Die letzten Male war Kaèl voller Elan zur Hütte gelaufen. War über alle kleinen Wurzeln getänzelt und hatte geflissentlich ignoriert, wenn sein Umhang an den Zweigen hängenblieb. Nichts hätte seine Vorfreude schmälern können. Denn obwohl jede ihrer Begegnungen lebensbedrohlich war, war da immer diese Leichtigkeit im Umgang mit dem Hexenjäger, die ihn faszinierte. So als würde der Alltag für einen Moment stehen bleiben, jegliche Etikette abfallen, und sie einfach nur spielen.
Aber diesmal hatte ihn die Wut gepackt. Die von ihm beschworenen Sphären waren flammend rot und wirbelten förmlich um seinen Körper. Er rannte mehr, als er schritt, der Atem ging stoßweise, seine Kiefer mahlten aufeinander, so dass es schmerzte. Morgen würde er davon Migräne bekommen, aber das war ihm egal. Jetzt ging es darum, diesem Kerl – wie auch immer sein elender Name war – beizubringen, dass man mit einem wie Kaèl Hotàru nicht spielte. Er ließ sich nicht einfach austauschen, für einen drittklassigen Möchtegernmagi! Kaèl machte einen großen Satz über das Bächlein und stürmte die Böschung hoch.
Der Hexenjäger war wieder zuhause, das erkannte er auf den ersten Blick. Er kniete vor einem Beet, und wickelte dicke Stoffbahnen um etwas, was nach vertrockneten Pflanzen aussah. Unkraut jäten oder was auch immer er dort versuchte, so genau hatte Kaèl Timantys langweiligen Ausschweifungen über Gärtnerei nicht zugehört. Seelenruhig wirkte er dabei, so, als hätte er sich nicht wie Kaèl nächtelang von einer Seite auf die andere gewälzt.
Die Wut gärte in seinen Eingeweiden. Ich kann nicht schlafen, und er macht einfach so weiter wie bisher?!
Er ballte die Fäuste. »Du!«, rief er schon von Weitem.
Der Kerl schaute auf. Seine Augen wurden weich und seine Mundwinkel hoben sich bei Kaèls Anblick.
Der Hexenjäger freut sich, mich zu sehen? Nachdem er einen anderen Magi getötet hat? Wie ironisch.
Er folgte seinem ersten Impuls, bückte sich nach einer Eichel und schleuderte sie dem Hexenjäger an die Brust. Sie traf ihn mit voller Wucht an der Stirn. Werfen war noch nie Kaèls Stärke gewesen.
»Au«, rief der Hexenjäger und sprang auf. »Das hast du extra gemacht!«
Dieser Satz ergab keinen Sinn. »Das hast du absichtlich gemacht«, korrigierte Kaèl. Er würde die korrekte Semantik in den Kerl hineinprügeln und wenn es das Letzte war, was er mit ihm tat!
»Was auch immer«, brummte der Hexenjäger und rieb sich die Stirn. Er warf Kaèl einen finsteren Blick zu.
»Du brauchst gar nicht so zu schauen«, raunzte Kaèl. »Wenn hier einer wütend sein sollte, dann ich!«
Der Hexenjäger blinzelte verwirrt. »Wie bitte?«
»Wegen so einem wie dir setze ich nicht meine Prüfung aufs Spiel!«
»Prüfung?«, wiederholte der Hexenjäger verdattert.
»Was gibt es daran nicht zu verstehen?« Kaèl grollte frustriert. »Ich kann mich nicht auf meine Prüfung konzentrieren, weil ich Woche für Woche diese albernen Zauber übe, um dich zu beeindrucken und dann, sobald sich die erste Gelegenheit für dich bietet, verschwindest du und tötest einen anderen!« Er war während seiner Rede immer näher gestapft und baute sich jetzt direkt vor dem Hexenjäger auf, die Arme in die Hüften gestemmt. »Aber so einfach lasse ich mich nicht abschreiben!«
Der Hexenjäger fasste sich an die Stirn und schüttelte den Kopf, immer wieder. »Reden wir hier gerade wirklich darüber, dass ich dich, statt einen anderen töten soll? Ich fasse es nicht, dass wir dieses Gespräch führen!«
Kaèl schnaubte. »Als ob du mich töten könntest. Daran bist du bislang immer gescheitert!«
»Wie du meinst.« Der Hexenjäger verdrehte die Augen, was Kaèls Zorn zum Überkochen brachte.
»Dann kämpf’ mit mir!«, forderte er.
