Es waren vier von Myriams Grauen im Wald. Mindestens.
Kaèl hatte sie bei seinem Streifzug im Buschwerk erspäht, wie sie flach auf dem Boden liegend mit ihren Feldstechern Bendix’ Hütte ins Visier nahmen. Zwei von ihnen hatten Musketen neben sich liegen. Er hatte befürchtet, dass Myriam die Hütte nicht unbeaufsichtigt lassen würde, aber das übertraf seine schlimmsten Erwartungen.
Es würde nicht leicht werden, Bendix da raus zu holen. Selbst unsichtbar nicht.
Mit angehaltenem Atem schlich er an zwei der Wachen vorbei, sprang über den Bach und lief die Böschung hinauf, stets darum bemüht, keine Zweige aufzupeitschen, die die Aufmerksamkeit der Grauen auf ihn lenken konnten.
Unschlüssig lief er um die Hütte. Er konnte nicht klopfen und um Einlass bitten, das wäre zu auffällig gewesen. Und jeglicher Zauber würde seine Unsichtbarkeit auflösen, also konnte er Bendix auch kein Glühwürmchen hinein hexen, um auf sich aufmerksam zu machen. Er sammelte ein paar Steinchen, um sie gegen das Fenster zu werfen. Bendix konnte ihn trotz seiner Unsichtbarkeit sehen, hoffentlich würde er Kaèls Handzeichen verstehen.
Aber bevor er eine Handvoll zusammen hatte, schwang die Tür auf und Bendix trat heraus. Er lief an Kaèl vorbei, als sei er nicht da, griff sich seinen Eimer und kehrte zurück.
Sah er ihn nicht? Kaèl trat näher heran.
Im Vorbeigehen packte Bendix ihn am Ärmel und zog ihn mit sich. »Rein mit dir«, flüsterte er, und Kaèl gehorchte.
Innen angelangt, ließ Bendix Kaèls Ärmel los, als sei der vergiftet. Er knallte die Tür zu und pfefferte den Wassereimer in eine Ecke. »Hast du diese Kasper hergebracht?«, raunte er.
»Was? Nein!«
Bendix starrte ihn an. Ein Ausdruck huschte über sein Gesicht, den Kaèl nicht interpretieren konnte, aber dann schüttelte er den Kopf und legte eine finstere Miene auf. »Was willst du dann hier? Ist dir mit deinen anderen Bauernsöhnen langweilig geworden?«
Er war also noch wütend. Schön, Kaèl war auch lange wütend gewesen. Aber jetzt ging es um Wichtigeres. »Ich will dir helfen! Sie wissen, wo du wohnst und sie werden dich töten, wenn du nicht von hier wegkommst!«
»Mit den paar Hanseln werde ich schon allein fertig.«
»Es bleibt aber nicht bei ›den paar Hanseln‹.« Kaèl gestikulierte heftig. »Wenn du einen von ihnen angreifst, rufen sie Verstärkung. Myriam und Mutter werden nicht eher ruhen, bis du tot bist!«
»Ich …« Bendix trat von einem Fuß auf den andern. Er warf Kaèl einen langen Blick zu, dann nickte er. »Was ist dein Plan?«
»Ich schmuggle dich hier raus und bringe dich in mein Strandhaus.«
»In dein Strandhaus?« Bendix schnaubte. »Dann gehe ich lieber zu Kasi.«
»Nein!« Am liebsten hätte Kaèl ihn geschüttelt. »Du gehst nicht zu Kasimir. Kasimir muss spätestens in einer Woche aus Fukuòka weg sein, da bist du nicht sicher!«
»Ich kann ja wohl selbst …«, hob Bendix an, aber Kaèl redete einfach weiter: »In einer Woche brennen die Menschendörfer. Alle, die da noch nicht fort sind, werden getötet. So sieht es aus.«
Bendix verengte die Augen, aber Kaèl hielt seinem Blick stand. »Ich weiß, dass du wütend auf mich bist«, fügte er etwas sanfter hinzu. »Ich war auch lange wütend auf dich. Aber seit den letzten Wochen habe ich einiges anders gesehen. In manchen Angelegenheiten ...«, er grub sich die Nägel in die Handinnenfläche, »... hattest du recht.«
Bendix starrte immer noch zu ihm. »Nicht in allen«, fügte Kaèl schnell hinzu. »Aber einiges habe ich damals nicht verstanden, weil ich nie erfahren habe, wie es ist, als Mensch hier zu leben.« Er senkte den Kopf. »Jetzt habe ich eine vage Idee davon.«
»Hm«, machte Bendix wenig überzeugt.
»Aber vor allem will ich nicht, dass du stirbst, also vertrau mir.« Kaèl biss sich auf die Lippe. »Bitte«, fügte er nach kurzem Zögern hinzu.
Bendix verschränkte die Arme vor der Brust. »Und wie planst du, mit mir unbemerkt von hier wegzukommen?« Er klang immer noch wütend, aber wenigstens schien er auf Kaèls Vorschlag einzugehen.
Und wieder hatte ein ›bitte‹ bei Bendix funktioniert. Manche Dinge änderten sich wohl nie. Wenn nicht alles so ernst wäre, hätte Kaèl darüber gelacht.
