Vier Jahre später ...
Liebe Mutter,
(Akàri hatte ihm damals verboten, sie so zu nennen, aber Kaèl hatte seine letzten drei Briefe so begonnen, und er würde es weiterhin tun. Jede andere Anrede fühlte sich falsch an.)
Es war überaus zuvorkommend von Dir, dass Du auch dieses Jahr davon Abstand genommen hast, Dich nach Bendix’ und meinem Befinden zu erkundigen. Ich bin unfassbar eingespannt und hätte nicht die Muße für eine rasche Antwort gehabt. Du weißt ja, wie es ist: Die Leute lassen einen nicht in Ruhe! Seit ich meinen Golem-Zauber entwickelt habe, hat mir jede Akademie des Landes ein Angebot gemacht. Aus purem Pflichtgefühl habe ich kürzlich zugesagt, um die lokale Forschung zu unterstützen. Schließlich bin ich der einzige Erzmagi Aomòris und habe eine gewisse Verantwortung, die Bildungsideale hier hochzuhalten.
Aber sei unbesorgt, – Er grinste fast bei der Formulierung – mir und Bendix geht es gut. Ausgezeichnet sogar.
Neben meiner Tätigkeit als Sekretär des Landes halte ich jetzt eine Vorlesungsreihe an der Muirgheal–Akademie. Es ist eine dreijährige Veranstaltung über die Prinzipien der Transformationsmagie, und sie schlägt einen Bogen von der simplen Elementarlehre zu den höheren Praktiken der Gestaltwandlung.
Meine neue ›Zusatzbeschäftigung‹ sagt mir mehr zu, als ich anfangs dachte. Die Dekanin hat zwar den Enthusiasmus eines gefrorenen Kabeljaus, aber sie respektiert meine akademischen Meriten und lässt mich frei walten. Langsam aber sicher werde ich die verstaubten Reglements der Akademie verändern und neue Methoden einführen!
Die Studierenden sind aufgeweckt und es bereitet mir Freude, zwei Abende der Woche mit ihnen in den Dialog zu treten, auch wenn Bendix es bedauert, dass wir dann nicht zusammen beim Abendessen auf der Veranda sitzen und dem Vogelgesang lauschen können. Ich bedaure es auch, denn es gibt nichts Köstlicheres als Bendix’ selbstgekochtes Essen.
Apropos Bendix. Letztes Jahr hat er sich seinen Traum erfüllt, und ein Dojo – eine Kampfkunstschule – eröffnet. Es liegt am Rande von Tukàta, dort, wo die Berge anfangen und kaum noch Häuser stehen. Mit seinen dunkelroten Holzbalken und schiefergedeckten Pagoden erinnert es an einen Turstakuri-Tempel, also ganz nach Bendix’ Geschmack. Jetzt muss er endlich nicht mehr allein trainieren und gleichzeitig verhilft er vielen Leuten zu einem besseren Selbstbewusstsein. Du kannst es Dir wahrscheinlich nicht vorstellen, aber für die Menschen hier ist es nicht einfach, unter Magiebegabten zu wandeln. Im Dojo können sie sich auf ihre eigenen Stärken fokussieren.
Das Dojo steht für alle offen, egal ob Magi oder Mensch, aber bislang haben sich (aus Gründen, die Du Dir sicher denken kannst) nur Menschen dorthin getraut. Sehr zum Nachteil der Magi, da Bendix Meditationstechniken entwickelt hat, von denen auch sie profitieren könnten. Ich habe sie getestet und für gut befunden, und das soll etwas hei–
»Zum Drachen!«, fluchte Kaèl. Ihm war das Tintenfass umgekippt und ein handtellergroßer Fleck hatte sich über das Papier verteilt. Er hexte die Farbpartikel fort, löschte dabei aber aus Versehen den letzten Absatz, den er geschrieben hatte.
Er grummelte frustriert. Auf einmal hatte er schlechte Laune.
