus seinen Gliedern, am liebsten hätte er sich hingesetzt. »Was hast du getan?«, flüsterte er.
Eine unnötige Frage, er wusste, was Bendix getan hatte. Er hatte es nicht geglaubt, aber er hatte es mit eigenen Augen gesehen, vor knapp acht Stunden. Kaèl blinzelte, aber die Bilder des Schauplatzes wollten nicht aus seinem Kopf weichen. Auch nicht das Bild von Myriams aschfahlen Gesicht, wie sie reglos im Bett lag. Sie rang immer noch mit dem Tod.
Bendix’ Mund verzog sich verzweifelt. »Ich …« Seine Stimme brach. Er starrte auf seine Hände, und Kaèls Blick folgte unweigerlich. »Das sieht schlimmer aus, als es ist«, sagte Bendix hastig.
»Schlimmer als es ist?«, wiederholte Kaèl. »Ich weiß, wie schlimm es ist! Zufällig lebe ich am Schloss und habe mit eigenen Augen–«
Er hielt inne. »Was ist mit deiner Schulter?«, fragte er scharf. Bendix’ linker Arm war verbunden, von jemanden der Ahnung davon hatte, wahrscheinlich Margret, aber der ehemals weiße Verband war rotbraun, in unterschiedlichen Schattierungen, und dazu noch getränkt von frischem Blut. Die Wunde musste tief sein.
Kaèls Herz machte sich selbstständig, hämmerte gegen seinen Brustkorb. »Du bist verletzt!«
Bendix’ Hand zuckte darüber. »Das ist nichts!«
»Nichts?«, schrie Kaèl. »Ich kenne dein ›Nichts‹!« Er ballte die Faust. »Du hast vier Leute getötet. Myriam liegt im Koma, vielleicht stirbt sie. Und dein Arm«, er rang nach Luft, »das sieht so aus, als hättest du verdammtes Glück gehabt, dass du überhaupt noch hier bist! Das nennst du ›nichts‹?«
Bendix schlug die Hände vors Gesicht. »Ich wollte das nicht. Ich wollte niemanden töten, das musst du mir glauben. Aber dann ist alles drunter und drüber gegangen, und ich war überfordert.«
Kaèl schüttelte den Kopf. Als wäre jemand, der mit verbundenen Augen durch die Luft fliegende Münzen zerteilen konnte, von irgendetwas im Kampfgeschehen ›überfordert‹.
»Ich wollte nur Mara helfen. Sie hatten sie gefangen genommen, wenn ich nichts getan hätte, hätten sie sie zu Tode gefoltert.«
»Unsinn«, zischte Kaèl. »Bei einem kleinen Diebstahl wird bei uns niemand zu Tode gefoltert. Sie ist doch nur eine unwichtige –«
Auf einmal dämmerte es ihm. »Sie ist die Spionin!«, rief er aus. »Es gibt sie wirklich!«
Bendix hatte ihm nie verraten, wer die Spionin war, und Kaèl hatte nie nachgefragt. Sie waren übereingekommen, dass es Dinge gab, die sie besser nicht voneinander wissen sollten. Kaèl hatte das befürwortet, jetzt bereute er es. Es gab so viel Unausgesprochenes zwischen ihnen; der Mann, der ihm gegenüber stand, kam ihm auf einmal fremd vor. »Woher kennst du sie überhaupt? Und … wie hast du so schnell erfahren, dass sie ertappt wurde?«
Bendix blickte zur Seite. Beinahe unmerklich schüttelte er den Kopf. »Das kann ich dir nicht sagen.«
»Das kannst du mir nicht sagen?«, wiederholte Kaèl. »Wie soll das mit uns funktionieren, wenn ich nichts über dich weiß? Wenn wir uns nicht vertrauen können?«
»Bitte, Kaèl. Mara und ich haben unsere Gründe, das zu tun, was wir tun, das musst du mir glauben. Wir haben uns gegenseitig bei ein paar Dingen geholfen, aber mehr kann ich dazu nicht sagen, sonst bringe ich andere Menschen in Gefahr.«
Kaèl wurde heiß vor Wut. Bendix vertraute ihm nicht einmal genug, um ihm jetzt, wo alles bereits passiert war, davon zu erzählen. Was war Kaèl dann bitte für ihn?