»Ich kann dich leider nicht unsichtbar machen. Aber ich kann eine Illusion von dir kreieren, die die Wachen ablenkt. Sobald sie die Hütte nicht mehr im Visier haben, läufst du los, bis zur Fahrstraße, und dann die Straße entlang Richtung Süden, bis der große weiße Fels rechts vor Dir auftaucht. Dort wartest du auf mich.«
»Und was ist, wenn ich einen von denen im Wald in die Arme laufe?«
Kaèl grinste verschlagen. »Dazu hätte ich eine Idee. Aber sie wird dir nicht gefallen.«
»Was?«
»Ich verzaubere dich in ein Reh.«
»Das meinst du nicht ernst!«, entfuhr es Bendix. »Du willst mich –«
Aber Kaèl hob nur die Brauen. »Vertraust du mir?«
Bendix seufzte. »Fein. Tu, was du nicht lassen kannst.« Er griff nach seinen Waffen, wickelte sie aus dem Wachstuch und schnallte sie quer über seinen Rücken. »Starr nicht so«, sagte er, als er Kaèls Blick bemerkte. »Ich werde die Leute nicht töten, ich hab’ begriffen, dass du das nicht willst. Aber ich lasse meine Waffen nicht hier zurück.«
Zu Kaèls Erstaunen holte er als Nächstes einen Jutesack und räumte ein paar Tuniken, Hosen und irgendwelchen sonstigen Plunder hinein. Irritiert beobachtete Kaèl, wie der Sack voller und voller wurde.
Als Bendix nach einem der Töpfe griff, platzte Kaèl der Kragen. »Beim Drachen, Bendix! Im Strandhaus gibt es genug Töpfe.« Er machte eine verächtliche Geste. »Bessere als dein Gerümpel da.«
Bendix’ Mund verzog sich missbilligend. »Warum bist du überhaupt hier, wenn du alles so geringschätzt?«
»Ich schätze nicht alles gering.« Kaèls Augen suchten Bendix’. »Im Gegenteil, ich war immer gern hier.«
Bendix verschränkte die Arme. Er verzog das Gesicht, als glaube er ihm kein Wort.
»Ist ja auch egal«, knurrte Kaèl. »Pack deine Sachen endlich fertig, wenn sie uns hier erwischen, sind wir beide tot!«
»Das wäre schon alles«, sagte Bendix säuerlich.
»Gut. Dann bin ich an der Reihe.« Kaèl holte tief Luft. Er schloss die Augen und sammelte seine Magie, bis es tief in seiner Brust pulsierte. Er stellte sich Bendix vor, von Kopf bis Fuß, seine Mimik, seine Waffen, wie er sich bewegte. Als sich das Bild vor seinem geistigen Auge formiert hatte, hob er die Arme und wirkte den Zauber. Die aufgestaute Energie entlud sich mit einem Funkenschlag, es knisterte an seinen Fingerspitzen.
Bendix lachte leise, und Kaèl schaute zu ihm. »Was?«
Mit einem Kopfnicken wies Bendix auf die Illusion. »Oberkörperfrei? Ernsthaft? Wann bitte laufe ich so herum?«
Zu selten, flüsterte ein freches Stimmchen in ihm, und Kaèl errötete. »Jetzt beschwer’ Dich nicht«, sagte er hastig. »Sie sieht aus wie du, das reicht.«
»Sehen die nicht, dass das eine Illusion ist? Ich kann die Magie daran förmlich riechen.«
»Oh bitte«, sagte Kaèl beleidigt. »Ich bin Erzmagi der Transformationsmagie. Wenn einer das einschätzen kann, dann ich.«
Er musterte Bendix kritisch. »So, jetzt kümmere ich mich um dich.« Er griff nach Bendix’ Jutebeutel.
»He«, protestierte Bendix. »Ich brauche die Sachen.«
»Ich kann dich nicht damit verwandeln«, erklärte Kaèl. Etwas milder fügte er hinzu: »Ich werde ihn für dich tragen.«
Widerwillig ließ Bendix den Beutel los. Wieso musste er immer bei allem so störrisch sein?
»Zieh dich aus«, sagte Kaèl genervt. »Ich gebe dir deine Sachen zurück, wenn wir uns wiedersehen.«
Bendix verdrehte die Augen. Er wandte ihm den Rücken zu und stieg aus seiner Kleidung.
»Bist du bereit?«, fragte Kaèl und bemühte sich, nicht zu sehr auf Bendix’ Hintern zu starren.
Bendix nickte, und Kaèl vollführte die Abfolgen des Verwandlungszaubers. Es war Routine für ihn. Verwandlungen waren Teil der Hauptprüfung eines jeden Transformationsmagis, und die Bewegungen hatte er tausende von Malen praktiziert. Natürlich hatte er die Prüfung damals mit Bravour abgeschlossen.
Zunächst wuchs dichtes rotbraunes Fell über Bendix’ Körper, dann verformte er sich, der Kopf schrumpfte, der Rumpf blähte sich auf, bis Bendix auf vier Hufen stand. Mit einer letzten Handbewegung verwandelte Kaèl Bendix’ Waffen in ein prächtiges Geweih.
Zufrieden betrachtete er sein Werk.
Das Tier hatte unheimliche Ähnlichkeit mit Bendix. Auf der Nase des Rehbocks war die Zeichnung seiner Tätowierung als schwarze Blesse. Und typisch Bendix schaffte er es, selbst als Rehbock genervt zu wirken. Unruhig tippelte er mit den Hufen.
»So, ich schicke jetzt deine Illusion in den Wald, direkt auf die Wachen zu. Hoffentlich bekommen sie Angst und ziehen sich ein Stück zurück, dann kannst du aus der Hütte laufen, ich meinte … äh … springen.« Er kicherte.
Bendix scharrte mit den Hufen.
Kaèl hexte die Tür auf und ließ die Illusion herauslaufen.
»So.« Er schulterte Bendix’ Beutel und erneuerte den Unsichtbarkeitszauber. »Ich schaue nach, ob alles so läuft, wie ich es mir erhofft habe. Warte auf mein Handzeichen!« Er ließ die Tür offen stehen und folgte der Illusion über den Bach.
Als er den Wald erreichte, hatten sich die Grauen bereits zurück gezogen. Kaèl konnte es ihnen nicht verdenken, an ihrer Stelle hätte er auch wenig Lust auf einen Kampf mit dem vermeintlichen Hexenjäger gehabt.
Er winkte den Hügel herunter, und Bendix sprang aus der Hütte. Mit ein paar schnellen Sätzen hatte er die Lichtung überquert.
