Bendix hielt Wort. Er baute ihnen ein Heim. Er zerschnitt mit seinem Messer die gewachste Plane der Kutsche und bastelte ihnen daraus ein Zelt. Auf dem Boden breitete er Grashalme aus, damit sie ein weiches Lager hatten und in Kombination mit der Decke und den Kissen aus der Kutsche war es beinahe gemütlich. Auf eines der Kissen legten sie Nuri und auf einmal fühlte sich diese abenteuerliche Zusammenstellung aus Stofffetzen und Armut an, wie ein Zuhause. Ihr erstes gemeinsames Zuhause.
Kaèl war so müde, dass er auf das Lager glitt, ohne sich aus seinen klammen Sachen zu schälen oder sie auch nur trocken zu zaubern. Bendix legte sich zu ihm. Als seine Hand über Kaèls Gewand glitt, schüttelte er missbilligend den Kopf. »Du holst dir noch den Tod.«
Kaèl wimmerte einen Protest, aber Bendix zog ihm bereits die Schuhe von den Füßen und knöpfte mit ruhigen Bewegungen sein Gewand auf. Er streifte sich die Tunika vom Kopf und zog den nackten und zitternden Kaèl gegen seine warme Brust. »So ist es besser.«
»Hmm«, machte Kaèl. Er legte den Kopf in Bendix’ Halsbeuge ab und atmete seinen Duft ein. Die Lider fielen ihm zu. »Hab dich vermisst«, murmelte er. »Lieb dich.«
»Ich dich auch, Kaèl.«
Es war nicht so bequem wie sein Bett, bei weitem nicht, aber es war bei Bendix und das war alles, was zählte.
Am nächsten Tag ließ Bendix ihn schlafen, bis die Sonne hoch am Himmel stand, aber nach einem viel zu kurzem Frühstück rollte er das Zelt auf, schnallte es einem der Pferde auf den Rücken und drängte sie weiter.
»Können wir nicht hierbleiben?«, fragte Kaèl. »Wenigstens heute?«, aber Bendix schüttelte den Kopf.
»Wir können nicht zu lange an einem Ort bleiben. Deine Familie sucht sicherlich noch nach mir. Außerdem brauchen wir Vorräte, Kleidung, einfach alles. Wir müssen in eine Stadt.«
Sie hatten vier Pferde – drei, die vor die Kutsche gespannt waren und das Pferd, das Bendix sich ›geliehen‹ hatte. Das wollte er zum Hof zurückbringen, zwei wollten sie behalten und eines verkaufen. Dafür planten sie, wieder nach Nìshai zurück zu reiten.
Sie kamen nur langsam voran. Am Abend teilten den Rest von Kaèls Wegzehrung und bauten ihr Lager versteckt in einem kleinen Wäldchen auf.
Erst gegen Mittag des zweiten Tages erreichten sie Nìshai. Kaèl hatte furchtbaren Hunger, die wenigen Beeren und Rüben, die Bendix als Frühstück aufgetrieben hatte, hatten nicht lange vorgehalten. »Lass uns eine Gaststätte suchen«, schlug er vor, »dort etwas essen und uns frisch machen und danach können wir uns mit Vorräten eindecken.«
»Zuerst müssen wir das dritte Pferd verkaufen.«
»Bendix, bitte«, sagte Kaèl. »Ich brauche ein Bad, bevor ich auch nur annähernd in der Lage bin, einen guten Preis für das Pferd auszuhandeln.«
Bendix warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Aber du sagtest, dass du kein Geld hast.«
»Nicht ganz. Eine Freundin hat mir Geld geliehen.« Kaèl holte die Börse aus seiner Brusttasche und drückte sie Bendix in die Hand. »Viel ist es nicht, aber für den Anfang sollte es reichen.«
Bendix lugte hinein, und seine Augen weiteten sich. »Das ist ja ein Vermögen. Das ist … ohhh, ist das …?« Er fischte ein Stück heraus und biss darauf. »Es ist echt! Eine echte Silbermünze! So etwas habe ich noch nie gesehen! Na, damit werden wir lange auskommen.«
»Meinst du?«, fragte Kaèl.
Bendix wedelte mit der Hand. »Natürlich! Das sind Silbermünzen! Damit können wir alles kaufen, was wir brauchen und kommen mit etwas Glück sogar über den Winter!«
»Hm«, machte Kaèl. Ihm war es nicht so vorgekommen, als würde es lange reichen – in den wenigen Stunden, die er in Nìshai verbracht hatte, hatte er bereits ein Drittel des Geldes verbraucht.