Und er wollte lieber nicht darüber nachdenken, was für ›Dinge‹ Bendix wieder meinte, aber es war offensichtlich. Bendix hatte auch Leute getötet, die keinerlei Verbindung zu seinem Kloster aufwiesen, wahrscheinlich hatte er das auf Bitte der Spionin hin getan.
»Bitte Kaèl«, sagte Bendix leise. »Glaub mir, ich habe da keine Wahl.«
Kaèl schnaubte. »Man hat immer eine Wahl!«
»Nein. So ein Adeliger wie du hat vielleicht die Wahl. Nicht wir. Aber davon hast du keine Ahnung.«
»Ich habe ›keine Ahnung‹?«, rief Kaèl erbost. »Wie sollte ich auch, wenn mein eigener Freund mich nicht mit einbezieht, wenn er in das bestgesichertste Gebäude des Landes einbrechen will!« Er ballte die Fäuste. »Verdammt, Bendix! Ich wohne dort! Ich habe Befugnisse und Einfluss!«
Bendix schwieg, die Arme vor der Brust verschränkt.
Kaèl hätte ihn am liebsten geschüttelt. Es war alles so gut gewesen. Bendix hatte nicht mehr getötet, und die Obrigkeiten hatten vor ein paar Wochen aufgehört, aktiv nach ihm zu suchen, selbst seine Phantombilder waren abgehängt worden. Bendix’ Angriff hatte alles zerstört. Jetzt würden sie nicht eher ruhen, bis sie ihn gefasst hatten, und Kaèl würde jeden Tag Angst haben müssen, ihn bald am Galgen baumeln zu sehen.
Kaèl machte eine heftige Geste. »Und deine absurde Aktion – wie hast du dir das vorgestellt? Dass du einfach so ins Schloss hineinmarschierst und mit der Spionin wieder herauskommst?«
Bendix schüttelte den Kopf. »Ich habe deinem Folterknecht aufgelauert und sie dazu gezwungen, sie freizulassen. Erst ging alles gut, aber dann muss sie irgendwie die Wachen verständigt haben.«
»Woraufhin du vier Leute getötet hast! Vielleicht fünf, wenn Myriam es nicht schafft.«
»Um die Wachleute ist es schade, um Myriam nicht«, murmelte Bendix. »Dieser Folterknecht hat es verdient, nach allem, was sie den Menschen angetan hat.«
»Ich weiß nicht, was sie alles getan hat. Aber sie war lange Zeit meine beste Freundin. Meine einzige Freundin!«
Trotz glomm in Bendix’ Augen auf. »So eine war deine Freundin? Eine, die mehr Menschen ermordet hat, als du Kleider im Schrank hast?« Er trat einen Schritt näher. »Ja, du hast Befugnisse«, sagte er langsam. »Wie schön. Aber du verschließt die Augen vor allem, was bei euch passiert, weil dir dein bequemes Leben das Wichtigste ist. Weil du weiterhin mit deinem Folterknecht Tee trinken willst. Und dir soll ich von Mara erzählen?« Er schnaubte verächtlich.
Bendix’ Worte lösten ein unwohles Gefühl in ihm aus, das er nicht so stehen lassen konnte. »Wie gesagt«, wiederholte er. »Ich wurde nie darüber informiert, was Myriam tut. Woher soll ich wissen, was sie –«
»Ja woher?«, rief Bendix. »Woher soll der superschlaue Erzmagi so was wissen? Du willst es nicht wissen, weil es unangenehm ist!«
Kaèl biss sich auf die Lippe. Hätte er wirklich mehr tun können? Mehr wissen müssen?
Nein, dachte er trotzig.
