»Wie heißt er eigentlich?«, fragte Kaèl seinen Vater, als dieser beim Frühstück wieder einmal einen Artikel über den Hexenjäger zitierte. Die Frage hatte er sich zuletzt ständig gestellt. Er hatte dem Hexenjäger seinen Vornamen bereits vor Wochen verraten. Die Etikette hätte verlangt, dass dieser im Gegenzug seinen preisgab, aber der Kerl hatte das vermieden.
Seitdem spukte das Thema in Kaèls Kopf herum. Er ertappte sich sogar dabei, wie er in seinen Menschenbüchern nach besonders passenden Namen für ihn suchte. Die meisten Menschennamen hatten einen merkwürdigen Klang, aber einige gefielen ihm richtig gut. Momentan schwankte er zwischen ›Anselm‹ und ›Gustav‹.
»Dieser Mörder?«, fragte Elìrios. »In den Zeitungen wird er immer nur ›der Hexenjäger‹ genannt.«
»Ist es nicht komisch, dass keine seinen Namen kennt?«
»Du stellst Fragen. Sein Name ist mir egal, so lange sein starrer Körper bald am Galgen von Nishaì baumelt!«
Allein die Vorstellung jagte Kaèl einen kalten Schauer den Rücken hinunter. Dass dieser lebenslustige junge Mann, mit dem er noch vor drei Tagen …
»Bedauerlicherweise«, zerschnitt Akàri seine Gedanken, »haben Madame Treverer und die Grauen Mühe, ihn ausfindig zu machen.«
Bedauerlicherweise?, dachte Kaèl. Eher zum Glück! Er beugte sich tiefer über seinen Teller, um sich keine Regung anmerken zu lassen. Die Frage ist nur, Glück für wen?
Er war sich nicht sicher, ob Myriam und ihre Grauen eine Chance gegen ihn hätten. Niemand hatte eine Attacke des Hexenjägers überlebt, selbst die nicht, die vorsichtig genug gewesen waren, eine Eskorte mitzunehmen.
Ein Kampf mit ihm glich einem Todesurteil. Für Kaèl war es mittlerweile Routine.
Es bereitete ihm eine ungeahnte Befriedigung, dem sicheren Tod immer wieder ein Schnippchen zu schlagen. Fast wie einen Abhängigen zog es ihn Woche für Woche in den Silberwald. Sein Kutscher fragte nicht mehr nach dem Ziel ihrer Spritzfahrt, er fuhr einfach stumpf dieselbe Route ab und ließ Kaèl am Waldrand hinaus.
Kaèl versuchte, sich auf sein Frühstück zu konzentrieren, aber er bekam das süßsaure Huhn mit Trockenfrüchten einfach nicht die Kehle hinunter. Heute hatte er kaum Appetit, genau wie die Tage davor. Allmählich war sein Essverhalten so auffällig, dass ihm seine Eltern irritierte Blicke zuwarfen, wenn er wieder einmal den Großteil seiner Mahlzeit stehen ließ. Aber das war ihm egal, Hauptsache, sie fanden nicht die ganze Wahrheit heraus. Wie hätte er ihnen erklären können, dass er seine kostbare Zeit mit einem Mörder, einem Bürgerlichen, einem Menschen verbrachte?
Er musste zugeben, die Begegnungen mit dem Hexenjäger hatten etwas mit ihm gemacht. Seine Robe, die er bei ihrem letzten Kampf getragen hatte, hatte er vor der Dienstmagd versteckt. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er das verdreckte Ding aus seiner Schublade holte und daran schnupperte. An manchen Stellen roch sie noch leicht nach dem Hexenjäger. Es war albern, aber irgendwie beruhigte ihn der Geruch.
Und etwas Beruhigung hatte er nötig. Bei ihrem letzten Treffen hatte er mit dem Hexenjäger geturtelt, so heftig, dass er kurzzeitig den Kopf verloren hatte. Instinktiv hatte er sich vorgelehnt, die Augen geschlossen und seinen Duft eingesogen. Und fast hätte er den Abstand zur Gänze geschlossen und den Hexenjäger geküsst.
Aber natürlich hatte er das nicht getan, der Mann war gefährlich. Er würde auch Kaèl töten, wenn er seine Deckung fallen ließ. Stattdessen hatte Kaèl die Nerven verloren und war davongestürmt. Er, der sich nie eine Gelegenheit entgehen ließ!