»Vielleicht …«, begann Bendix vorsichtig, »ist es besser, wenn ich losziehe und die Einkäufe erledige. Ich weiß, wo die Preise auf dem Markt am günstigsten sind. Und eventuell …«, er blickte zu Kaèl, »verlangen sie mehr, wenn ein feiner Herr wie du vor ihnen steht.«
»Ich möchte mitkommen«, sagte Kaèl. »Ich habe bislang nie auf einem Markt eingekauft, und ich möchte das lernen.«
»Na gut.« Bendix lächelte. »Du hast noch nie auf einem Markt eingekauft? Niedlich.«
Kaèl hexte ihm einen kleinen Stichzauber gegen die Brust. »Das ist nicht lustig!« Er packte Bendix’ Arm und zog ihn Richtung der Gaststätte.
Ein paar Stunden später flanierten sie über den überfüllten Markt. Zunächst hatte Kaèl Angst gehabt, dass Bendix entdeckt werden könnte, aber der hatte seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Niemand warf ihnen einen zweiten Blick zu. Kaèl hatte sein Haar mit einem Zauber verdunkelt. Seine Robe war derart verdreckt und zerknittert, dass sie kaum etwas hermachte.
Wahrscheinlich ist es besser so, versuchte er, sich zu trösten, dann machen sie uns wenigstens bessere Preise, aber er fühlte sich dennoch unwohl.
Zum Glück lenkte das rege Treiben von seinen Bedenken ab. Alles drängte durcheinander und an jeder Ecke wurden die Waren lautstark angepriesen. Zunächst hatte Kaèl den Ausrufen interessiert gelauscht, aber bald schmerzten seine Ohren, also fokussierte er sich eher auf seine anderen Sinne. Überall gab es etwas anzufassen oder zu kosten und die Luft war erfüllt von den unterschiedlichsten Gerüchen, nach Gewürzen, Schweiß und frisch gebackenem Brot.
»Das hier ist das echte Leben!«, erklärte er Bendix und ließ eine Hand durch einen Sack voll mit Maronen gleiten. »Schau mal, dahinten gibt es sogar Gewürze!«
»Wir brauchen keine –«, wollte Bendix protestieren, aber Kaèl schüttelte vehement den Kopf. »Ich habe dir immer so gern Gewürze geschenkt. Lass mich dir die kleine Freude machen!«
Bendix verzog den Mund, nickte aber schließlich, und Kaèl lief los.
Zufrieden kehrte er mit je einem Beutelchen Kurkuma, Zimt, Nelken, Safran und Chili zurück. »Keine Sorge, sie haben mir einen Sonderpreis angeboten. Nur eine halbe Silbermünze pro Beutel!«
»Eine halbe –« Bendix legte die Stirn in Falten. Er schüttelte ein paar Mal den Kopf, setzte dann aber ein Lächeln auf, das nicht zu seinen Augen vordrang. »Danke«, sagte er gepresst. »Das sind gute Gewürze.«
»Nicht wahr?« Kaèl strahlte. »Das hat die Verkäuferin auch gesagt!«
Bendix nickte abwesend. »Ab jetzt sollten wir wirklich auf unser Geld achten. Wir brauchen beide noch Kleidung, Kochgefäße und Vorräte. Lass die mich besser mal aussuchen. Ich kenne da ein paar gute Stände.«
Kaèl folgte ihm durchs Gedränge. In einer Seitengasse, in der es nach Schlachtabfällen roch, blieb Bendix vor einem kleinen Stand stehen, auf dem braune und beige Stoffe, sowie erdfarbene Tuniken, Hosen und Gewänder dicht aneinandergereiht auf den Tischen lagen.
»Das ist aber nicht schön«, bemerkte Kaèl. »Die Farben sind alle so trist. Und die Stoffe sind so grob.«
Bendix seufzte.
»Gibt es hier auch etwas in anderen Farben?«, fragte Kaèl laut. »Aus Seide?«
Einige Köpfe drehten sich zu ihm.
Die Verkäuferin trat lächelnd näher. »Sie haben einen exquisiten Geschmack, Sir.«
Auch Kaèl lächelte. »Jahrelange Übung.«
Sie nickte und holte ein paar Roben hinter dem Tresen hervor. Sie waren plump geschnitten, und die Seide war weniger fein, als er es gewohnt war, aber damit konnte Kaèl sich arrangieren, schließlich mussten sie Abstriche machen, bei ihrem einfachen Lebensstil. »Was kosten die?«
Die Verkäuferin ließ ihren Blick über Kaèl schweifen. »Vier Silbermünzen«, sagte sie nach einigem Nachdenken.