Dabei war sein Tag so gut gewesen. Die letzte Landbesitzerin hatte heute, nach mehrmonatiger Überzeugungsarbeit, zugestimmt, Eisenbahnschienen durch ihren Acker legen zu lassen. Zur Feier des Tages hatten Yùna und er mit prickelndem Wein angestoßen, und er war beschwingt und etwas angeheitert nach Hause spaziert.
Jetzt hatte er von ebendiesem Wein Kopfweh.
Kaèl massierte sich die Nasenwurzel. Vielleicht sollte er das mit dem Brief morgen fortsetzen – oder nie.
In den letzten vier Jahren hatte seine Mutter nicht einen seiner Briefe beantwortet. Wahrscheinlich las sie sie nicht einmal.
Die Haustür quietschte und wurde ins Schloss geworfen. Bendix. Endlich war er zu Hause!
Seinem beschwingten Schritt nach zu urteilen, war er bester Laune. »Kaèl?«, rief er schon im Flur.
»Im Arbeitszimmer«, sagte Kaèl.
Bendix’ Schritte kamen näher. Im Türrahmen verharrte er. »Stör’ ich?«
Kaèl fuhr sich durchs Haar. »Hauptsächlich störe ich mich selbst.«
»Oh«, war alles, was Bendix dazu einfiel. »Du Ärmster, musst du noch arbeiten?«
Kaèl nickte finster.
»Vielleicht heitert dich das hier ja auf!« Bendix kramte in seinem Rucksack herum. »Ich war heute im Dorf bei den Kindern und Bertram, der kleine Bruder von Anna, hat dir was in der Schule gebastelt. Wo ist es denn nur?«
Kaèl legte den Füller beiseite. »Ach, du warst im Dorf? Wie geht es Margret?«
»Ihr geht es gut genug, dass sie dir – wie hat sie es ausgedrückt – ›die Hammelbeine langzieht‹«, Bendix lachte leise, »wenn du nächstes Mal nicht mitkommst. Ah, da ist er ja!« Er holte einen weißen Gegenstand heraus, fummelte daran herum, bis er sich zu einer Papierkugel auffaltete. »Hier!«
Kaèl runzelte die Stirn. »Ein Lampion?«
»Ja. Ist der nicht schön?« Bendix strahlte.
Kaèl nahm den Lampion entgegen. Es waren Kritzeleien drauf, die er nicht deuten konnte. »Schön …?«, wiederholte er.
»Schau hier«, Bendix zeigte auf einen großen roten Fleck. »Das ist ein Eichhörnchen, und hier«, er wies auf ein paar kleinere hellgrüne Spritzer, »das sind Glühwürmchen. Ich hab ihm letztes Mal erzählt, dass die dein Wappentier sind. Niedlich, oder?«
»Ähm.« Kaèl rang sich zu einem Lächeln durch. »Ja … niedlich.«
»Ich hänge ihn in die Küche, zu den anderen Kunstwerken!«
›Kunstwerke‹, dachte Kaèl ironisch.
Aber dann musste er doch lächeln. Ihre gesamte Küchenwand war voller Bilder und Bastelarbeiten von Bendix’ Kindern. Einige davon waren Geschenke für Kaèl, weil Bendix bei seinen Besuchen nicht müde wurde, ihnen zu erzählen, dass sie nur dank Kaèl in schönen Steinhäusern wohnen und zur Schule gehen konnten.
Nein, Kaèl mochte keine Kinder. Aber irgendetwas machte es doch mit ihm, wenn sie ihn so mit ihrer Liebe überhäuften … Vielleicht sollte er auf Margret hören und Bendix bei seinem nächsten Besuch begleiten.
Er trat in den Flur und spähte durch die halbangelehnte Küchentür. Bendix hatte den Lampion mit einem Nagel an die Wand gehängt. Er blickte etwas verloren auf die Kerze in seiner Hand.
»Soll ich einen permanenten Lichtzauber hineinhexen?«, fragte Kaèl.
Bendix nickte, und Kaèl ließ den Lampion in warmem Licht erstrahlen. Das kritzel-Eichhörnchen und die Glühwürmchen-Flecken warfen tanzende Schatten an die Wand.