Kaèl lauschte auf eine Reaktion der Grauen, aber nichts passierte. Als Bendix tief im Dickicht verschwunden war, stieß er erleichtert die Luft aus und machte sich auf den Weg.
Als Kaèl am weißen Fels anlangte, erwartete ihn ein prächtiger Rehbock, der ungeduldig mit dem Kopf hin- und herwippte.
Bendix musste es hassen, so viel Magie um sich zu spüren.
Eigentlich eine gute Übung für ihn, dachte Kaèl grinsend.
»Jetzt sind es nur noch ein paar Meter«, sagte er. »Dort hinten warten die Pferde auf uns.« Er bog auf einen kleinen, fast verwachsenen Pfad ein, und Bendix sprang ihm hinterher.
Als er das Gepäck auf dem Rücken von Mira verstaut, und die beiden Pferde losgebunden hatte, verwandelte er Bendix zurück und reichte ihm Tunika und Hose.
»Damit hast du dir aber Zeit gelassen«, sagte Bendix säuerlich. »Ich dachte, du lässt mich in der Gestalt schmoren.«
»Mecker nicht. Für mich wäre das weitaus angenehmer gewesen, dann könntest du nicht so frech sein. Aber das ging leider nicht, ab jetzt musst du reiten.«
Bendix trat näher und strich über den Kopf des braunen Wallachs. »Wie heißt es?«
»Àthavar.«
»Àthavar«, sagte Bendix und kraulte ihm ausgiebig hinter den Ohren. »Du bist ein Guter.«
Verstohlen beobachtete Kaèl, wie er Àthavar über Blesse und Hals strich. Bendix war immer so sanft gewesen, wenn er ihn berührte, als wäre Kaèl etwas Kostbares. Bei allen anderen hätte er so viel Zärtlichkeit albern gefunden, aber bei Bendix hatte er es genossen. Natürlich hatte Bendix auch andere Saiten aufziehen können, wenn sie gespielt hatten, dann hatte er ihn zu Boden gepresst, bis ihm die Luft wegblieb …
Er wandte den Blick ab. »Wir müssen los. Kannst du reiten?«
»Ich hab schon mal auf dem Kaltblüter meines Opis gesessen.«
So etwas in der Art hatte Kaèl befürchtet. »Gut, wir lassen es langsam angehen. Es sind knapp zehn Kilometer, dann wartet die Kutsche auf uns.«
Bendix stieg in den Sattel. Verloren blickte er zu Kaèl.
»Àthavar ist ein braves Pferd«, sagte Kaèl beruhigend. »Du musst nicht viel machen, er wird Mira hinterherlaufen. Nimm die Zügel locker auf und halt dich am Sattelknauf fest.« Er nickte. »Genau so. Und deine Oberschenkel müssen weiter nach hinten.« Er legte eine Hand auf Bendix’ Knie und schob es Richtung Schweif.
Auf einmal wurde ihm bewusst, was er da tat. Streicheln, Händchenhalten oder Kaèls Kopf an Bendix’ Schulter, sie hatten sich immer viel berührt in ihrer Beziehung, und er war in das Muster zurückgefallen.
Rasch zog er die Hand weg. »Das … wollte ich nicht.«
Bendix hob die Brauen.
Hochrot wandte er sich um und schwang sich auf Mira. Er trabte an. »Ab jetzt geht es quer durch den Wald, das ist sicherer. Pass auf tiefhängende Äste auf!«
Nach ein paar Schritten wagte er es, einen Blick über seine Schulter zu werfen. Bendix klammerte sich an Àthavars Sattel, als würde sein Leben davon abhängen. Kaèl musste schmunzeln. »Alles in Ordnung?«
»Es könnte nicht besser sein«, keuchte Bendix, aber seine weit aufgerissenen Augen sprachen eine andere Sprache.
Kaèl lachte, und ein Teil seiner Anspannung wich.
»Lach’ mich nicht aus«, rief Bendix und Kaèl lachte noch lauter. Es fühlte sich fast so an wie früher. Und das nach allem, was passiert war.
Es überraschte Kaèl nicht sonderlich, dass Bendix trotz seiner Unerfahrenheit ein passabler Reiter war. Er war ein Bewegungstalent, und er liebte Tiere.
Dennoch war sein Gesicht schmerzverzerrt, als sie endlich die Kutsche erreichten.
Nach dem Absitzen rieb Bendix sich den Hintern. O-beinig stakste er hinter Kaèl her, die Zügel von Àthavar fest in der Hand. »Ist das immer so unangenehm?«
Kaèl zwinkerte ihm zu. »Es ist schlimmer, wenn du vorher Sex hattest.«
»So genau wollte ich es nicht wissen.« Bendix’ Wangen färbten sich dunkler.
Kaèl kicherte.
Mister Scott lief ihnen entgegen. »Mylord, mein Herr, Sie sind da!« Er nahm ihnen die Pferde ab, belohnte sie und spannte sie mit flinken Bewegungen vor die beiden anderen Pferde.
Kaèl stieg in die Kutsche, und Bendix folgte ihm. Er setzte sich auf den entferntesten Sitz von Kaèl, ganz am Rand und verschränkte die Arme vor der Brust.
Es gab Kaèl einen Stich ins Herz. Früher hatten sie sie sich immer dicht zusammengekuschelt.
»Wie lange muss ich in deinem Strandhaus bleiben?«, fragte Bendix, ohne Kaèl anzusehen. Jegliche Wärme war aus seiner Stimme verschwunden.
Kaèl konnte sich über sich selbst nur wundern. Er hatte sich etwas vorgemacht, weil sie auf ihrer Flucht so gut zusammen funktioniert hatten, aber sie waren kein Paar mehr und das aus guten Grund. Bendix hatte recht, es war besser, sich nicht der Illusion hinzugeben. Ihre Differenzen waren zu groß. »Sobald sich die Aufregung gelegt hat«, sagte er und bemühte sich, geschäftig zu klingen, »kannst du gehen, wohin du willst.« Er legte alle Kälte in die Stimme, die er mit Bendix neben sich aufbringen konnte. »Am besten weit fort von hier. Dann kannst du tun, was du nicht lassen kannst.«
»Hmm«, machte Bendix.