Kaèl nickte zufrieden und öffnete seine Geldbörse. Bendix entwand sie ihm, bevor er die Münzen herausfischen konnte.
»He«, machte Kaèl, aber Bendix brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Er zählte die Münzen durch, seufzte. »Ich fürchte, Seide ist nicht drin. Wir müssen irgendwie über den Winter kommen. Und ich habe keinen Garten, also müssen wir alles einkaufen, was wir an Essen benötigen.«
Er hielt Kaèl eine braune Tunika hin. »Was ist damit? Die ist doch auch gut!«
Kaèl strich mit der Hand über den Stoff. Es fühlte sich unangenehm an, kratzig. »Bendix. Das geht nicht. Ich kann kein Leinen tragen, das irritiert meine Haut.«
Bendix’ Mund verzog sich verzweifelt. »Aber wir haben –«
»Ich kann arbeiten«, unterbrach ihn Kaèl. »Ich bin Erzmagi, da lecken sich die Leute die Finger nach mir. Wir werden immer genug Geld haben.«
»Du willst arbeiten?«
»Warum nicht?«
Ja, warum nicht? Vor ein paar Tagen hatte ihn die Idee noch gegruselt, aber je länger Kaèl darüber nachdachte, desto besser gefiel sie ihm. Er würde sich eine spannende Aufgabe suchen, und sie könnten sich ein kleines Häuschen am Rande der Stadt suchen, eines, das er mit seiner eigenen, harten Arbeit finanzierte. Es musste nicht groß sein, bei Bendix benötigte Kaèl keine sechs Zimmer, um sich zurückzuziehen, er ließ Kaèl sowieso in Ruhe lesen und denken, wann immer Kaèl es wollte. Aber einen Garten sollte das Haus haben, am Besten einen großen, in dem Bendix seine Stunden verbrachte. Dann hätten sie immer frisches Gemüse, und Bendix würde mit dem Essen auf ihn warten, wenn Kaèl abends erschöpft heimkam.
»Ich hatte sowieso vor, im nächsten Semester Kurse an der Akademie zu geben. Sie werden mir sicherlich eine angemessene Bezahlung dafür anbieten, wenn ich danach frage. Glaub mir«, fügte er hinzu, als Bendix weiterhin skeptisch schaute, »ich werde mich morgen darum kümmern. Aber dafür benötige ich bessere Kleidung als das.« Verächtlich warf er die Tunika zurück auf den Grabbeltisch.
Zögerlich gab Bendix ihm die Geldbörse zurück. »Es ist dein Geld«, sagte er, ohne Kaèl direkt anzusehen.
Während Kaèl sich durch die angebotenen Waren wühlte, plauderte er mit der Verkäuferin und ignorierte Bendix’ versteinerte Miene. Er entschied sich für vier Seidenroben in Weiß und einen hellblauen sowie einen grauen Überwurf. Nach etwas Suchen legte er eine dunkelgraue Hose und eine dunkelblaue sowie zwei rote Seidentuniken für Bendix hinzu. Er griff nach einer weiteren Hose für Bendix, aber der legte seine Hand auf Kaèls. »Das reicht.«
Der Geldbeutel war sehr viel leichter, als sie abends mit Lebensmitteln und Kleidung in das Gasthaus zurückkehrten. Sie ließen sich Essen auf ihr Zimmer servieren. Bendix blickte stumm auf seinen Teller, die Stirn in tiefe Furchen gelegt, während sie aßen. Auch danach summte er nicht wie üblich irgendeines seiner Liedchen, sondern verzog sich ohne ein Wort in eine Ecke und meditierte.
Kaèl versuchte, sich mit seinem neuen Buch davon abzulenken – eine Menschengeschichte, die er an einem Stand zwischen magischer Trivialliteratur entdeckt hatte.
Er bereute es nicht, heute mehr Geld ausgegeben zu haben, als geplant. Bendix war zu pessimistisch, was derlei Angelegenheiten anging. Manchmal war es wichtig, etwas zu investieren – und Kaèl konnte kaum in einer Leinenrobe Vorlesungen an der Akademie halten.
