Am nächsten Morgen erwachte Kaèl mit Halsschmerzen von der gestrigen Würgeattacke, aber drei Schlucke des bitteren Gebräus von Madame Hazel wirkten Wunder. Die Hausheilerin hatte ihn irritiert gemustert, als er gestern am späten Abend vor ihrer Tür gestanden hatte, aber zum Glück war sie an die medizinische Schweigepflicht gebunden. Als Familienheilerin war sie unerquicklichere Dinge gewöhnt, als so ein paar Würgemale: Geschlechtskrankheiten, schlecht vertuschte Morde, was hatte es nicht alles gegeben bei den Hotàrus.
Nach seiner Morgenroutine versuchte Kaèl, zu meditieren. Eigentlich war das Teil seines täglichen Programms, jeden Morgen erstellte er penible Listen mit den zu erfüllenden Pflichten, deren Punkte er im Laufe des Tages mit großer Befriedigung durchstrich. Aber während der letzten Woche war am Ende jedes Abends dieses eine Wort stehengeblieben, fast schon höhnend stach es tintenblau auf Hellbeige hervor und erinnerte ihn an seine Versäumnisse: »Meditation«. Seit den jüngeren Ereignissen um den Hexenjäger hatte er es schleifen lassen.
Aber nicht heute, heute würde er das Problem direkt am Schopfe packen. Bereits vor dem Frühstück setzte er sich im Schneidersitz auf sein Seidenkissen und schloss die Augen, die Hände locker auf den Knien abgelegt. Zunächst versuchte er, seinen Atem zu beruhigen. Alle lästigen Gedanken und Bilder mussten ausgeblendet werden, bis sein Geist vollständig leer war. Erst dann konnte der eigentliche Teil beginnen, die geistigen Übungen zur Steigerung der Zauberfähigkeit.
Aber heute war der Wurm drin. Sein geschundener Nacken zwickte bei jeder Bewegung und der Schmerz riss ihn immer wieder aus der Trance. Und kaum hatte er seine Atmung heruntergefahren, störte er sich an dem Ruf eines Kuckucks vor seinem Fenster.
Genervt öffnete er die Augen, sprang hoch und wirkte einen Stillezauber um sich herum.
Jetzt musste er mit den Atemübungen wieder von vorn beginnen! Er schloss die Augen, legte die Hände auf die Knie und atmete zweimal tief durch. Konzentration war essentiell. Nur durch Meditation würde er stärker werden, für den nächsten Kampf mit dem Hexenjäger. Der Hexenjäger ...
Wie heißt der Kerl bloß? Seinen Namen hatte er gestern nicht verraten ...
...
Atmen! Konzentration, Kaèl!
Er spürte einen unangenehmen Luftzug im Nacken. Wieder sprang er auf und schloss das Fenster mit einem lauten Knall.
Wie soll ich meditieren, in diesem Tollhaus!, dachte er und setzte sich wieder auf sein Kissen. Er schloss die Augen.
Aber jetzt hatte er bereits so viel Zeit verschwendet, dass seine rechte Gesäßhälfte anfing, zu schmerzen. Er schüttelte das Kissen wieder in Form und änderte die Sitzposition. Erneut schloss er die Augen. Vielleicht sollte ich mir schnell noch einen Schluck Tee genehmigen, dachte er. Allmählich bekomme ich Durst. Aber dafür müsste ich wieder aufstehen und dann ist die ganze Konzentration weg ...
Es klopfte an der Tür. »Kael’thas«, rief seine Mutter.
Er zuckte zusammen. Was will sie denn hier? Normalerweise schickte sie eine Dienerin vor.
Akàri trat ein. »Ach, du meditierst.«
»Nicht jetzt«, rief er. »Ich habe gerade einen Lauf.«
»Es ist an der Zeit, dass ich dich in die Amtsgeschäfte einführe«, erklärte sie ungerührt. »Bald wirst du an meiner Stelle walten. Deshalb wirst du mich von nun an zwei Tagen pro Woche durch meinen Arbeitstag begleiten und dazulernen.«
»Können wir damit nicht nach meiner Prüfung beginnen?« Kaèl wies auf sein Meditationskissen. »Du siehst, ich habe viel zu tun.«
»Und ich habe dir fünf Jahre Zeit gelassen, dich auf die Prüfung vorzubereiten«, sagte sie. »Da werden so ein paar Stunden Ablenkung pro Woche nicht zu deinem Schaden sein. Ich erwarte dich in einer Viertelstunde an der Kutsche. Du wirst festes Schuhwerk benötigen.« Sie rauschte hinaus.