Daraufhin schwiegen sie. Es war ein unangenehmes Schweigen, lang und sehr einsam. Kaèl versuchte, zu dösen, aber er war sich Bendix’ Präsenz zu bewusst, achtete auf jede Bewegung neben sich. Zu allem Überfluss war die Kutsche heiß und stickig, und der Schweiß perlte Kaèl den Rücken hinunter. Er fühlte sich eklig. Vielleicht war es besser, dass Bendix so weit weg von ihm saß.
»Verdammt«, murmelte Bendix irgendwann. »Ich habe vergessen, den beiden Rackern die letzten Nüsse herauszulegen.« Er klemmte die Hände zwischen die Knie und starrte auf seine Füße. Wie ein Häufchen Elend sah er aus.
»Vielleicht … kannst du noch einmal herkommen, wenn sich die Lage entspannt hat«, sagte Kaèl zögerlich.
Zum ersten Mal, seit sie in der Kutsche saßen, tauschten sie einen Blick. Bendix lächelte schief. »Hoffen wir es.«
Auch Kaèl lächelte.
»Wie geht es dir?«, fragte Bendix.
Kaèl versteifte sich. »Warum fragst du das?«
»Als ich gehört habe, was mit Nyòko passiert ist, habe ich mir Sorgen um dich gemacht.«
»Lass uns nicht darüber reden«, bat Kaèl. Sein Hals wurde eng. Wenn er jetzt darüber redete, würde er anfangen zu weinen. Das war das Letzte, was er wollte.
»Manchmal ist es gut, darüber zu reden«, sagte Bendix.
»Vielleicht. Aber nicht jetzt.« Kaèl verschränkte die Arme vor der Brust. »Und nicht mit dir.«
Er schaute aus dem Fenster. Sie waren aus dem Wald heraus und fuhren an vereinzelten Büschen vorbei. Am Horizont glitzerte es verheißungsvoll. Das Meer konnte nicht mehr weit sein.
Endlich, nach minutenlangem Schweigen, tauchte die Silhouette des Strandhauses vor ihnen auf. Majestätisch prangte es auf einer Klippe über dem Strand, umgeben von alten Pinien und einem Orangenhain.
Unter normalen Umständen hätte Kaèl als erstes ein Bad im Meer genommen, er war erhitzt vom Reiten und stank nach Schweiß und Pferd. Aber die Blöße würde er sich vor Bendix nicht geben.
Er sprang aus der Kutsche und lief durch das Tor. Tief atmete er die frische Meeresbrise ein. Sie roch nach Salz und Pinien und ein wenig nach Orangen. Nirgends war es so schön wie hier.
Es war bittere Ironie, aber er hatte sich das ganze Frühjahr über ausgemalt, hier im Sommer mit Bendix ein paar Tage zu verbringen. Gemeinsam zu baden und den Luxus zu genießen, der in Bendix’ Hütte fehlte. Jetzt war Hochsommer, sie waren hier und es war doch alles anders.
Bendix folgte ihm, den Jutesack in der Hand. Er pfiff durch die Zähne. »Ich hätte mir denken müssen, dass es mehr ist, als nur ein Haus. Das ist ein Schloss!«
»Ach was, es hat nur acht Zimmer. Unten ist die Küche mit dem Speisesaal, der Salon, die Terrasse mit Strandblick und die Bibliothek, und oben sind die Gasträume sowie zwei weitere Bibliotheken. Such dir einfach eines der Zimmer aus. Fürs erste sollte genug Essen vorhanden sein, und Mister Scott wird regelmäßig welches nachliefern.«
Bendix nickte geplättet. »Und … wie lange muss ich hierbleiben?«
›Muss ich hierbleiben‹, dachte Kaèl bitter. Als wäre es eine Strafe.
»Vielleicht ein paar Wochen, bis ich eine bessere Lösung gefunden habe. Du kannst am Strand baden, oder im Garten trainieren, dort hat niemand Unbefugtes Zutritt. Du solltest dich nur nicht zu weit vom Haus entfernen.«
»Kaèl.« Die Hände in die Hosentaschen versenkt trat Bendix vor ihn. »Danke für alles, was du heute getan hast. Ich verdanke dir mein Leben.«
»Ach was«, Kaèl versuchte, zu lächeln. »Du hättest das auch getan.« Er rieb sich unwohl die Hände, Bendix war viel zu förmlich für seinen Geschmack, es fehlte nur noch, dass er ihm zum Dank die schwitzige Hand schüttelte. Es fühlte sich fremd an.
»Ich werde heimfahren«, sagte er, um dem Trauerspiel ein Ende zu bereiten. »Morgen früh bringt Mister Scott dir ein paar Kleidungsstücke und weitere Vorräte.« Er nickte Bendix zum Abschied zu und wandte sich um.
Kaèl folgte dem gewundenen Weg, der ihn quer durch den Orangenhain führte. Seine Füße schlurften über die roten Ziegel. Er war so müde. Alles in ihm sehnte sich danach, in die weichen Polster der Kutsche zu sinken, die Gardine vorzuziehen und endlich seinen Emotionen freien Lauf zu lassen.
Als er die Kutsche erreichte, seufzte er erleichtert auf. Er hatte Bendix abgesetzt und dabei seine Würde bewahrt. Er war weder in Tränen ausgebrochen noch hatte er seine Moral über den Haufen geworfen. Und ab jetzt würde er Bendix nicht mehr sehen.
Er würde sich in die Kutsche setzen und dorthin fahren, wo einmal sein Zuhause gewesen war. Nur, dass kein Mister Taryòn mehr auf ihn wartete, nur eine entfesselte Akàri und sein labiler Vater.