Morgen, wenn er sich um die Anstellung gekümmert hatte, würden sich ihre finanziellen Sorgen in Luft auflösen. Und dann würde sich auch Bendix wieder beruhigen.
oOOo
»Mylord – äh«, die Dekanin warf ihm einen kurzen Blick zu, »Sir.«
Kaèl nickte grimmig. Natürlich hatte sich sein Abstieg bereits herumgesprochen. Er hasste es, dieses ›Sir‹, aber er würde sich wohl oder übel daran gewöhnen müssen. »Madame Kitàno.«
»Setzen Sie sich.«
Kaèl nahm auf dem üppig verzierten Stuhl aus dunklem, polierten Holz Platz. »Ich suche eine Anstellung«, erklärte er. »Als Dozent, ab dem kommenden Semester.« Er lächelte gewinnend. »Ich denke, meine akademischen Meriten muss ich Ihnen nicht aufzählen.«
Madame Kitàno nickte ernst. »Ich versichere Ihnen, niemand hier bezweifelt Ihre fachliche Eignung für die Stelle. Wir würden uns gern mit einem Erzmagi schmücken. Allerdings –«, sie legte eine bekümmerte Miene auf, »sind uns die Hände gebunden, so gern wie wir Sie auch anstellen würden.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Kaèl.
»Lady Hotàru hat uns klare Anweisungen geschickt. Sie duldet keine Anstellung Ihrer Person im Staatsdienst.«
»Meine Mutter …?«, begann Kaèl, aber es schnürte seine Kehle zu.
›Du bist nicht mehr mein Sohn.‹
Durfte er sie überhaupt noch ›Mutter‹ nennen?
Er hatte damit gerechnet, dass sie ihm seine Lügen nicht verzeihen würde, aber wie sehr musste sie ihn hassen, wenn sie ihm nicht einmal eine Anstellung gönnte? Wollte sie, dass er verhungerte? War sein Leben, ihre gemeinsamen zweiunddreißig Jahre unter einem Dach nichts wert?
»Sir?«
Mit Mühe löste Kaèl den Blick von der Tischplatte. Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. »Ich … verstehe«, brachte er hervor. Vor seinen Augen flimmerte es, kalter Schweiß brach ihm aus. »Das ist … verständlich.« Er atmete tief durch, nickte.
Kaèl entschuldigte sich und drückte sich hoch. Ohne die Dekanin noch einmal anzublicken, quälte er sich zur Tür, aber bereits im Vorzimmer knickten ihm die Beine weg. Schwer lehnte er sich gegen den Tisch.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Miss Willow, die Sekretärin. Kaèl hatte sie immer sympathisch gefunden und einige Male mit ihr geschäkert.
›Natürlich‹, wollte Kaèl sagen. Er wollte vor Miss Willow nicht das Gesicht verlieren, aber sein Körper weigerte sich. Er zitterte. »Ich darf hier nicht arbeiten«, brach es schließlich aus ihm heraus. »Nach all den Jahren, die ich hier studiert und gelehrt habe.«
Miss Willow seufzte leise. Sie wirkte einen Stillezauber. »Setzen Sie sich.«
Sie griff nach der Karaffe, füllte ein Glas mit verdünntem Wein und schob es ihm hin. »Lord Hotàru, ich –«
»Nicht mehr Lord«, korrigierte Kaèl sie. Er griff nach dem Glas und exte es.
»Mylord«, sagte sie störrisch, und diesmal korrigierte Kaèl sie nicht.
Sie füllte sein Glas erneut. »Es tut mir leid, was Ihnen passiert ist.«
Kaèl nickte finster. »Ich hätte nie gedacht, dass meine Mutter … ach vergessen Sie es.« Er leerte das zweite Glas. Allmählich kehrten seine Sinne zurück, und er konnte wieder kohärent denken. »Was wäre wenn … mir Madame Kitàno eine Stelle in der Forschung anbietet? Ohne Kontakt zu den Studierenden?«
Miss Willow sagte nichts.