»Danke«, sagte Bendix. »Das sieht doch gleich viel heimeliger aus.«
»Definitiv«, sagte Kaèl. »Sehr heimelig.«
Zufrieden kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück. Er tunkte den Füller in das Tintenfass. Wo war er stehengeblieben?
Lady Midòri und mir wurde dieses Jahr eine äußerst interessante Technologie präsentiert: Eine sogenannte ›Eisenbahn‹. Das ist die neuste Errungenschaft der Menschenwelt, ein schnelles, günstiges Beförderungsmittel für Güter und Personen, bei dem die Wagen auf Schienen fahren. In Aomòri leben und arbeiten Ingenieur*innen der renommiertesten Menschenakademien, und wir wollen mit ihrer Hilfe eine Teststrecke vom wichtigsten Hafen des Landes bis Tukàta bauen zu lassen. Sollte dieser Versuch gelingen, dann weiten wir das Projekt aus und errichten eine Verbindung zwischen den drei größten Städten Aomòris. Dadurch wären auch kleinere Ortschaften angebunden, was die Landflucht reduziert.
Es ist bedauerlich, dass Euch in Fukuòka qualifizierte Leute fehlen, die Euch an dieser neuartigen Entwicklung teilhaben lassen könnten.
›Qualifizierte Menschen, die DU aus Fukuòka fortgejagt hast‹, hätte er am liebsten hinzugefügt, aber Kaèl verkniff sich die Bemerkung. Seine Mutter würde den Hinweis auch so verstehen. Zumindest, sofern sie den Brief überhaupt –
»Hast du schon was gegessen?«, riss Bendix ihn aus seiner Konzentration. Er hielt ihm einen roten Apfel hin. »Der erste Apfel aus unserem Garten. Willst du ihn?«
»Nein.« Kaèl deutete auf den Brief. »Ich muss das fertigstellen.«
»Dann esse ich ihn.« Knirschend biss Bendix in den Apfel. Ein wenig Apfelsaft lief ihm aus dem Mundwinkel und benetzte seine Unterlippe. Sie glänzte.
Kaèl starrte darauf. Jetzt war er doch ein bisschen neidisch. Um sich davon abzulenken, suchte er ein neues Blatt heraus und legte es vor sich. Warum waren Bendix’ Lippen immer so voll und rosig? Und glänzend … Aber würde definitiv nicht darüber nachdenken, wie es wäre, sie zu küssen, er hatte andere Dinge zu tun.
»Warum arbeitest du eigentlich noch?«, fragte Bendix. »Es ist doch spät.«
»Hm«, machte Kaèl. Der Apfelduft lenkte ihn ab.
Bendix schien auf eine Antwort zu warten, er blickte suchend auf dem Pult umher. Seine Augen weiteten sich. »Oh, ist heute Dracheneifest?«
Verwirrt folgte Kaèl seinem Blick, zu den zerknüllten Papieren um ihn herum. »Wie kommst du darauf?«
»Du hast vorgeschrieben. Das machst du nur, wenn du deiner Mutter schreibst, und das tust du immer nur zum Dracheneifest.«
Kaèl seufzte. »Bin ich so offensichtlich?«
»Nicht offensichtlich.« Bendix lächelte. »Ich kenne dich einfach nur gut.« Er biss in den Apfel und kaute bedächtig. Diesmal lief kein Saft über seine Lippe, sehr zu Kaèls Bedauern. »Kann ich den Brief mal sehen?«
Kaèl zuckte mit den Schultern. »Wenn du magst. Er ist aber noch nicht fertig.«
Bendix angelte sich den Brief und überflog die Zeilen. Seine Stirn legte sich in Falten. »Das willst du ihr schicken?«
»Warum nicht? Was findest du daran schlecht?«
»Nichts ist ›schlecht‹, es ist nur –«, Bendix machte eine hilflose Geste, »ach, ich kann es nicht in Worte fassen. Es wirkt so … als wolltest du deine Mutter beeindrucken, indem du auflistest, wie toll hier alles ist.«
»Aber das ist es doch«, sagte Kaèl. »Also toll. Ich bin gern hier mit dir und alles, was ich geschrieben habe, entspricht der Wahrheit.«
»Ja, aber du zählst es nur auf, da steht nichts über deine Gefühle.«
Kaèl riss Bendix den Zettel aus der Hand. »Das ist die hotàru’sche Art zu kommunizieren«, sagte er säuerlich. »Wir kennen keine Gefühle. Zumindest offiziell nicht.«
Bendix nickte, aber in seinem Blick stand etwas, das hoffentlich kein Mitleid war. Kaèl brauchte kein Mitleid. »Ich weiß, du willst es deiner Mutter recht machen. Aber schau, wohin es sie gebracht hat, dass sie es ihren Eltern und der Schwiegermutter recht machen wollte, ohne auf ihre eigenen Gefühle zu hören.« Er steckte sich das letzte Stück Apfel in den Mund.