Der Hexenjäger hob die Hände. »Mir ist gerade wirklich nicht nach kämpfen zumute.«
Etwas an seinem Auftreten ließ Kaèl zögern. Er wirkte anders als sonst, fand er. Passiv. Der Kerl ließ sogar den Kopf hängen, er, der sonst immer ein trotzig gerecktes Kinn zur Schau stellte. Dazu kamen Augenringe, so tief, dass sie sich selbst von seiner dunklen Haut abhoben.
Ja, dachte er bitter. Er scheint sich wirklich verausgabt zu haben, mit Sir Myron.
»Bist du so erschöpft, von deinem Kampf mit Sir Myron?«, fauchte er. »Was hat er mit dir getan, dieser armselige Tropf? Der war doch völlig unter deinem Niveau!«
Bei der Erwähnung des Namens wurde der Hexenjäger bleich. »Woher weißt du das?«
»Du Witzbold! Das steht in allen Zeitungen! Und jetzt lenk’ nicht ab.« Er heftete seinen Blick auf den Hexenjäger. »Was sollte das mit Sir Myron?«
»Bitte erinnere mich nicht daran«, sagte der Hexenjäger gequält und rieb sich die Augen.
Andere hätten bei seinem Anblick vielleicht Mitleid bekommen, aber nicht Kaèl. Kaèl würde ihm das nicht durchgehen lassen!
»Du hast keine Lust, gegen mich zu kämpfen! Du ziehst lieber aus und suchst dir andere Gegner! Weißt du, wie verletzend das ist, nach allem, was ich dafür getan habe?«
»Geht es hier noch ums Kämpfen?«, fragte der Hexenjäger. »Du hörst dich fast so an wie ein wütender Liebhaber.«
»So ein Unsinn«, rief Kaèl hastig. Er errötete bis an die Haarspitzen. Was hatte der Kerl für abwegige Gedanken! Völlig verrückt! Aber das war Kaèl ja bereits öfter aufgefallen, dass dieser Bauernjunge anderer Leute Verhalten notorisch fehlinterpretierte.
Eine angespannte Stille folgte, in der Kaèl mühselig versuchte, seine Fassung wiederzuerlangen. Aber sein Herz schlug hart in seiner Brust und wollte nicht zur Ruhe kommen.
Wie sollte es auch? Sie standen zu nah, stellte er fest, verstörend nah. Hätte Kaèl seinen Arm vorgestreckt, ein kleines Stückchen nur, wäre seine Hand mitten auf dem Brustkorb des Kerls gelandet, eine Vorstellung, die ihm erneut die Hitze in die Wangen trieb. Irgendwie standen sie in letzter Zeit öfter so beisammen. Es fühlte sich nicht falsch an, obwohl es ja eigentlich keine vorteilhafte Kampfdistanz war.
Vorsichtig trat er einen Schritt zurück und ließ den Hexenjäger dabei nicht aus den Augen. Eine tiefe Verzweiflung lag in dessen Blick, die Kaèl vorher noch nie so wahrgenommen hatte.
Er wirkt unglücklich, dachte er.
Aber vielleicht überinterpretierte er auch wieder. Er sollte sich endlich beruhigen, dieses Gespräch führte zu nichts, wenn er so aufgeregt war, und der Hexenjäger so merkwürdig abwesend. Vielleicht hatten sie beide einfach nur einen guten Nahkampf nötig. Ja, das würde sie bestimmt entspannen!
Er atmete tief ein und rang sich zu einem versöhnlichen Lächeln durch. »Komm«, sagte er und hielt dem Hexenjäger die Hand hin. »Wir vergessen das Ganze und kämpfen einfach.«
Aber der schüttelte den Kopf. »Heute nicht. Ich stehe zu sehr neben mir. Ich …«, er rang die Hände, »ich habe Angst mich nicht richtig zu kontrollieren und dich dann zu verletzen.« Er stockte und blickte zu Kaèl, die Augen weit aufgerissen, als habe er etwas Verbotenes gesagt.
»So ein Unfug, das ist doch die Idee, mich zu verletzen«, sagte Kaèl lachend. »Ist ja schließlich ein Kampf auf Leben und Tod, schon vergessen? Also zeig’ mir, was du drauf hast, wenn du wütend bist.« Er hob die Deckung und umtänzelte den Kerl scherzhaft.