Erleichtert stieß er die Luft aus. »Warum bin ich nicht eher darauf gekommen! Ich bräuchte nichts weiter als ein Büro und Zugang zu den Bibliotheken, dann könnte ich neue Zauber entwickeln. Meine Mutter wird es nie bemerken. Ich sollte gleich Madame Kitàno –«
»Mylord«, sagte Miss Willow bestimmt. »Es tut mir leid, aber Madame Kitàno wird Sie nicht einstellen, egal für welche Position.«
»Warum?«
Sie seufzte. »Ihre Kolleg*innen haben sich seit Jahren darüber beklagt, dass Sie unnahbar und arrogant wirken. Niemand will mit Ihnen zusammenarbeiten, aber die Entwicklung neuer Zauber ist an dieser Akademie Gruppenarbeit.«
Kaèl schnaubte verächtlich. »Ich entwickle mehr Zauber in einer Woche, als diese Stümper in einem Jahr, Gruppe hin oder her. Das sollte Madame Kitàno mittlerweile auch –«
»Sie kann Sie nicht ausstehen.«
»Bitte, was?«
»Madame Kitàno kann Sie nicht ausstehen. Sie hat Ihnen nur Ihren Posten gegeben, weil sie das bei Ihrem Titel nicht abschlagen konnte.« Miss Willow verdrehte die Hände ineinander, ohne Kaèl anzusehen. »Es tut mir leid. Sie sind ein versierter Wissenschaftler, wahrscheinlich der Beste, den diese Akademie je hervorgebracht hat, aber –«
»Sie können sich ihr ›aber‹ an den Hut stecken!«, rief er. Die kalte Wut stieg in ihm hoch. Dafür hatte er dreizehn Jahre seines Lebens an dieser Akademie vergeudet? Für nichts und wieder nichts! »Sie haben meine Expertise nicht verdient!«
»Mylord, ich will nur ehrlich mit Ih–«
Das Kinn gereckt, rauschte er zur Tür hinaus.
Draußen traf ihn die Mittagshitze wie eine Wand. Die zwei Gläser Wein taten ihr übriges; der Alkohol gepaart mit Adrenalin waberte durch seine Adern. Dieses gesamte Erlebnis war ein Schock gewesen. Aber Kaèl würde sich dadurch nicht unterkriegen lassen! Er würde sich eine andere, bessere Anstellung suchen, bei Leuten, die seine Fähigkeiten zu schätzen wussten!
Seine Schritte lenkten ihn, beinahe unbewusst, zum Hafenviertel, dem wirtschaftlichem Herzen Nìshais. In einer Seitengasse wiesen bunte Schilder eine Reihe von Handelskontoren aus, sowie eine Übersetzungsstube. Unschlüssig trat Kaèl von einem Fuß auf den anderen. Das hier war vielleicht nicht das, was er sich erträumt hatte, aber es war ein Anfang.
Einem Impuls folgend hexte er sein Haar dunkler. Niemand sollte erfahren, dass der ehemalige Lord des Landes sich zu so einer profanen Tätigkeit herabließ.
Er stieß die Tür auf. Die Glocke bimmelte, als er eintrat.
Ein junger Mann erhob sich von seinem Pult und trat an den Tresen. »Womit kann ich Ihnen helfen, Sir?« Seine Robe war fadenscheinig und wirkte plump, viel wurde hier anscheinend nicht gezahlt, wenn er sich nichts Besseres leisten konnte. Kaèl versuchte, es zu ignorieren, indem er das Gesicht des Jünglings fokussierte. Das war recht hübsch, wenn auch kein Vergleich zu Bendix’. »Ich suche eine Anstellung.«
»Einen Moment, ich hole die Meisterin.«
Während Kaèl wartete, ließ er seinen Blick im Raum hin- und herschweifen. Er machte gut zehn Pulte aus, über die sich ebenso schlecht gekleidete Magi beugten, die Füller in der Hand. Ab und an warfen sie ihm Blicke zu, aber sobald Kaèl ihn erwiderte, beugten sie sich wieder über ihre Papiere.
»Hallo«, sagte eine dunkle Frauenstimme. »Sie wollen hier also arbeiten?« Die Meisterin musterte ihn unverhohlen, eine Hand in ihre ausladende Hüfte gestützt.
Kaèl nickte.
»Ich kenne Sie doch irgendwoher«, murmelte sie.
»Sicherlich nicht«, sagte Kaèl und lachte nervös. »Ich bin erst kürzlich hierhergezogen.«
»Na gut.« Sie seufzte. »Was können Sie denn?«
»Ich habe mein Studium der Transformationsmagie mit Bestnoten abgeschlossen, spreche sechs Sprachen und bin mit Rechnungswesen vertraut«, zählte Kaèl auf. »Zuletzt habe ich mich mit Finanzverwaltung beschäftigt.«
»Das hört sich ja ganz fantastisch an«, sagte sie, eine Braue gehoben.