Es war kein Zuhause mehr.
»Kaèl, warte«, hörte er Bendix dicht hinter sich sagen.
Kaèl benötigte einen Atemzug, bis er seinen Gesichtsausdruck wieder unter Kontrolle gebracht hatte, dann drehte er sich um. »Was ist?«, sagte er schärfer als beabsichtigt.
Bendix streckte ihm das Stoffeichhörnchen entgegen. »Nimm Nuri mit. Du brauchst sie mehr als ich.«
»Nuri?«, fragte Kaèl. Er schaute von Bendix zu den schwarzen Knopfaugen, aber auf einmal verschwamm alles vor seinem Blick. »Du … willst sie nicht mehr?«, fragte er mit belegter Stimme. Die ganzen letzten Wochen hatte er nicht weinen können und jetzt, wegen so einer Lappalie, verlor er die Fassung. Er setzte sich auf das Trittbrett der Kutsche und schob die Hände zwischen die Knie. Den Blick heftete er starr nach unten. »Ich … hatte sie für dich gemacht.«
»Kaèl«, sagte Bendix leise. »Ich will Nuri nicht weggeben, das würde ich niemals tun. Ich will sie dir nur ausleihen. Weil du so traurig bist.«
»Das ist nicht nötig«, presste Kaèl zwischen den Zähnen hervor. Seine Unterlippe zitterte heftig. Wieso musste Bendix ihn so sehen? »Ich … komme … allein klar«, sagte er, während ihm die Tränen die Wangen herunterliefen.
»Ich weiß.« Mit einem Seufzer setzte Bendix sich neben ihn. »Du bist die mutigste und stärkste Person, die ich kenne. Natürlich kommst du allein klar.«
»Ich bin nicht stark«, flüsterte Kaèl. »Ich habe Angst heimzufahren. Ich schaffe das nicht.«
»Ach Kaèl. Du musst doch auch nicht alles schaffen.« Bendix’ Stimme wurde sanft. »Was ist denn los bei euch?«
Kaèl zuckte mit den Schultern. »Mister Taryòn musste gehen.«
»Oh«, war alles, was Bendix dazu einfiel. Er schlang die Arme um die Knie und linste hilflos zu Kaèl.
»Ja, ›oh‹«, sagte Kaèl bitter. Jetzt gab es kein Halten mehr, alles musste raus. »Wenn Nyòko wüsste, was los ist, seit sie …« Er sog scharf die Luft ein. »Alles zerbricht, weil meine Mutter ihre Unzufriedenheit und ihre merkwürdigen Ängste auf die Menschen projiziert.«
»Proji– was?«, fragte Bendix, aber Kaèl redete einfach weiter: »Ich hasse es, aber ich kann nichts tun, Mutter hört nicht auf mich, nicht mehr. Ach was, wahrscheinlich hat sie nie auf mich gehört. Wie naiv ich war, zu glauben, ich könnte etwas ändern!« Er schluchzte. »Und ich … muss immer daran denken, wie fröhlich Nyòko war. Sie … war so jung und hatte so viele Pläne. Wir haben kurz bevor es geschehen ist noch gesprochen, und sie wollte mich besuchen, weil ich …«, er warf Bendix einen flüchtigen Blick zu, »so traurig war … und dann wurde sie ermordet. Völlig grundlos, einfach, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort war. Ich … begreife das nicht. Ich verstehe nicht, wie so etwas passieren kann.« Er rieb sich mit dem Ärmel die Augen. »Ich … sollte dir das nicht erzählen, ich …«
»Unsinn«, unterbrach ihn Bendix. »Du musst es rauslassen, es ist wichtig, zu trauern.« Er senkte die Stimme. »Darf ich dich in den Arm nehmen?«
»Nein«, sagte Kaèl reflexartig. Wenn er Bendix so nah an sich heranließ, würde er sich nie mehr von ihm lösen können.
Aber mit Bendix neben sich allein zu weinen, fühlte sich auch falsch an. »Vielleicht doch«, sagte er kleinlaut. »Ein bisschen.«
»Dann komm«, bat Bendix und streckte seinen Arm aus. »Ich weiß, wie sich das anfühlt, jemanden zu verlieren.« Er schlang den Arm um Kaèls Schultern. »Ich weiß es.«
Kaèl ließ es zu. Nach einer Weile rückte er sogar näher an Bendix heran. Vielleicht war es falsch, seine Vorsätze über Bord zu werfen, aber alles andere wäre ebenso falsch gewesen. Mit beiden Händen krallte er sich in Bendix’ Tunika und vergrub das Gesicht an seiner Brust. Bendix roch vertraut … nach Bendix und ein bisschen nach Pferd … er hatte es so vermisst. Er hatte das alles schrecklich vermisst.
»Shh«, machte Bendix. Er wiegte ihn in seinen Armen.
Kaèl schloss die Augen und konzentrierte sich auf Bendix’ Körper, seinen Duft, seinen steten Herzschlag. Ein warmes Gefühl breitete sich in seiner Brust aus, als kehrte er heim. Und endlich, nach all den Wochen, konnte er sich fallen lassen. »Ich bin so müde«, murmelte er.
Kaèl wusste nicht genau, wie lange sie so saßen. Irgendwann schmerzte sein Steiß von dem harten Metall unter ihm. Aber es durfte nicht enden, am Ende mussten sie eine Wahl treffen, und sie würden sich falsch entscheiden. Also zog er sich einfach enger an Bendix heran und ignorierte den Schmerz.
»Willst du heute hierbleiben?«, fragte Bendix.