»Und ich war gerade so gut dabei«, murmelte er verärgert. Er stürzte den Rest seines Tees hinunter und griff nach Notizbüchlein und Schreibfeder auf seinem Pult.
»Was eine Langeweile«, seufzte er.
Politik interessierte ihn nicht. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er sein Leben der Forschung gewidmet, neue Zauber entwickelt und alte wiederentdeckt. Er hatte keine Lust auf Interaktionen mit Leuten, die die geistige Kapazität eines feuchten Streichhölzchen hatten.
Genervt trottete er zu den Ställen. Seine Mutter saß schon in der Kutsche und blickte aus dem Fenster. Als er seinen Nacken beugte, um durch die Tür zu steigen, unterdrückte er einen Schmerzenslaut.
Verfluchter Hexenjäger!
Vorsichtig setzte er sich und legte die Hände in den Schoß.
Akàri wandte sich ihm zu. »Du wirst bei jeden unserer gemeinsamen Ausflüge einen anderen Bereich meiner Arbeit kennenlernen. Heute fangen wir mit der Grundlage von allem an: der Nahrungsmittelversorgung Fukuòkas.«
Großartig. Also Ackerbau und Viehzucht. Der Gedanke an die nach Gülle stinkenden Felder und die kleingeistigen, schlecht gewaschenen Bauersleute darauf ließ ihn schaudern.
»Wir machen eine Reihe an Höflichkeits- und Kontrollbesuchen bei unseren bedeutsamsten Pächter*innen. Es ist ein mühseliges Unterfangen, aber es hilft, die Leute bei der Stange zu halten. Ich versuche, in jedem Jahr mindestens einmal bei allen größeren Höfen vorbeizuschauen.«
Kaèl massierte sich den Nacken. Wie viele Höfe mussten das sein? Bestimmt mehrere hundert. Gruselig.
Sie fuhren über Land, durch eine verwaiste Gegend, irgendwo östlich vom Schloss. Eine ordentliche Fahrstraße gab es in dieser Einöde nicht, die Kutsche rumpelte über einen schlammigen Feldweg. Die Fahrt zog sich in die Länge und mit jedem Stein, über den sie holperten, verspannte sein Nacken sich mehr. Pulsierend zogen die Schmerzen bis zu seinen Schläfen hoch. Zu allem Überfluss stieg ihm der unverkennbare Geruch nach Gülle in die Nase. Er schloss das Fenster.
»Links liegt Nurìa, dort rechts Wìiha.« Akàri wies auf kleinere Dörflein, die ein paar hundert Meter vor ihnen an die Fahrstraße grenzten. »In dieser Gegend bauen sie hauptsächlich Oliven und Sonnenblumen an.«
»Hmm«, machte er, ohne genau hinzusehen. Was sollte an einer Handvoll Hütten inmitten eines Flickenteppichs von Feldern interessant sein?
»Und natürlich Flachs.« Sie deutete in die Ferne. »Dort am Hügel liegen die berühmten Flachsfelder von Nurìa. Dieses Jahr haben sie ihren Umsatz um vierzig Prozent gesteigert. Ganz Finistère kleidet sich in unser Leinen!«
»Langweilig«, schrieb er verdeckt in sein Büchlein. Er umkringelte das Wort dreimal.
Sie lächelte. »Wenn wir die Höfe hinter uns haben, folgt der angenehme Teil. Dann machen wir einen Abstecher zu den Weinbergen von Kartàn. Das wird dir gefallen!«
Sie hielten vor dem Versammlungshaus des Dorfes links von der Straße. Für einen Herbsttag war es unangenehm warm, und Kaèl schwitzte unter seiner hochgeschlossenen, schwarzen Robe.
Er balancierte über die Holzbretter, die die Dorfleute auf dem Marktplatz über den Matsch ausgelegt hatten und folgte Akàri ins Gebäude. Dort wartete bereits eine Ansammlung an schlechtgekleideten Leuten auf sie. Sie schüttelten ein paar Dutzend klebrige Hände – Kaèl wischte danach verstohlen seine Handflächen an der Robe ab – und seine Mutter stellte eine Reihe an Höflichkeitsfragen, über die Ernte, das Wetter und die Sicherheit. Kaèl versteckte ein Gähnen.