Er fragte sich, wie der Hexenjäger die gesamte Situation gelesen hatte. Hatte er begriffen, dass Kaèl ihn beinahe geküsst hätte? Würde das etwas an ihrem Umgang ändern?
Er rieb sich die Schläfen. Vielleicht wurde er verrückt, vor lauter Prüfungsdruck. Vielleicht war diese ganze Sache mit dem Hexenjäger nur ein Trick seines Unterbewusstseins, um ein Weilchen länger prokrastinieren zu können. Ja, das erschien logisch. Warum sonst sollte er so viele Gedanken an den Kerl verschwenden, er war ja nicht verliebt. Er war nie verliebt!
Wenn er sich einmal zum Lernen durchrang, war er unkonzentriert und fahrig. Zu oft legte er Pausen ein, um über den letzten Kampf nachzusinnen, und was er dort hätte anders machen sollen. Die für die Prüfung geforderten Bücher vernachlässigte er und suchte lieber nach Zaubern, die ihm im nächsten Kampf mit dem Hexenjäger von Vorteil waren. Denn – Geturtel hin oder her – einen nächsten Kampf würde es geben. Diese Begegnungen strukturierten seinen kompletten Wochenablauf, er würde nicht darauf verzichten!
So las er über alternative Magie, bis es ihn irgendwann packte, und er mit dem Lehrbuch in den Übungsraum hastete, um die Theorie in die Praxis umzusetzen. Dort verbrachte er Stunden, feuerte seine Zauber gegen Leinenpuppen, übte sich an seinen Reaktionszeiten und trainierte seine Zauberrate. Er war über die letzte Zeit definitiv ein besserer Magi geworden, wenn auch nicht auf die Weise, die die auserwählten Elf gern sehen würden.
Abends, wenn er ermattet ins Bett fiel, hatte er ein schlechtes Gewissen wegen der Prüfung, aber ein wenig Schnuppern an der Kampfrobe half darüber hinweg.
Am Tag des nächsten Duells hielt er die Stunden bis zu seinem ›Ausflug‹ kaum aus. Das Einzige, zu dem er fähig war, war die Meditation. Seitdem er sich davon verabschiedet hatte, eine fließende Magieübung daraus zu gestalten, funktionierte es erstaunlich gut. Kaèl kümmerte sich einzig und allein darum, seine Atemzüge zu zählen, was komplizierter war, als es sich anhörte. In seinem jetzigen Zustand war diese Übung gerade bewältigbar, so dass er sich überhaupt motivieren konnte, sie zu beginnen.
›Jeder Schritt auf dem wahren Pfad ist steinig‹, zitierte er im Geiste den Hexenjäger, während er zum x-ten Mal seine Gedanken zur Ordnung anhielt und sie wieder auf seinen Atem lenkte. Allzugern drifteten sie ab, auf attraktive, verwegene Pfade, aber dafür war jetzt nicht der Zeitpunkt. Wofür sonst gab es die Nacht und Stillezauber?
Endlich war es so weit, und er hörte das unverkennbare Hufgetrappel des Vierspänners seiner Mutter. Sie und Elìrios waren zu einem Mittagessen geladen, und Kaèl war frei, das zu tun, was sein Herz begehrte. Er sprang von seinem Seidenkissen, beschwor die magischen Sphären – diesmal schimmerten sie zu seiner Überraschung grünlich, wie die Hoffnung – und sauste nach unten, zu den Kutschen. Auf ging es, in den Silberwald.
Dort angekommen, schritt er flugs hinein ins Unterholz. Er zog seinen Mantel enger um sich, die sonnigen Tage waren vorbei und ein herbstlich-kühler Wind wehte durch die Blätter.
Aber das macht nichts, dachte er. Der Ringkampf wird mich schon wieder aufwärmen!
Aber als er sich weiter durch das Buschwerk kämpfte, kamen die Zweifel wieder hoch, die ihn die gesamte Woche geplagt hatten und er verlangsamte seine Schritte. Kaèl war sich nicht sicher, was er genau zur Begrüßung sagen sollte, nach seinem verwirrten letzten Auftritt. Er musste ein überaus seltsames Bild abgegeben haben, und wenn der Kerl nur ein kleines Fünkchen Erfahrung im Umgang mit Leuten hatte, dann wusste er, was Kaèls eigentliche Intention gewesen war.