Bendix hatte getötet, und das nur, weil er ihn nicht um Hilfe gebeten hatte. Und das nach allem, was sie zusammen in den Menschendörfern erreicht hatten und noch hätten erreichen können. »Du hättest mit mir reden können«, flüsterte Kaèl. Auf einmal fühlte er sich unglaublich müde. »Wir hätten gemeinsam eine Lösung gefunden.«
Bendix lachte bitter. »›Gemeinsam‹, sicher. So ›gemeinsam‹, wie wir über deine Zukunftspläne gesprochen haben? So ›gemeinsam‹, wie wir beschlossen haben, dass du die Thronfolgerin heiratest, und wegziehst?«
Daher wehte der Wind. Bendix hatte ihn angelogen. Er war immer noch wütend auf ihn, obwohl Kaèl sich mehrfach erklärt hatte. Er hatte sich entschuldigt, verdammt. Es war ihm nicht leichtgefallen! »Du hattest gesagt, dass du verstehst, warum ich das getan habe!«
Bendix machte eine verzweifelte Geste. »Was hätte ich denn sagen sollen? Dass ich es hasse, dass du über so etwas auch nur nachdenkst? Dass ich wütend bin, weil du offensichtlich für uns beide keine gemeinsame Zukunft siehst? Weil dir dein dummer Titel und dein bequemes Leben wichtiger sind als unsere Beziehung?« Er stieß die Luft aus. »Was bist du nur für ein verwöhntes, ignorantes Prinzchen!«
Verwöhntes, ignorantes Prinzchen?
Bittere Wut stieg in Kaèl hoch. So sah Bendix ihn? »Was erwartest du?«, rief er. »Dass ich das alles für dich aufgebe? Das ist alles, was ich bin!«
»Ich möchte«, sagte Bendix betont ruhig, »dass ich mehr für dich bin, als deine früheren Liebhaber!«
»Oh, keine Sorge«, presste Kaèl zwischen den Zähnen hervor. »Du hast gestern eindrücklich bewiesen, dass du mehr bist. Im Gegensatz zu den anderen bist du noch ein Mörder.«
Bendix erbleichte.
Kaèl atmete tief durch. Das Blut rauschte in seinen Ohren, sein gesamter Körper war angespannt. Sie waren längst an dem Punkt angelangt, an dem es nicht mehr um Argumente oder die Wahrheit ging. An dem Punkt, an dem er besser nicht weiterredete, um nicht irgendetwas Falsches zu sagen.
Aber in ihm brodelte es, und der Zorn riss die Bedenken fort. Bendix hatte sein Versprechen gebrochen, er hatte wieder getötet, und schlimmer noch: Er hatte Kaèl übergangen und würde ihn immer wieder übergehen.
Kaèl betrachtete Bendix von oben bis unten, aus zusammengekniffenen Augen. »Denkst du, ich würde ernsthaft in Erwägung ziehen, so einen wie dich zu heiraten? Mit einem Bauernsohn hätte ich vielleicht noch ein bisschen Spaß haben können, aber mit dir ist es das Risiko nicht wert.«
»Geh«, flüsterte Bendix.
Kaèl wollte etwas erwidern, aber ein Blick in Bendix‘ Gesicht ließ ihn verstummen. Tränen standen in Bendix’ Augen, seine Unterlippe zitterte.
Kaèl schluckte, zögerte. Aber Bendix hatte es verdient!
Er reckte das Kinn. »Du schickst mich nicht weg. Das hier ist mein Wald. Ich gehe, wann ich will.«
»Hau ab«, brüllte Bendix. »Und komm nie wieder!« Aus seinen Augen sprühten Funken. Zum ersten Mal seit unzähligen Monaten verstand Kaèl, warum so viele Leute sich vor ihm grausten.
Er zuckte zusammen. Instinktiv trat er einen Schritt zurück, hob die Arme, dann bereute er den Moment der Schwäche. Er drückte den Rücken durch und durchbohrte Bendix mit seinem Blick. »Ich wollte sowieso gehen.« Er drehte sich um und reckte das Kinn. »Lauf mir bloß nicht hinterher.«
Erhobenen Hauptes schritt er in den Wald. Provozierend langsam. Er war immer noch Lord Hotàru. Wenn er ging, dann in seinem eigenen Tempo.
Auf halben Wege blickte er sich um. Bendix folgte ihm nicht. Natürlich nicht.
Er sollte zufrieden sein, immerhin hatte er genau das von ihm verlangt, aber dennoch nagte es an seinen Eingeweiden.
Oh, er hasste Bendix. Er liebte ihn so sehr, dass er ihn hasste.
Kopfschüttelnd stapfte er weiter, die Hände fest zu Fäusten geballt. Vielleicht … hatte Bendix damals doch recht gehabt. Vielleicht war es alles einfach nur ein ›Fehler‹ gewesen.