Kaèl nickte zögerlich. »Aber nur heute«, fügte er an. »Und wir schlafen nicht in einem Bett.«
»Natürlich nicht«, sagte Bendix hastig. »Das war nie meine Absicht.« Vorsichtig löste er die Umarmung. »Ich spreche mit deinem Kutscher, dass er dich morgen holen soll, und dann gehen wir ins Haus.«
Wieder nickte Kaèl. Er klammerte sich an Nuri fest und lauschte auf die leisen Stimmen von Bendix und Mister Scott. Er ärgerte sich über sich selbst. Wieso hatte er das mit dem Bett gesagt? Er wollte nicht allein schlafen. Sein verdammter Stolz war schneller gewesen als er. Aber vielleicht war es besser so, Bendix schien ja mit seinem Stolz einer Meinung zu sein.
Bendix kehrte zurück und streckte ihm beide Hände entgegen. »Komm, ich bringe dich rein.«
»Ich kann das allein«, antwortete Kaèls Stolz.
»Ich weiß. Aber es ist doch auch mal schön, schwach sein zu dürfen.«
Bendix verpflanzte ihn auf das Sofa im Salon. Er stopfte ihm zwei Kissen in den Rücken und drückte ihm Nuri in die Arme. »Du bist viel zu dünn«, sagte er streng. »Du musst mehr essen, auch wenn es dir schlecht geht.«
»Hmm«, machte Kaèl abwesend.
»Ich werde uns jetzt was kochen. Und dann reden wir.«
»Ich habe keinen Hun–«, wollte Kaèl protestieren, aber Bendix war bereits in der Küche verschwunden. Ergeben schloss Kaèl die Augen und lauschte dem rhythmischen Geklapper, das aus dem Nebenzimmer drang.
Er musste wohl kurz eingenickt sein. Als er die Augen wieder öffnete, war die Luft erfüllt von einem angenehm süßlichen Duft und auf dem Tischchen vor ihm standen zwei dampfende Schüsseln.
Vielleicht habe ich doch ein wenig Hunger, dachte er, als ihm bewusst wurde, wie sein Magen knurrte.
»Rückst du ein Stück?«, fragte Bendix.
Kaèl rückte zur Seite, und Bendix reichte ihm seine Schüssel. Die andere Schüssel in der Hand setzte er sich daneben, so dass ein wenig Abstand zwischen ihnen blieb.
»Was ist das?«, fragte Kaèl und beäugte die hellbraune Pampe.
»Haferbrei mit geriebenem Apfel. Das hat meine Omi immer gekocht, wenn es mir schlecht ging.« Bendix lachte. »Also, als wir noch genug zu Essen hatten.«
»Das schmeckt gut«, sagte Kaèl. »Nach Zimt.«
»Natürlich schmeckt das gut. Ich bin ein guter Koch. Hast du das schon vergessen?«
Kaèl gluckste leise. »Wie könnte ich?«
»Jetzt erzähl mir, wie geht es dir wirklich? Wie waren deine letzten Wochen?«
Kaèl wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte die letzten Wochen mehr funktioniert als gefühlt und die Zeit erschien ihm unscharf, wie hinter grauem Nebel. Also stopfte er sich einen großen Löffel Haferbrei in den Mund und kaute. Es war warm und tröstend.
Bendix betrachtete ihn schweigend, lang genug, dass es unbehaglich wurde, dann seufzte er leise. »Es ist schwer, über so was zu reden, oder?«
Kaèl nickte kauend.
»Ich habe es damals von Kasi gehört. Ich weiß, ich war wütend, weil du sie heiraten wolltest, aber ich habe sie wirklich gemocht. Es ist schrecklich und falsch, dass es passiert ist.« Er rang die Hände. »Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was ich sagen soll.«
»Ich glaube, wir sind alle überfordert«, sagte Kaèl und dachte an Nyòkos Familie. Und auf einmal erzählte er. Er erzählte davon, wie ihn die Nachricht von Nyòkos Tod von den Füßen gerissen hatte. Erzählte von der Beerdigung und wie zerrissen Nyòkos Familie war. Von Hiròki und wie er geweint hatte. Am Ende erzählte er von der Zeremonie und dem goldenen Licht.
»Das war eine gute Sache, dass du dich für Hiròki eingesetzt hast«, kommentierte Bendix. »Nicht auszudenken, wenn er die Beerdigung verpasst hätte.«
»Ja, nicht auszudenken.« Kaèl seufzte. »Meine Eltern waren da anderer Ansicht. Ich musste mir wochenlang anhören, dass ich unsere Ehre beschmutzt habe, weil ich auf meine traditionelle Rolle auf der Beerdigung verzichtet habe. Ich hätte der Letzte sein müssen, der Nyòkos Seelengefäß in den Händen hält. Vielleicht … lässt Mutter deshalb nicht mehr mit sich reden.«
Er stellte die leere Schüssel zurück auf das Tischchen. »Das hat gut getan.«
Bendix lächelte, aber schnell wurde seine Miene wieder ernst. »Denkst du, deine Mutter ahnt, dass Hiròki und Nyòko ein Paar waren?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe ihr gesagt, Hiròki sei ein Kindheitsfreund von Nyòko und …«, er verschraubte seine Hände ineinander, »sie sieht ja auch, wie sehr mich das alles mitnimmt. Ich denke, sie glaubt mir, dass ich Nyòko heiraten wollte. Ich habe sie ja auch geliebt, auf eine Weise.«
Bendix nickte. »Ich weiß, du glaubst nicht daran, aber ich habe sie in meine Gebete eingeschlossen.«
»Ach weißt du«, Kaèl lächelte traurig, »seit der Zeremonie weiß ich selbst nicht mehr, was ich glaube. Es ist auf jedenfalls gut, wenn an sie gedacht wird.« Tränen stiegen ihm in die Augen, und er schniefte laut. »Entschuldige«, sagte er und wischte sich übers Gesicht.
