Die nächsten Tage verbrachte Kaèl in seinen zwei Privatbibliotheken und ging alle Zauberbücher durch, die ihm von Nutzen gegen den Hexenjäger sein könnten. Die Werke über Zerstörungszauber ignorierte er dabei, denn Zerstörungsmagie hatte weder ihn noch die bedauerlichen vierzehn Opfer des Hexenjägers weit gebracht. Kaèl wollte nicht nachäffen, woran andere bereits gescheitert waren.
Stattdessen versuchte er sich an unbekannteren Formen der Magie: Er tauchte ein in Bücher über Illusionszauber, Knotenmagie und Elementarzauber. Die meisten der Werke waren alt und umständlich formuliert, aber er war Schlimmeres gewöhnt und wühlte sich durch die verstaubten Texte mit dem putzig-altmodischen Vokabular.
Seine Recherchen lohnten sich. In einem Buch über altelbische Kriegsmagie fand er eine Methode, die es ihm – sollte die Beschreibung des Lehrbuches korrekt sein – ermöglichte, mächtigste Zauber in rascher Abfolge zu wirken. Jeder Magieausübenden stand nur eine begrenzte Menge an Energie zur Verfügung, die sich recht langsam regenerierte. Im Alltag war das kein Problem, aber in einem Kampf, in dem etliche starkmagische Zauber direkt hintereinander gewirkt wurden, stieß man leicht an seine Grenzen. Die beschriebene Methode funktionierte da als Puffer. Es war eine fast vergessene Form der Knotenmagie, man speicherte die entsprechenden Zauber bereits vor dem Kampf in magischen Sphären und konnte durch Zerstörung der Sphäre den Zauber im Kampf direkt und ohne weiteren Energieaufwand nutzen.
Konzentriert folgte Kaèl mit der Hand den Anweisungen des Buches. Jeder Zauber erforderte eine spezifische Fingerstellung, die die durch den Körper strömende magische Energie kanalisierte und sie in die erdachte Form umwandelte. Um die Sphären zu beschwören, zeichnete er zunächst mit dem Zeigefinger eine liegende Acht in die Luft, dann tauchte er die Fingerspitzen nach unten und ließ die Bewegung wellenförmig über den Handballen bis hin zum Ellenbogen auslaufen.
Es dauerte immer einige Zeit, bis Kaèl eine neue Abfolge verinnerlicht hatte, und seine Bewegungen angemessen fließend waren. Aber das war nicht der schwierigste Part. Erst, wenn er die Bewegung automatisiert hatte, konnte er sich darauf konzentrieren, die notwendige Menge an Energie aus jeder Faser seines Körpers zusammenfließen zu lassen und sie in das zu verwandeln, was sein geistiges Auge vor sich sah.
Nach gefühlt hundert Versuchen spürte er, wie das wohlbekannte Kribbeln in seiner Brust aufstieg und sich von dort weiter durch den Arm bis hin zu den Fingerspitzen bahnte. Hier entlud es sich mit einem Funkenschlag. Eine gelblich leuchtende Kugel, ungefähr so groß wie zwei Fäuste, formte sich zwischen seinen vor Anspannung zitternden Fingern und schwebte langsam hoch, bis knapp über seinen Kopf.
Kaèl atmete auf. Endlich war es ihm geglückt! Jetzt musste er nur noch lernen, einen seiner Angriffszauber in dieser Sphäre zu speichern, aber das nahm er sich für den nächsten Tag vor.
Auch den Unsichtbarkeitszauber exerzierte er unzählige Male durch, bis er mit seiner Ausführung vollends zufrieden war. Mit Zaubern war es wie mit dem Schwimmen -- gewöhnlich beherrschte er einen Zauber, wenn er einmal gelernt hatte, ihn zu wirken. In diesem Fall jedoch wollte er kein Risiko eingehen -- die Unsichtbarkeit war sein Sicherheitsnetz für den nächsten Kampf.
Damit ihm niemand bei seinen Plänen mit dem Hexenjäger in die Quere kam, wagte er sich an Myriams freien Tag in ihr Büro. Wie erwartet, fand er es verwaist vor. Er durchsuchte die Regale nach der metallenen Kiste mit den Informationen über den Hexenjäger. Sie stand ganz unten in dem Regal links von der Tür, neben anderen Kisten und Büchern, auf denen Myriam fein säuberlich die Themengebiete geschrieben hatte. ›Die Ritzerin von Nishaì‹ las er und ›Menschendörfer Finistères‹.
Die Kiste war mit mehreren Zaubern versiegelt, aber zum Glück kannte er Myriams Denkweise gut genug, um ihre Sicherheitszauber nach nur wenigen Minuten aushebeln zu können. Er durchforstete die Unterlagen und veränderte hier ein Datum, vernichtete dort eine Notiz oder einen Artikel, um zu verhindern, dass Myriam den Aufenthaltsort des Hexenjägers finden konnte.
Natürlich war das eine Gratwanderung: Zu viele Veränderungen, und Myriam würde auffallen, dass die Unterlagen abgewandelt worden waren und Alarm schlagen, zu wenige, und sie würde nach einigem Nachdenken immer noch darauf kommen, dass der Hexenjäger im Silberwald hauste. Und dann wären Kaèls gesamte Vorbereitungen und Überlegungen zunichtegemacht. Nein, das durfte Kaèl nicht zulassen.