Kaèl schnaubte. »Als könnte ich ihr noch etwas recht machen. Der Zug ist vor vier Jahren abgefahren.«
»Wieso schreibst du ihr dann überhaupt?«
Darauf wusste Kaèl keine Antwort. Zumindest keine Logische. Es war quälend und schön zugleich, so transparent vor Bendix zu sein.
Als Kaèl nicht antwortete, fuhr Bendix fort: »Du steckst in diese Briefe immer so viele Emotionen rein. Irgendwie wartest du ja doch immer auf eine Antwort, und dann bist du tagelang niedergeschlagen, weil nie eine kommt.«
»Ach was«, sagte Kaèl mit gespielter Leichtigkeit. »Ich mache mir da schon lange keine Hoffnungen mehr.«
Bendix warf ihm einen langen Blick zu. Er schien abzuwägen, ob er das Offensichtliche aussprechen wollte, entschied sich dann aber dagegen. »Wenn du meinst«, sagte er schließlich. »Aber wenn du den Brief so abschickst, dann musst du eine Sache ändern: Es trauen sich Magi in mein Dojo!«
»Das wäre mir neu«, sagte Kaèl.
»Gerade heute war eine Hexe da. Sie ist Heilerin hier im Krankenhaus und will Kampfkunst von mir lernen.«
»Glückwunsch.« Kaèl hob die Brauen. »Sie wird aber nicht lange bleiben, wenn du sie weiter ›Hexe‹ nennst.«
»Aber nein«, rief Bendix. »Ich mache das nur, weil sie das so will. Sie nennt sich ja selbst so, weil sie rote Haare und eine Hexennase hat.«
Großmutter hätte dieser Magi Feuer unter den Hintern gemacht, dachte Kaèl. Aber der Krieg war lange vorbei. Die Inquisition war in Vergessenheit geraten und irgendwie war das auch ein Glück. So konnte vielleicht etwas Neues entstehen. »Was ist das nur immer mit diesen Selbstbezeichnungen?«, fragte er. »Ist das jetzt Mode?«
»Ich wollte sie nächste Woche zum Essen einladen. Da kannst du sie gern selbst fragen.«
»Will ich das überhaupt?«, murmelte Kaèl mit einem Seufzer. »Ich habe wenig Lust mit Leuten, die mich langweilen, über Dinge zu sprechen, die ich anderswo nachlesen kann.«
»Sie ist nett«, sagte Bendix mit Nachdruck. »Der Abend wird sicher lustig. Außerdem koche ich auch was ganz besonders Gutes.« Er senkte die Stimme. »Und du darfst den Nachtisch aussuchen!«
»Ich lasse mich nicht mit Essen bestechen!«, protestierte Kaèl. »Aber wenn du so fragst … hätte ich gern Streuselkuchen mit Kirschen.«
Bendix lachte. »Abgemacht!«
»Na, dann darf sie kommen«, sagte Kaèl gnädig. »Apropos Besuch, Mister Taryòn hat geschrieben. Emma und er wollen uns im Frühjahr besuchen.« Er seufzte. »Mit den Kindern. Das wird ein Trubel!«
»Das wird schon.« Bendix schmunzelte. »Dann hole ich mir ein Tragetuch und mache ganz viele Spaziergänge mit dem Säugling. Und die Kleine nehme ich mit zu den Kindern im Dorf. Da kann sie dann Schwertkampf lernen.« Er zögerte. »Da hat Àrnor nichts gegen, oder?«
»Àrnor?«
»Na, Mister Taryòn. Du kennst seinen Vornamen nicht?«
Kaèl zuckte mit den Schultern. »Das war nie relevant.«
»Aber ihr seid doch jetzt Freunde! Wieso –«
»Weil es sich komisch anfühlen würde, das nach all den Jahren anders zu machen.«
Bendix verdrehte die Augen. »Du und deine Förmlichkeiten. Manchmal bist du so steif …«, er rang die Hände, eigentlich genauso, wie du das in deinem Brief beschrieben hast.«
»Hm? Was meinst du damit?«
»Na, wie ein gefrorener Kabeljau.«
Kaèl richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Jetzt überragte er Bendix um einen halben Kopf. »Was bin ich?«
»Also … so bist du nicht zu mir, aber zu anderen. Ich dachte, eigentlich passt du ganz gut zu der Dekan–«
Kaèl hexte Bendix einen Stichzauber gegen die Brust, aber Bendix zuckte nicht einmal.