Kaèl nickte. »Überdies bin ich Erzmagi der wandelnden Künste.«
»Soso«, sagte sie. »Sie scheinen ja ein echter Wunderknabe zu sein. Was verlangt so ein Erzmagi denn für einen Sold?«
»Ich hatte für den Anfang an zwei Silbermünzen pro Tag gedacht.«
Sie pfiff durch die Zähne. »Zwei Silbermünzen! Na, das ist aber ordentlich, selbst für einen erlauchten Erzmagi wie Sie.«
Klang sie amüsiert? Aber warum sollte sie?
»Ich halte die Bezahlung für fair«, sagte er. »Mein Titel qualifiziert mich für anspruchsvollere Tätigkeiten, als Ihre sonstigen Angestellten.« Verächtlich nickte er zur Reihe der Schreiberlinge an ihren Pulten. »Ich kann mehr, als nur Schreiben und Rechnen.«
»Oh ich verstehe.« Die Meisterin grinste. »So ein Erzmagi wäre natürlich eine große Hilfe bei unseren anspruchsvolleren Tätigkeiten.« Diesmal gab es keinen Zweifel – ihre Stimme war durchtränkt von Sarkasmus. Sie verengte die Augen. »Zeigen Sie mir ihre Zeugnisse!«
»Die … habe ich nicht«, sagte Kaèl. Er errötete. »Nicht … mehr. Aber ich kann Ihnen eine Probe meines Könnens –«
»Ach? Keine Papiere? Jetzt bin ich aber überrascht.« Sie lachte schallend, dabei verteilte sich ein feiner Speichelregen über seinem Gesicht. Angeekelt trat er einen Schritt zurück. »Damian«, rief sie, als sie sich wieder beruhigt hatte.
Der junge Mann mit dem hübschen Gesicht erhob sich und trat an den Tresen heran. »Meisterin?«
»Wirf ihn hinaus.« Mit den Worten drehte sie sich um und schritt zum Hinterzimmer.
Damian packte ihn an der Schulter.
»Glauben Sie mir!«, brüllte er der Meisterin hinterher. »Ich bin Erzmagi, verdammt!«
Sie lachte nur. »Sicher. Und Drachen sind die reinsten Schoßtierchen!«
Damian drückte ihn Richtung Ausgang und knallte die Tür vor seiner Nase zu.
Auch beim zweiten Handelskontor hatte er kein Glück: Diesmal war er vorsichtig geworden und verschwieg seine akademischen Errungenschaften. Aber die Bezahlung, die ihm für seine niederen Tätigkeiten angeboten wurde, ließ ihn schlucken: fünfzehn Kupfermünzen pro Tag. Das reichte nicht einmal für eine Mahlzeit in ihrer Gaststätte!
Kaèl hätte empört sein müssen. Aber er schüttelte nur den Kopf und ging, ohne sich zu beklagen. So tief war er gesunken.
Nach zwei weiteren Versuchen gab er auf. Am liebsten hätte er geweint. All seine Titel und Würden halfen ihm nicht, eine ordentliche Anstellung zu finden.
Auf dem Weg zurück zum Gasthaus kam er an ein paar bunten Ständen vorbei. An einem boten sie alle Arten von Früchten dar, auch frische Feigen. Bendix liebte frische Feigen. Vielleicht konnte Kaèl ihn damit milde stimmen, bevor er mit seinen schlechten Nachrichten herausrückte.
Er trat näher und suchte ein paar besonders saftige aus dem Korb.
»Das macht sieben Kupfermünzen«, sagte der Verkäufer.
Kaèl nickte, und griff nach seiner Geldbörse.
Er griff ins Leere.
Erneut suchte er, tastete in der rechten Tasche, in der linken. Ihm wurde heiß. »Das kann nicht sein«, murmelte er. Er klopfte jede Falte seines Gewandes ab, fingerte nach Löchern in den Taschen, nach doppelten Stofflagen, aber er fand nichts. Die Geldbörse war verschwunden.
Dabei war er sicher, dass er sie vor wenigen Augenblicken noch gehabt hatte, wie sonst hätte er in dem Teehaus seinen Tee bezahlen können?
Es gab nur eine Möglichkeit: Jemand musste sie ihm geraubt haben.
»Was ist denn nun?«, fragte der Verkäufer. »Wollen Sie sie, oder nicht?«
»Vergessen Sie es«, sagte er und legte die Feigen zurück in den Korb.