Er verstaute die Zettel wieder sorgfältig in der Metallkiste und rückte diese ins Regal, genau in dem Winkel, in dem sie vorher gestanden hatte. Zum Glück hatte er für so etwas ein scharfes Auge.
Hoffen wir, dass es reicht, dachte er, als er den Versiegelungszauber darüber wirkte.
Kaèl machte sich unsichtbar und schlich aus Myriams Büro. Im Gang schaute er sich um, aber niemand schien etwas von seiner Operation bemerkt zu haben. Erleichtert zog er sich zurück in seine Kammer.
Um seinen Plan zu verwirklichen, musste Kaèl bedauerlicherweise auch physisch aktiv werden. Denn ohne ein gewisses Maß an Gewandtheit würde er den Klingen anheimfallen, noch bevor er auch nur einen einzigen seiner Zauber gewirkt hatte.
Für diese ›physischen Kapriolen‹ hatte er sich einen Satz dehnbarer, leichter Roben schneidern lassen, die dennoch nicht an Eleganz vermissen ließen.
In eine solche Robe gekleidet, begab er sich in den Trainingsraum, in dem sonst seine Mutter nach einem aufreibenden Tag Stunden damit zubrachte, mit ihren Zerstörungszaubern Leinenpuppen zu zerfetzen. Gern scheuchte sie auch verängstigte Bedienstete hin- und her, die Zielscheiben hielten oder als lebendige Zielscheiben fungierten. Nicht wenige hatten nach einem solchen ›Erlebnis‹ gekündigt.
Der Raum war mit Reisstrohmatten ausgelegt, verfügte über ein paar Sandsäcke, besagte Leinenpuppen und eine Spiegelwand. Es roch untergründig nach dem Angstschweiß der Bediensteten und nach etwas Versengtem, anscheinend hatte sich seine Mutter zuletzt mit Feuerzaubern ausgetobt.
Unschlüssig wanderte er auf der Matte hin- und her. Wann hatte er das letzte Mal, von ausgedehnten Spaziergängen abgesehen, Sport getrieben?
Vielleicht vor zehn Jahren, überlegte er, als Elìrios seine ›nur in einem gesunden Körper ruht ein gesunder Geist‹-Phase hatte, und Kaèl in seiner Begeisterung zu Turnübungen mitgerissen hatte. Das war, bevor sein Vater das ›Herrengold‹ für sich entdeckt hatte. »Herrengold schafft Wohlbehagen, wohlgemerkt an allen Tagen«, murmelte Kaèl verächtlich, er zwang sich dann aber, die lästigen Gedanken fortzudrängen.
Als Erstes hatte er sich Liegestütze vorgenommen, das schien ihm eine einfache Übung zu sein. Zumindest hatte es immer so auf ihn gewirkt, er hatte damals oft seinem Sommergeliebten Timanty – Timothy!, korrigierte er sich – dabei zugesehen, wie der sein tägliches Sportpensum absolvierte und keuchend hundert Liegestütze abzählte. Kaèl hatte ihn damals ausgelacht, aber als Ergebnis davon hatte Timothy angenehm definierte Armmuskeln, in die Kaèl oft beim Sex gebissen hatte. Ja, das waren Zeiten gewesen!
Kaèl überflog die Liegestütz-Anleitung in seinem Buch ›Der stahlharte Magi‹.
Klingt doch einfach, dachte er und legte es beiseite.
Entschlossen griff er in die Tasche und band sich ein seidenes Stirnband um den Kopf, um seine Haarpracht zu bändigen. Er kam sich albern vor, in dieser Kleidung, auch wenn die blassblaue Farbe der Seide perfekt auf sein platinblondes Haar abgestimmt war.
Kaèl kniete sich auf alle Viere, schob einen Fuß nach dem anderen nach hinten und streckte die Beine durch, bis er sich, wie im ›stahlharten Magi‹ beschrieben, wie ein Brett über seinen ausgestreckten Armen hielt. Diese Haltung war anstrengend, aber vielleicht ließ das Brennen ja nach, wenn er die Arme beugte und endlich Bewegung in die Sache kam.
Er knickte die Ellenbogen ein. Sofort fuhr ein ungeahnter Schmerz durch seine Oberarme und zog von dort weiter in seine Brust. Am liebsten hätte er sich fallen lassen, aber genau das galt es laut dem Buch zu vermeiden. Deshalb biss er die Zähne zusammen und atmete stoßweise aus. Er schaffte es, sich langsam bis zum Boden absinken zu lassen. Unten angekommen, versuchte er, sich mit seinen matten Armen wieder hochzudrücken, aber scheiterte. Er holte ein paar Mal tief Luft, rappelte sich hoch und wiederholte die Übung.
Nach zehn Wiederholungen hatte er genug. Keuchend wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Wie hatte Timanty das ausgehalten? Der Junge musste einen tiefen Hang zum Masochismus haben.
Schade, dachte er. Wenn ich das gewusst hätte, was hätten wir noch Spaß miteinander haben können. Er lachte leise.
Dennoch, ein ›stahlharter Magi‹ würde aus Kaèl so schnell nicht werden. Aber das war kein Hindernis. Er würde seine Prioritäten anders setzen, schließlich war er flexibel. Dann musste eben die gute alte Transformationsmagie auch seinen Mangel an Beweglichkeit ausgleichen.