»Du musst dich nicht dafür entschuldigen, dass du traurig bist.«
»Ich weiß nicht. Manchmal wünschte ich, es wäre wie früher, und ich würde nicht so viel fühlen.«
»Wünsch dir das nicht. Als das Kloster überfallen wurde, konnte ich nicht weinen. Ich dachte damals, ich müsste hart sein, wie das Kloster es mich gelehrt hat. Aber es war falsch.«
»Du hast nicht geweint?«
»Erst Jahre später, als du das erste Mal bei mir warst, und ich dir davon erzählt habe. Die ganze Zeit davor … habe ich kaum etwas mitbekommen. Ich habe getötet, und es hat mir nichts ausgemacht. Ich hatte mich verloren. Erst seit kurzem«, er warf Kaèl einen scheuen Blick zu, »fühle ich wieder. Es ist nicht einfach, denn jetzt sind da alle Gefühle, auch die unangenehmen, die Trauer und die Reue. Aber es ist besser so, denn jetzt lebe ich wieder.«
»Das hast du mir nie erzählt«, sagte Kaèl.
»Vielleicht hätte ich das tun sollen«, sagte Bendix. »Vielleicht hätte ich dich dann nicht verloren.«
Kaèl wollte etwas einwenden, aber ein Blick in Bendix’ Gesicht ließ ihn verstummen. Es war schwierig, die richtigen Worte zu finden.
Er rückte näher an Bendix heran und nahm seine Hand. »Du hast recht gehabt«, setzte er wieder an, den Blick fest auf ihre verschränkten Finger gerichtet. »Ich habe es mir einfach gemacht, mir eingeredet, es habe schon seine Ordnung, was Mutter und Myriam tun. Ich habe immer dann weggesehen, wenn es unangenehm wurde.« Er seufzte. »Aber das ist mir erst klar geworden, als Mutter damit drohte, die Dörfer anzuzünden. Da konnte ich mir nichts mehr schönreden.«
»Die meisten hätten es an deiner Stelle ähnlich gemacht«, sagte Bendix leise. »Es ist so viel bequemer, die Dinge so zu lassen, wie sie sind, wenn es einem gut geht.«
Kaèl seufzte. »Das klingt furchtbar. Ich schäme mich.«
Sie schwiegen eine Weile. Kaèl hielt den Kopf gesenkt, er konzentrierte sich auf ihre verschränkten Finger.
»Du hattest in einer Sache recht«, sagte Bendix. Sein rauer Tonfall ließ Kaèl aufblicken. »Ich hätte die Wachen nicht töten müssen. Ich hätte sie einfach nur bewusstlos schlagen können, aber ich habe es dennoch getan. Es war falsch, sie konnten nichts dafür.« Er vergrub den Kopf in den Händen. Seine Schultern bebten. »Aber als Kasi mir gesagt hat, dass sie Mara eingesperrt haben, habe ich den Kopf verloren. Es war wieder so wie damals. Damals hätte ich auch mehr tun können, aber ich war vor Angst erstarrt … Er ist nur wegen mir gestorben.«
»Wer?«, fragte Kaèl, aber dann fielen ihm Bendix’ schlechte Träume ein. »Thomas?«
Bendix zuckte zusammen. »Woher weißt du das?«
»Du redest im Schlaf.« Er warf Bendix einen kurzen Blick zu. »Warst du … in ihn verliebt?«
Bendix nickte zögerlich. »Er war einer meiner Brüder im Kloster. Ein Jahr älter als ich.« Er lächelte, obwohl seine unteren Lidränder wässrig glitzerten. »Das mit uns war natürlich geheim, die älteren Mönche hätten uns verprügelt, wenn sie davon erfahren hätten. Wir haben uns immer gefreut, wenn wir kleinere Besorgungen im Dorf erledigen sollten, weil wir auf dem Weg ungestört waren.« Er lachte verschämt. »Wir haben uns dann immer in einem Tannenwäldchen versteckt und geküsst.«
Kaèl hatte angenommen, dass er der erste Mann in Bendix’ Leben gewesen war. Kurz fühlte er Eifersucht in sich aufblitzen, aber es war albern und egoistisch, so zu denken. Thomas war lange tot.
»An dem Tag, an dem es passierte, sollte ich wie so oft im Dorf Spenden sammeln. Eigentlich nahm ich dafür immer Thomas mit, aber an dem Morgen hatten wir uns gestritten. Ich weiß nicht mal mehr, warum.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn nicht dabei haben will.«
Kaèl beugte sich zu ihm. »Hast du deshalb die Schuldgefühle?«
»Nicht ganz.« Bendix atmete schwer. »Es war bereits spät am Abend, als ich die letzten Stufen zum Kloster hochstieg. Es war merkwürdig, normalerweise wurden bei Anbruch der Dunkelheit immer die grünen Lampen neben der Treppe angezündet, aber an dem Tag war alles finster, und ich musste aufpassen, nicht zu stolpern. Als ich durch das Haupttor schritt, roch ich es. Eine Mischung aus Rauch und Metall und etwas Süßlichem, aber alles war dunkel, ich konnte nichts sehen. Aber auf einmal hörte ich Schreie, sie kamen aus der großen Halle, in der wir sonst meditiert haben. Ich ließ den Korb fallen und rannte hinein. Meine Brüder lagen am Boden, überall war Blut und Rauch. Und da waren diese Magi, sie feierten und lachten. Sie waren wie im Rausch, haben die Verletzten bespuckt, bepinkelt, und … ach, ich will das nicht erzählen. Mir wurde schlecht vor Angst, ich versteckte mich hinter dem schweren Wandteppich und wartete, bis es endlich vorbei war. Thomas lag nur wenige Meter vor mir blutüberströmt auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten. Aber er bewegte sich noch ganz schwach. Ich konnte den Blick nicht von ihm lösen. Wie seine Rippen sich hoben und senkten. Ich betete, dass sie ihn nicht bemerkten, dass er immer weiter atmete.«
Er rieb sich die Augen. »Aber meine Gebete wurden nicht erhört. Sie fanden ihn. Die Bilder verfolgen mich immer noch, wenn ich träume, sobald ich Zeit habe, darüber nachzudenken. Deshalb halte ich mich immer beschäftigt.«
Er schlug die Hände vor die Augen. »Ich wünschte, ich hätte damals schon so kämpfen können, wie heute. Dann hätte bestimmt den Mut gehabt, aus meinem Versteck zu treten und ihn rauszutragen. Vielleicht wären wir entkommen. Ich wünschte, ich wäre nicht so ein Feigling gewesen.«
»Ach Bendix.« Kaèl breitete seine Arme aus, und Bendix rückte zu ihm. »Du bist alles, nur kein Feigling. Was hättest du denn tun sollen? Es ist allein ihre Schuld!«
Sie klammerten sich aneinander wie zwei Ertrinkende. Bendix weinte leise, und Kaèl streichelte seinen Rücken, bis Bendix’ Schluchzer irgendwann weniger wurden.