Der Hexenjäger zog sich weiter zurück, mit hängenden Schultern. »Kaèl«, sagte er. »Ich bitte dich. Lass es gut sein für heute.«
Kaèl hielt inne. Langsam ließ er die Fäuste sinken. Es war das erste Mal, dass der Hexenjäger ihn beim Vornamen nannte, seit Kaèl sich bei ihm vorgestellt hatte. Es klang sanft, wie er seinen Namen aussprach und seltsam vertraut. Und es machte merkwürdige Dinge mit ihm, ließ sein Herz flattern. Ein breites Lächeln trat auf seine Lippen.
Ob er Sir Myron auch beim Vornamen genannt hat?, fragte eine kleine, hämische Stimme in ihm, aber er drängte sie weit fort.
»Was hast du nur?«, fragte er, noch immer dümmlich grinsend.
»Ich glaube, dir ist nicht bewusst, wer ich bin.« Der Hexenjäger starrte auf seine Füße. Seine Stimme klang rau. »Ich habe vor ein paar Tagen einen Mann getötet, Kaèl. Und ich werde es wieder tun.«
Das wusste Kaèl. Natürlich wusste er das. Aber aus dem Mund des Hexenjägers hörten sich diese Tatsachen dunkler an, als er sie bislang empfunden hatte. Sein Lächeln erstarb. Jetzt erst begriff er, dass dieser junge Mann direkt vor ihm, mit dem er regelmäßig kämpfte, lachte, ja, den er sogar beinahe geküsst hatte, gerade einen wehrlosen Magi ermordet hatte. Ihm wurde flau im Magen. »Warum?«, fragte er.
»Warum ich ihn getötet habe?« Das Gesicht vom Hexenjäger wurde hart. »Weil ich mir geschworen habe, nicht eher zu ruhen, bis ich die Welt von allem Bösen befreit habe. Ich werde alle finden und bestrafen, die ihre Seele verkaufen, um dreckige Magie auszuüben.«
Der abrupte Wechsel seiner Mimik, die versteifte Haltung und der Hass in seiner Stimme ließen Kaèl erstarren. Hatte der Hexenjäger überhaupt darüber nachgedacht, was seine Worte bedeuteten? Dass er damit alle, die Magie nutzten, zum Tode verurteilte?
Er ertrug es nicht. Nicht nach den letzten Tagen, in denen er immer wieder mit dieser mörderischen Ignoranz konfrontiert worden war. Er sah Akàri, sah Myriam vor sich und wie sich ihre Züge verhärtet hatten, als sie über Menschen gesprochen hatten. Dieselbe Härte lag nun im Gesicht des Hexenjägers.
»Es ist merkwürdig«, sagte Kaèl. »Von allen Seiten höre ich nur Pauschalisierungen. ›Menschen sind so‹ – ›Magi so‹ … Und immer dienen sie dazu, Gewalt gegen andere zu rechtfertigen. Das ist einer aufgeklärten Gesellschaft nicht würdig!«
»Meinst du?«, fragte der Hexenjäger lauernd. »Dieser Magi, dieser ›armselige Tropf‹ wie du ihn nennst, war ein Schwein. Ich habe selbst mit ansehen müssen, zu was er fähig ist. Es war meine Pflicht, ihn zu töten. Er kann dankbar sein, dass ich ihn nicht noch gefoltert habe, so wie er seine Opfer!« Er starrte Kaèl an, das Gesicht wutverzerrt, aber gleichzeitig liefen Tränen über seine Wangen. So wie er dastand, wirkte er jung, viel jünger als dreiundzwanzig, und erschreckend verletzlich. Was musste er erlebt haben, um so von Hass zerfressen zu sein?
Kaèl hätte gern etwas getan, um die Situation zu entspannen, Ruhe hineinzubringen. Er räusperte sich. »Wenn du so sicher bist«, sagte er mit gleichmäßig modulierter Stimme, »dass du das Richtige getan hast, warum weinst du dann?«
»Ich …« Der Hexenjäger fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. »Ich war nicht mehr sicher, weil wir … du weißt schon, seit ich dich …«, er stieß frustriert die Luft aus. »Weil du auch …«
»… weil ich auch ein Magi bin?«, fragte Kaèl sanft und der Hexenjäger nickte erschöpft.
Es gab einen Moment der Stille und Kaèl konnte nur zusehen, wie der Hexenjäger immer wieder schniefte und ihm ab und an einen flüchtigen Blick zuwarf.