Konnte der Tag noch schlimmer werden?
oOOo
Bendix erwartete ihn in ihrem Zimmer. Er trug die graue Hose und die dunkelrote Tunika, die Kaèl ihm gestern gekauft hatte, und er sah unverschämt gut darin aus. Kaèl hatte ihm wirklich passende Sachen ausgesucht. Nicht, dass das sonderlich schwierig war – man hätte Bendix in einen Kartoffelsack stecken können, und er hätte alle anderen überstrahlt.
Er begrüßte Kaèl mit einer Umarmung, aber Kaèl drückte steif den Rücken durch.
»Du riechst nach Wein«, bemerkte Bendix.
»Hmm«, machte Kaèl. Er mied Bendix’ Blick.
Bendix seufzte leise, ließ es aber darauf beruhen. »Ich hab’ Anton wieder in seinen Stall gebracht.«
»Anton?«
»Das Pferd, das ich geliehen hatte. Und dann habe ich mich versteckt und beobachtet, wie der Bauer ihn entdeckt hat. Der war außer sich vor Freude. Das war sein einziges Pferd, weißt du?«
»Ah«, Kaèl nickte abwesend. »Das ist … schön.«
Bendix strahlte. Kaèl schaute kurz hin, aber gleich wieder weg. Bendix’ Züge waren so offen und gutmütig. Normalerweise konnte Kaèl kaum den Blick davon wenden, aber jetzt schmerzte jede Faser seines Körpers, ihn so zu sehen. Es war zuviel.
Bendix war so grundanständig. Immer bemüht, das Richtige zu tun, egal wie viel Mühe es ihn kostete. Er hatte nur das Beste verdient, ein angenehmes Leben in einem Haus mit Garten. Kaèl hätte es ihm ermöglichen müssen. Er hatte eine erstklassige Ausbildung und Kontakte – lauter Dinge, die Bendix nie vergönnt waren – und dennoch hatte er es in den Sand gesetzt. Mehrfach.
Weil er nicht mit anderen zusammen arbeiten konnte. Weil er nicht auf seine Geldbörse hatte achten können, nicht einmal einen halben Tag lang.
Wie sollte er das Bendix erklären? Dem wäre so etwas nie passiert, dafür war er zu aufmerksam in allem, was er tat.
»Du wirkst unruhig«, unterbrach Bendix seine Gedanken.
Kaèl war in Achten durchs Zimmer gelaufen. Vor dem Fenster blieb er stehen. Er tat so, als würde er nach draußen auf die Straße schauen, um Zeit zu gewinnen, die Tränen herunterzuschlucken, die ihm in der Kehle aufstiegen.
»Hast du schon gegessen?«
Kaèl schüttelte den Kopf, ohne den Blick vom Fenster zu lösen.
»Gut. Ich auch nicht. Wie wäre es, wenn wir unten was essen und du erzählst mir, wie es an der Akademie war?«
Kaèl musste es einfach hinter sich bringen, je früher desto besser. Er drehte sich zu Bendix, eine Faust fest hinter dem Rücken geballt. »Wir können nicht hier übernachten.«
»Oh? Gefällt dir das Zimmer nicht? Ich fand es eigentl–«
»Ich wurde ausgeraubt.« Er hob den Blick und schaute Bendix ins Gesicht.
Bendix’ Lächeln schwand. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder. Die Sekunden verstrichen. »Das Geld …«, sagte er schließlich.
»Es ist alles weg.«
Bendix nickte langsam. »Und … die Akademie? Hast du eine Anstellung?«
Es tat zu weh, um darauf zu antworten. »Lass uns zusammenpacken«, sagte er deshalb nur. »Wir müssen hier raus.«
Kaèl hatte mit Wut gerechnet, mit Fragen und Vorwürfen. Es wäre Bendix’ gutes Recht gewesen. Aber Bendix hatte einfach nur genickt und ihre Sachen in den Beuteln verstaut.
Auch auf dem Ritt zurück in das Wäldchen hatten sie geschwiegen. Kaèl wunderte es. Wollte Bendix nicht wissen, was passiert war? Oder hatte er von Anfang an gedacht, dass Kaèl nichts erreichen würde? Hielt er ihn für derart unfähig und lebensfremd?
An ihrem Nachtlager angekommen, baute Bendix ihr Zelt auf, danach kochte er ihnen etwas. Immer dann, wenn er glaubte, Kaèl würde es nicht bemerken, warf er ihm besorgte Blicke zu.