»Das ist alles, was der große Erzmagi drauf hat?«, spottete Bendix.
»Warte nur!« Kaèl trat hinter dem Pult hervor. »Man sollte den großen Erzmagi nicht reizen.« Er dehnte seine Hände, bis die Finger knackten. »Er könnte gefährlich werden.«
»Oh, oh«, sagte Bendix, aber sein Mund zuckte, und er konnte sein Lachen nicht verbergen. Er trat einen Schritt zurück, die Arme erhoben. »Der überaus ernsthafte und gereifte Erzmagi lässt sich herab, dem einfachen– aua!«
Kaèl grinste. Der Feuerball hatte gesessen. »Du wolltest es nicht anders.« Mit einem Fingerschnipser beförderte er Bendix in die Zimmerecke. Er hob die Hand. »Und jetzt –«
Weiter kam er nicht.
Bendix war vor seine Füße geblinkt. Er packte Kaèl am Kragen und presste ihn gegen die Wand. Die harten Steine bohrten sich in Kaèls Rücken.
»Und jetzt?«, wiederholte Bendix.
Kaèl kannte dieses Spielchen. Jetzt würde ein Schlagabtausch folgen, wie sie es so oft im Dojo trainiert hatten. Würde … aber Bendix war so warm. Und er roch nach Gras und Äpfeln. Kaèl griff ihm ins Haar und küsste ihn.
Überrascht keuchte Bendix auf. Sein Körper wurde weich und schmiegte sich an Kaèl.
Kaèl löste sich wieder. Er grinste. »Ich wollte wissen, wie der Apfel geschmeckt hat.«
»Aha« sagte Bendix. Sein Tonfall verriet Kaèl, dass er den Inhalt seiner Worte nicht mehr erfasst hatte. Seine Pupillen waren riesig, mit seiner freien Hand nestelte er an den Knöpfen von Kaèls Oberteil, mehr ein Reißen als eine kontrollierte Bewegung. Kaèl zerrte an Bendix’ Gürtel, seinem Hemd, mit fahrigen Händen. Irgendetwas bimmelte, aber vielleicht war das einfach Kaèls Kopf, der schwirrte.
Bendix erstarrte. »Da hat jemand geläutet.«
»Egal«, zischte Kaèl. »Wir tun so, als seien wir nicht da.«
Als Bendix zögerte, grub er seine Nägel in Bendix’ Oberarm. »Mach weiter!«
Auf einmal klopfte es gegen das Fenster neben ihnen. »Lord Hotàru?«, rief Mister Scott. »Ich bringe Ihnen Ihre Robe.«
»Verflucht noch mal, das hätte ich fast vergessen!« Mit einem bedauernden Lächeln löste Kaèl sich aus Bendix’ Griff. Er klopfte seine Kleidung glatt und wirkte einen raschen Fhaarbulöszauber. Bevor er sich zum Fenster wandte, zwinkerte er Bendix zu. »Der große Erzmagi hätte dir ja gern seine Überlegenheit demonstriert, aber das müssen wir auf ein andermal verschieben.«
Bendix schnaubte, aber Kaèl ignorierte ihn. Er öffnete das Fenster. »Guten Abend, Mr. Scott.«
»Guten Abend, Mylord.« Mr. Scott verneigte sich. Er blickte von Kaèl zu Bendix. »Störe ich? Ich … hatte Licht gesehen und da dachte ich …« Seine Wangen färbten sich rot.