»Ich wünschte, wir könnten noch einmal neu anfangen«, sagte Bendix.
»Nein«, erwiderte Kaèl. Er nahm Bendix’ Hand. »Ich fand unseren Anfang schön. Ich wünschte nur, einige Dinge wären nicht passiert.«
»Ich fand unseren Anfang auch schön.« Bendix verschränkte ihre Finger. »Ich wünschte nur, es wäre nicht alles –«
»Shhh«, sagte Kaèl. Er erhob sich und zog Bendix mit sich. »Komm, wir gehen ins Bett.«
Bendix schaute auf. »Zusammen?«
»Zusammen. Ich hasse es, ohne dich einschlafen zu müssen.«
Erleichtert stieß Bendix die Luft aus. »Ich auch.«
»Das war ein verrückter Tag«, sagte Bendix, als sie sich nach einer Katzenwäsche im Bett eingelöffelt hatten. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich vor wenigen Stunden ein Reh war.«
Kaèl kicherte. »Du warst ein überaus hübsches Reh.«
Bendix schnaubte amüsiert. »Aber jetzt im Ernst. Es ist wie ein Traum, dass wir jetzt hier sind. Heute Morgen, als die Kasper vor der Hütte auftauchten, hätte ich mit allem gerechnet, aber nicht, dass du auf einmal vor meiner Tür stehst.«
»Ich liebe dich zu sehr, um dich in so einer Situation allein zu lassen. Egal, ob wir uns zerstritten haben.«
Bendix küsste ihn in den Nacken und jagte ihm damit einen wohligen Schauer über den Rücken. Genüsslich schloss Kaèl die Augen, bis das Gefühl abebbte.
Er drehte sich um und schaute Bendix ins Gesicht. »Was deinen Einbruch angeht … du hast mir danach zu verstehen gegeben, dass du mich für ein ›verwöhntes, ignorantes Prinzchen‹ hältst.« Kaèl versuchte, seinen Gesichtsausdruck neutral zu halten, obwohl die Erinnerung daran noch immer an seinem Stolz nagte. Aber er wollte nicht riskieren, Bendix zu verschrecken. Nicht jetzt, wo alles so roh und verletzlich war. »Eventuell hast du nicht ganz Unrecht gehabt. Aber ich lerne dazu und versuche, die Probleme wahrzunehmen. Vielleicht …«, er zögerte, »… bin ich irgendwann dein Vertrauen wert, und du kannst mir solche Dinge wie das mit der Spionin erzählen. Dann könnten wir gemeinsam eine Lösung finden, ohne dass Unschuldige dabei sterben.«
Bendix schwieg.
»Oder auch nicht«, sagte Kaèl schnell. »Du musst mir nicht alles sagen, auch wenn mir das natürlich lieber wäre. Es ist allein deine Entscheidung.«
»Gut«, sagte Magina, mit hörbarer Erleichterung in der Stimme. »Denn ich muss die anderen schützen. Aber ab jetzt werde ich mit dir über all das reden, was mir möglich ist, auch wenn es weh tut. Ich …«, Er stockte, und seine Hand schloss sich fester um Kaèls Arm, »wollte dir das mit Thomas viel früher erzählen, aber da war immer die Angst, dass du mich dann weniger liebst, wenn du weißt, was für ein schlechter Freund ich war.«
»So ein Unsinn«, murmelte Kaèl. »Wenn du damals anders gehandelt hättest, wärst du längst tot.«
Daraufhin schwiegen sie. Kaèls Augen fielen zu.
»Wieso hast du mir nichts von deinen Hochzeitsplänen erzählt?«, fragte Bendix unvermittelt.
»Weil ich dachte …« Kaèl holte tief Luft. »Weil ich auch Angst hatte«, gab er schließlich zu. »Dass du das nicht verstehst. Ich wusste aus meinen Menschenbüchern, dass ihr anders über so etwas denkt.«
»Deine Menschenbücher haben nicht immer recht.« Bendix lächelte. »So viel Angst.«
»Ja, irgendwie ganz schön armselig von uns.«
»Ach was, Hauptsache wir lernen draus. Die klügste Person, die ich kenne, meinte einmal: ›Man irrt sich der Wahrheit entgegen‹. Das trifft es doch ganz gut.«
»Definitiv. Wer hat das gesagt? Einer deiner Mönche?«
Bendix lachte leise. »Du.«
»Ich bin die klügste Person, die du kennst?«
Bendix stöhnte theatralisch. »Lass dir das bloß nicht zu Kopf steigen.«
»Zu spät.« Kaèl lachte zufrieden. »Aber eigentlich hätte mir das klar sein sollen, schließlich bin ich –«
»Gute Nacht!«, rief Bendix resolut. Er wandte Kaèl den Rücken zu, zog sich das Laken über den Kopf und stellte sich schlafend.
Immer noch breit grinsend umschlung Kaèl ihn von hinten. »Gute Nacht«, hauchte er in Bendix’ Ohr und löschte den Lichtzauber.