Zufrieden nickend zog sie weiter, und Kaèl folgte ihr, durch den Matsch in die Kutsche hinein, und sie fuhren los, an Orangenhainen vorbei, an abgeernteten Feldern vorbei zu den nächsten Dörfern. Auch hier lief es gleich ab, die Leute verneigten sich und präsentierten irgendein Produkt, auf das sie besonders stolz zu sein schienen, und seine Mutter starrte darauf, als wäre sie zufrieden. Huldvoll sah sie aus, fand Kaèl, mit dem hochstehenden Kragen und ihrem langen, blauen Umhang, den sie selbst in der glühenden Herbstsonne nicht ablegte.
Was für eine Zeitverschwendung!, dachte er, als er von einem motivierten Bauern eine gigantische Kartoffel in die Hand gedrückt bekam. Genervt legte er das dreckige Ungetüm beiseite und wischte die Erdkrümel von seiner Robe.
Auf dem Weg zum nächsten Dorf fragte er Akàri nach dem Sinn dieser Besuche.
»Damit wertschätzen wir ihre Arbeit«, erklärte sie. »Und gleichzeitig kontrollieren wir, ob alles beim Rechten ist.« Sie seufzte tief. »Als Landesherrin bist du so etwas wie eine Mutter, die mit harter, aber dennoch liebevoller Hand regiert.«
Das erschien ihm logisch. ›Landesherrin ist wie ein Elter‹, notierte er. Und: ›Wertschätzung geben.‹
Gegen späten Nachmittag erreichten sie endlich ihr letztes Ziel, das auf einem Hügel gelegene Dorf Kartàn. Nach dem Aufstieg über eine Holztreppe wurden sie mit einem spektakulären Ausblick über die Weinberge belohnt. Sie folgten der Winzerin in die Weinkelterei. Im Keller des kühlen Steingebäudes starrte seine Mutter zufrieden und huldvoll auf die beeindruckende Traubenpresse, ließ sich die Funktionsweise der einzelnen Hebel erklären und tätschelte die Eichfässer, bis sie endlich genug davon hatte.
Die Winzersleute hatten ein Tischlein mit Verpflegung vorbereitet und schenkten ihnen– wie sollte es anders sein – jede Menge Wein ein, sogar Apfelwein, den Kaèl bevorzugte. Nach einer feucht-fröhlichen Stunde verabschiedeten sie sich und traten wieder hinaus, in die Nachmittagssonne. Kaèl fühlte sich etwas wacklig auf den Beinen.
»Dies ist ein ergiebiges Erntejahr«, sagte Akàri, als sie, gefolgt von ihrer Eskorte, quer durch das malerische Dorf zurück zur Kutsche stapften. »Das Dritte in Folge. Vielleicht sollte ich die Pacht heraufsetzen, wir könnten die Einnahmen gut gebrauchen.« Sie schritt zügig voran, und Kaèl hatte Mühe zu folgen. Er bewunderte ihre Trinkfestigkeit.
Seine Mutter warf einen Blick zurück zur Kelterei, wo die ordentlich im Spalier aufgestellten Leute ihnen immer noch hinterherwinkten. »Bei solchen Dingen müssen wir vorsichtig sein. Zu hohe Abgaben, und sie rebellieren, zu geringe, und sie frönen dem Müßiggang.«
»Wie viel Pacht zahlen uns die Leute?«, fragte Kaèl. Sein Kopf schwirrte, vom dritten Glas Apfelmost.
»Die Hälfte ihrer Einnahmen.«
»Aha«, sagte er und konzentrierte sich auf die Treppe.
»Die stetigen Abgaben treiben sie dazu an, ihr Fleckchen Land so effizient wie möglich zu bewirtschaften.«
Das erschien logisch. Er hielt kurz inne und notierte diese Fakten in seinem Büchlein, um motiviert zu wirken.
»Das ist das Schöne an unserer Aufgabe«, sagte sie. »Wir sorgen dafür, dass alles reibungsfrei funktioniert.«
»Wieso willst du die Pacht erhöhen? Mangelt es uns an Geld?«
»Wir können nicht klagen«, sagte Akàri. »Aber dieses Jahr haben wir einige Pläne, was deine und Nyòkos Zukunft anbelangt. Wir müssen dem Mädchen etwas bieten, wenn du sie erfolgreich umgarnen willst. Dafür werden wir eine Reihe an Bällen organisieren, sprich Musik, Essen, Unterhaltung für gut hundert Personen arrangieren. Auch das Schloss sollte für diese Anlässe hergerichtet werden, der Westflügel bräuchte eine frische Schicht Blattgold und uns fehlt ein größerer Lustgarten, in dem du mit unserem illustren Besuch herumflanieren kannst.«
Das ging ihm jetzt alles etwas schnell. Mehrere Bälle?