Kaèl schaute an sich herab. Bendix hatte ganze Arbeit geleistet: Seine Robe war zerknittert und vorn fast vollständig aufgerissen, ein großer Teil seiner nackten Brust schaute heraus. Bendix sah nicht viel besser aus.
Lachend knöpfte er den oberen Teil seiner Robe wieder zu. »Sie stören bei nichts, was Sie nicht schon von uns kennen.«
Er nahm das Paket entgegen und wog es in der Hand. »Wir sehen uns dann Morgen in aller Frühe!«
Mr. Scott mied seinen Blick. Er murmelte eine Abschiedsfloskel, verbeugte sich und schritt zurück zur Kutsche.
Mit einem Seufzer hexte Kaèl das Fenster zu. Er blickte zu Bendix, der mittlerweile seine Kleidung in Ordnung gebracht hatte. »Der arme Mister Scott ist immer noch so prüde.«
Kaèl hatte Mister Scott vor mehr als drei Jahren nach Tukàta geholt, aber an solche Szenen schien der arme Kutscher sich immer noch nicht gewöhnt zu haben. Dabei hatte er mittlerweile so einiges miterlebt.
Kopfschüttelnd widmete er sich dem Paket. Er entfaltete das knisternde Seidenpapier und nahm die Robe heraus. Sie fühlte sich wunderbar weich an. Kaèl streifte seine alte Robe ab und stieg hinein. Vor dem Spiegel beäugte er die Nähte und glitzernden Accessoires – es war perfekt, wie alles, was Kasimir schneiderte.
Zufrieden drehte er sich zu Bendix. »Die ist für den morgigen Sommerball.«
Bendix trat näher. Mit spitzen Fingern fasste er in eine Stofffalte an Kaèls Ärmel. »Sind da Sonnen drauf?«
»Wie das Wappen Aomòris. Ist doch hübsch, oder?«
›Hübsch‹ war natürlich eine Untertreibung. Kasimir hatte sich selbst übertroffen: Die hellblaue Robe war über und über mit silbernen Fäden durchwirkt, die im Licht funkelten. Die Krönung waren aber die handtellergroßen Sonnen, die er aufgenäht hatte. Sie wechselten je nach Lichteinstrahlung ihre Farbe; bei Tageslicht waren sie hellgelb und im Halbdunkel leuchteten sie orange wie das Abendrot, jetzt waren sie blutrot.
»Gefällt es dir?«
Bendix schwieg säuerlich.
»Was?«, fragte Kaèl.
»Hat Kasi da bis gerade eben dran genäht?«
Kaèl zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich?«
»Du sollst ihn doch nicht immer so viel abverlangen! Bis spät abends schuften!«
»Das musst du gerade sagen!«, rief Kaèl. »Kasimir war gestern längst fertig damit, aber dann musste er es umändern, weil ein gewisser Herr«, er hob vielsagend die Brauen, »sich gestern Abend nicht zurückhalten konnte.« Er deutete auf zwei tiefblaue Hämatome an seinem Hals. »Oder soll ich damit auf den Ball gehen?«
»Als würde so ein super-Erzmagi wie du da nicht einen Zauber für haben«, sagte Bendix verächtlich. Er verschränkte die Arme vor der Brust.
»Natürlich habe ich den«, sagte Kaèl. »Aber wir reden hier vom Hochadel. Nichts können diese Leute besser, als derlei ›Schönheitszauber‹ zu enttarnen. Sonst könnte sich ja jede*r ein schönes Gesicht hexen, um eine gute Partie zu machen.« Er seufzte tief.