Vielleicht ist nicht alles verloren, dachte er. Vielleicht kann ich –
»Er hatte eine Tochter«, brach es aus dem Hexenjäger heraus, »so klein, dass sie gerade laufen konnte. Sie … sie war in der Kutsche. Ich habe sie zu spät entdeckt, und sie hat alles gesehen. Es war so viel Blut.« Er schaute zu Boden. »Es geht mir nicht aus dem Kopf. Natürlich, sie ist auch eine von euch, aber es fühlt sich so falsch an.«
Die Erkenntnis traf Kaèl wie ein Eimer kaltes Wasser. »Das also bedeutet Mord«, sagte er langsam. »Da ist nichts gerecht oder ›sauber‹. Man tötet nicht nur eine Person, sondern stürzt viele Andere mit ins Unglück. Ihre Liebsten, ihre Kinder, vollkommen Unbeteiligte.« Erst in dem Moment, in dem er es aussprach, wurde es ihm selbst klar. Wie konnte der Hexenjäger eine nach der anderen töten, ohne genau das zu fühlen? Kaèl ballte die Hände zu Fäusten und konzentrierte sich auf den Schmerz, den seine Nägel in den Handflächen hinterließen. »Das Mädchen. Was hast du mit ihm getan?«, flüsterte er.
»Nichts. Aber sie hat geweint und das hat mich …« Der Hexenjäger schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte unterdrückt. Ohne nachzudenken beugte Kaèl sich vor und wollte eine Hand auf seine Schulter legen, aber der Hexenjäger fuhr zusammen und schlug sie weg. Er fixierte Kaèl, die Brauen zusammengezogen. »Es ist nicht wichtig. Auch sie wird töten, wenn sie älter ist. Wie ihr alle.«
Entsetzt trat Kaèl zurück. Er hielt sich die schmerzende Hand, schluckte. »Nach dem, was sie mit ansehen musste, bestimmt.«
Der Hexenjäger ballte die Fäuste. »Letztendlich ist sie auch nur eine Hexe. Natürlich wird sie töten – das ist es doch, was ihr tut. Ihr Hexen seid verdorben, von Anfang an.«
Wie verblendet er ist!, dachte Kaèl.
Es war sinnlos. Er hätte dem Hexenjäger alles und nichts sagen können, dieser würde ihn sowieso nicht verstehen.
»Du vergisst eines«, sagte Kaèl resigniert. »Auch ich bin eine sogenannte ›Hexe‹. Und ich bin stolz darauf. Ich lasse mich nicht von dir beleidigen, nur weil du zu verblendet bist, die Wahrheit zu erkennen.« Er reckte das Kinn in die Höhe und fixierte den Hexenjäger. »Ich will dich nie wieder sehen!«
»Dann geh’ doch«, schrie der Hexenjäger.
Kaèl trat zurück, erst einen Schritt, dann den nächsten, dann drehte er sich um und fing an zu rennen.
Er preschte durchs Buschwerk. Die Zweige peitschten ihm gegen die Wangen, aber er merkte es kaum, so taub fühlte er sich.
Wie verklärt war er gewesen? Wie hatte er vergessen können, dass dieser Junge ein Mörder war? Ein Mörder, mit einem hübschen Gesicht.
Kaèl hatte sich ihre Nähe, ihr gegenseitiges Einverständnis schöngeredet, in Wirklichkeit trennten sie Welten. Er war geübt darin, Dinge auszublenden, das war er immer schon gewesen. Als Kind hatte er die Lieblosigkeiten seiner Familie nur überstanden, weil er sich auf seine eigenen Angelegenheiten konzentriert hatte.
Wenn er jetzt nicht aufpasste, würde der Hexenjäger ihn mit in den Abgrund ziehen. Er durfte nie wieder einen Fuß in die Nähe des Kerls setzen, es war zu riskant!
Als Kaèl die Fahrstraße erreichte, verlangsamte er seine Schritte. Er schlang die Arme um sich. Obwohl es ein milder Herbsttag war, schlotterte er am ganzen Körper.
Die Tür der Kutsche öffnete sich und sein Kutscher lief ihm entgegen, die Augen weit aufgerissen. »Mylord?«, rief er mit schriller Stimme. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
Kaèl starrte ihn nur an, ohne ein Wort zu sagen.
Sein Kutscher verstand. Er nahm Kaèl bei der Hand, murmelte ihm beruhigende Worte zu und verfrachtete ihn auf den Rücksitz. Kaèl nahm alles kommentarlos hin. Der Kutscher breitete eine Decke über ihm aus, und Kaèl zog sie enger um sich, krallte die Finger in den weichen Stoff.
Jetzt werde ich seinen Namen nie erfahren, dachte er.
Er lehnte seinen Kopf an die kühle Scheibe. Erst, als die Kutsche sich in Bewegung setzte, erlaubte er es sich, zu weinen.