Ich tue einfach so, als wäre nichts gewesen.
Aber was war, wenn der Hexenjäger ihn direkt darauf ansprach? Nein, das durfte nicht passieren, denn darauf hatte er keine Antwort. Zumindest keine Unverfängliche.
Er streifte die Schuhe ab, und watete mit angehaltenem Atem durch das eiskalte Bachwasser. Am anderen Ufer trocknete er seine Füße mit einem Zauber, legte die Schuhe wieder an und lief die Böschung hoch.
Besser, ich provoziere ihn, bevor er anfängt, Fragen zu stellen.
Ja, das war es! Der Hexenjäger war so leicht zu provozieren. Kaèl liebte es, immer wieder nachzustochern und dieses verräterische Funkeln in seinen Augen zu erzeugen. Natürlich war es riskant, diesen wilden Luchs zu reizen, aber es war ein überaus verlockender Tanz am Abgrund.
Er erreichte die Lichtung. Kurz vor der Hütte blieb er stehen. Überlegte. Was ist, wenn mir nichts Provokantes einfällt?
Das war unrealistisch, Kaèl fiel immer etwas Provokantes ein. Aber im Moment war er angespannt, der Mund trocken, sein Kopf leer. Kurzum: Er war sich nicht sicher, ob er auf der Höhe seiner Schlagfertigkeit war.
Was ist nur mit mir los?
Schritt für Schritt zwang er sich weiter, bis zur Türschwelle. Dort atmete er tief durch und klopfte.
Kaèl wartete einen Moment, aber nichts geschah. Das war untypisch für den Hexenjäger, sonst ließ er sich nie lange bitten.
Er will mich nicht sehen, schoss es ihm durch den Kopf. Ich habe ihn verschreckt!
Aber das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein!
Er klopfte erneut.
Wartete.
Etwas sprang vom Dach und wuselte um seine Füße. Es war eines der Eichhörnchen. Hatte der Hexenjäger nicht gesagt, die Tiere hätten das Interesse an ihm verloren? Warum war es dann hier? Hatte das verzogene Kleine etwa Hunger? Kaèl schaute um sich, ringsherum lagen Nussschalen, alle leer.
Ein ganz dunkles Gefühl stieg in ihm hoch. Es war untypisch für den Hexenjäger, die Kleinen so zu vernachlässigen.
»Er hat euch wirklich zu sehr verwöhnt«, sagte er zu dem Eichhörnchen, »wenn ihr nicht mehr selbst für euch sorgen könnt!« Aber das Tier schaute ihn nur aus seinen großen Augen an und Kaèls Herz schmolz. Gern hätte er Lisi – oder Anton – etwas gegeben, aber er fand nichts Essbares in seinen Taschen. »Tut mir leid«, murmelte er, und das Eichhörnchen verschwand im nächsten Baum.
Er drehte eine Runde um die Hütte. Alle Fenster waren verrammelt, als hätte der Hexenjäger geplant, länger fortzubleiben. Irgendwie beruhigte ihn das, der Kerl schien Kaèl nicht zu ignorieren – er hatte andere Pläne.
Aber wo ist er hingegangen?
Die Dörfer, in denen der Hexenjäger sich ab und an zeigte, waren nicht mehr als ein paar Stunden Fußmarsch entfernt. Für einen Besuch dort hätte er Tierchen und Heim nicht so lange unbewacht lassen müssen. Er musste woanders hingereist sein. Hoffentlich war er nicht gänzlich verschwunden! Aber hätte er das getan, ohne sich von Kaèl zu verabschieden?
Kopfschüttelnd lief Kaèl zurück zur Kutsche. Es ergab alles keinen Sinn. Erst auf der Hälfte des Rückwegs fiel ihm eine Erklärung ein:
Er ist fort, um eine Magi zu töten, die weiter weg wohnt.
Es klang albern, aber der Gedanke, dass der Hexenjäger ihm den Rücken zukehrte, um mit einer anderen Person das zu tun, worauf Kaèl sich die gesamte Woche freute, vergällte ihm die Laune.