Kaèl ignorierte es. Er starrte in sein Buch, ohne etwas zu sagen. Was sollte er auch erzählen? Dass er ungeeignet war, das zu tun, für das er jahrzehntelang ausgebildet worden war? Dass sie leider nun doch nicht über den Winter kommen würden?
Bendix war zu gut für ihn.
»Es gibt Eintopf mit Kurkuma und Chili.« Bendix hielt Kaèl einen Löffel hin. »Ist dir das zu scharf?«
Kaèl nahm ihm den Löffel ab und probierte. War es scharf? Er schmeckte nichts, da war nur dumpfe Leere in ihm. »Es ist gut«, sagte er und reichte Bendix den Löffel zurück.
»Du gewöhnst dich wohl allmählich an die Dinstermorer Küche. Das ist gut.« Bendix warf Kaèl einen Blick zu, den Kaèl nicht lesen konnte. »Denn Gewürze haben wir ja genug für die nächsten drei Jahre.«
War da ein sarkastischer Unterton in seiner Stimme?
»Was?«, patzte Kaèl, viel zu laut. »Hast du ein Problem damit, dass ich uns welche gekauft habe?«
Bendix schüttelte den Kopf. »Ich mache mir nur Sorgen.«
»Immer machst du dir Sorgen! Du bist wie eine Glucke, dauerangespannt, als würdest du mir nichts zutrauen.« Kaèl bereute die Worte, sobald er sie ausgesprochen hatte. Sie klangen kindisch und überreizt und waren unfair. Aber es war zu spät, sich dafür zu entschuldigen, also legte er nach: »Mir geht langsam die Geduld aus! So hatte ich mir unser Zusammenleben nicht vorgestellt!«
Bendix erbleichte. »Bereust du es?«, flüsterte er.
Kaèl schnaubte genervt. Er sprang auf und stürmte in das Wäldchen.
oOOo
Allmählich wurde es dunkel. Kaèl fröstelte in der Abendkühle, aber als er an der Abbiegung ankam, lenkte er seine Schritte zum vierten Mal um den See und nicht Richtung Zelt. Egal, ob seine Füße schmerzten, er wollte nicht zurück. Er wollte nicht mit Bendix reden. Was sollte er auch sagen, es würde Bendix nur mehr enttäuschen.
Er quälte sich noch zwei weitere Male um den See, bis es so spät war, dass Bendix höchstwahrscheinlich schlief. Dann erst kehrte er zum Zelt zurück.
Vor dem Eingang löschte Kaèl seinen Lichtzauber, um Bendix nicht zu wecken. Er zögerte, überlegte, einfach seine Decke zu nehmen und sich draußen darunter zusammenzurollen. Wahrscheinlich wollte Bendix ihn sowieso nicht bei sich haben, nach allem, was Kaèl sich heute geleistet hatte.
Aber er wollte heim, und das einzige, was einem Heim gerade nahekam, war dieses windschiefe Zelt. Bendix und er hatten, seit sie zusammen waren, immer in einem Bett geschlafen, und er war zu müde und niedergeschlagen, um jetzt irgendetwas daran zu ändern.
Er trat ein, auf Zehenspitzen, und hoffte, dass Bendix ihn in Ruhe ließ, wenigstens für diese Nacht.
Seine Bitten schienen erhört zu werden. Bendix atmete ruhig und regelmäßig. Vorsichtig legte Kaèl sich dazu, auf den viel zu harten Boden, mit dem Rücken zu Bendix. Er achtete darauf, genug Abstand zwischen ihnen zu lassen, und zog die Decke über sich.
Es war merkwürdig, sich nicht wie sonst an ihn zu schmiegen. Aber er sollte nicht daran denken, er sollte nur noch …
»Da bist du wieder«, flüsterte Bendix.
Kaèl erstarrte.
Bendix rückte näher. Kaèl spürte, wie seine Bewegungen langsamer wurden, wie er zögerte, aber dann legte er doch eine Hand auf Kaèls Hüfte. »Ist das in Ordnung?«, fragte er.
»Hm«, machte Kaèl zustimmend.
Vorsichtig ließ Bendix die Hand weiter über Kaèls Bauch gleiten, bis er ihn von hinten in seine Umarmung gezogen hatte. Es war so vertraut … Kaèl biss sich auf die Lippe.
»Gute Nacht, Kaèl«, sagte Bendix sanft.
Kaèl konnte nicht antworten, sonst hätte er geweint. Also nickte er nur.