Sie zwinkerte ihm zu. »So ein paar Rosenhecken sind ideal, um einander besser kennenzulernen. Viele dunkle Ecken für romantische Zweisamkeit, merk dir das, Kaèl’thas.«
»Hmhm«, sagte Kaèl verstört.
Akàri lächelte. »Mit etwas Glück können wir dann bereits für nächsten Sommer die große Hochzeit planen!«
Er zuckte zusammen. Die große Hochzeit?! Sofort fühlte er sich wieder nüchtern, ernüchtert sozusagen.
Ich muss diese unsinnigen Pläne unterbinden!, dachte er.
»Diese armen Leute hier zahlen bereits viel«, improvisierte er deshalb. »Das sollten wir nicht weiter ausreizen, nur wegen ein paar solcher Feste. Was wäre, wenn die nächste Ernte unverhofft schlecht ausfällt? Dann haben sie keine Rücklagen!«
»Wie du redest.« Seine Mutter machte eine verächtliche Geste. »Viele Rücklagen, keine Rücklagen, das sind doch bürgerliche Kategorien! Nach einer Missernte sind sie umso motivierter, dies im nächsten Jahr wieder auszugleichen.«
»Aber was haben die Bauersleute davon, dass sie für uns arbeiten?«
»Was sie davon haben?«, fragte sie. »Na, was sollen sie sonst tun? Das ist unser Land. Ohne uns hätten sie nichts!«
»Ja, aber es muss doch bewirtschaftet werden«, sagte er. »Wenn sie nicht wären, dann würde alles brachliegen.«
Sie lachte. »Kaèl’thas, was sind das für Gedanken! Manchmal glaube ich, du hast zuviel Zeit an der Akademie verbracht.« Sie senkte die Stimme. »Du hast die Leutchen doch gesehen. Die meisten von ihnen sind überhaupt nicht in der Lage, für sich selbst zu planen. Sie sind dankbar, dass wir das für sie übernehmen! Sie würden ihr Geld verprassen, wir hingegen investieren es, in Schulen und Krankenhäuser, Akademien und ...«
»... den Lustgarten«, komplettierte er, was ihm einen eisigen Blick seiner Mutter einbrachte.
»Du findest das wohl witzig, Kaèl’thas. Aber merk’ dir eines: Es hat seit mehr als vierzig Jahren keinen Angriff der Menschen auf unser schönes Land gegeben, warum? Weil wir eine schlagkräftige Armee ausgebildet haben. Die Leute hier leben sicher und glücklich. Weil wir sie beschützen.«
Er musste zugeben, ihre Logik war unbestreitbar. Er holte sein Buch hervor, und notierte das Argument. Zu seiner Verärgerung verschmierten die Buchstaben bis hin zur Unleserlichkeit, im Gehen zu schreiben war komplizierter als gedacht.
Wie Mister Taryòn das bewerkstelligt?, fragte er sich, aber der hatte dann wahrscheinlich keine drei Gläser Wein intus.
»Ich habe eine Idee!« Seine Mutter klatschte die Hände zusammen. »Nyòko ist so ein belesenes Mädchen. Wir könnten zur Feier deiner Erzmagiwürde eine hübsche Statue von dir aufstellen. Vor ihrer Lieblingsbibliothek. Dann wird sie jedes Mal, wenn sie sich neuen Lesestoff sucht, daran vorbeigehen und an dich denken.«
Eine Statue? Die Idee hätte von mir kommen können!
»Das klingt famos!«, sagte er entzückt.
Sie lächelte vielsagend. »Und wie organisieren wir das mit der Pacht?«
Er warf einen Blick hinauf zum Dorf. »Sie hatten drei gute Erntejahre?«
Akàri nickte.
»Dann sollten wir die Pacht erhöhen! Schau dort«, er wies auf zwei Bäuerinnen, die auf die Sense gestützt, miteinander schäkerten. »Effizient sind die nicht.«
»Du lernst schnell, mein Junge.«