Als Bendix nicht antwortete, klimperte Kaèl mit den Wimpern. »Jetzt bin ich gezwungen, einen hochgeschlossenen Kragen zu tragen«, sagte er weinerlich.
Bendix schnaubte. »Nun beklag dich nicht. Du wolltest gebissen werden, richtiggehend gebettelt hast du!«
»Papperlapapp.« Kaèl wischte das Argument mit einer nonchalanten Geste beiseite. Vergessen war die gespielte Hilflosigkeit. »Und Kasimir sollte mir dankbar sein. Ohne meine stete Förderung wäre der Junge nicht da, wo er heute ist!«
»Spät abends im Atelier, weil er Überstunden für dich macht?«, feixte Bendix.
»Du weißt genau, was ich meine. Er wäre niemals Hofschneider Tukàtas geworden.«
»Hmpf«, machte Bendix. »Als würden solche Titel die Leute glücklicher machen.«
»Sagt derjenige, der sich einen Lord geangelt hat.«
»Ich bin nicht wegen deinem Titel mit dir zusammen!«
»Deines Titel«, korrigierte Kaèl. Er bereute es sofort, als er Bendix’ finstere Miene sah.
Bendix drehte sich zur Tür, aber Kaèl hielt ihn am Ärmel fest. Er senkte die Stimme. »Jetzt lauf nicht weg. In erster Linie habe ich die Robe für dich so machen lassen. Schau.« Er drehte sich einmal um die eigene Achse und ließ den Rock schwingen.
»Ach was«, sagte Bendix streng. »Dieses dekadente Flimmerzeug?« Er zog einen Flunsch, aber seine Augen folgten jeder von Kaèls Bewegungen.
Kaèl lächelte. Auch wenn er es nicht zugab, Bendix hatte eine Schwäche für glitzernde Dinge. Besonders, wenn Kaèl sie trug. »Gefällt es dir?«, wiederholte er zuckersüß.
»Weiß nicht«, nuschelte Bendix. Sein Blick ruhte einen Moment zu lang auf Kaèls Hintern.
»Du magst es!«, sagte Kaèl. »Weil es glitzert!« Er senkte die Stimme. »Lass uns ins Bett gehen.«
»Und dein Brief?«
Kaèl machte eine wegwerfende Geste. »Du meintest doch, ich investiere zu viel hinein.«
»Ja, aber ich kenne dich. Wenn du es nicht tust, bist du auch nicht zufrieden. Also schreib ihn fertig.«
»Sicher?«
Sie tauschten einen langen Blick, bis Bendix nickte.
»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Kaèl.
Bendix trat zwei Schritte auf ihn zu und zog ihn in seine Arme. Kaèl schloss die Augen. Er atmete Bendix’ Apfelduft ein, und die Anspannung des Tages löste sich von ihm. Er musste nichts planen, nichts leisten. Er war einfach nur hier, in Bendix’ Armen.
»Das hatten wir heute ganz vergessen«, sagte Bendix.
»Wie konnten wir nur«, flüsterte Kaèl. Er zog sich enger an Bendix heran, bis sie nichts mehr trennte. Bendix’ Brust war so breit. Und er war so wohlig-warm, am liebsten hätte Kaèl ihn nie losgela–
Bendix löste sich von ihm. Er drückte ihm einen Kuss auf die Wange und verschwand Richtung Flur.
Etwas verloren blickte Kaèl ihm hinterher. Er hatte kaum Lust, sich an den Brief zu setzen. Bendix hatte recht, er war zu fad und unpersönlich, um ihn so abzuschicken.
Kaèl hatte gerade wieder den Füller in der Hand, da steckte Bendix seinen Kopf durch die Tür. »Ach Kaèl, der Brief muss nicht perfekt sein. Du weißt doch: Perfekt ist das Gegenteil von gut.«
Kaèl blickte vom leeren Blatt auf. »Wo hast du das denn her?«
»Das hat mir mal eine sehr kluge Person gesagt.«
»Ach?« Seine Finger schlossen sich fester um den Griff des Füllers. Ein Anflug von Eifersucht keimte in ihm auf. »Wer denn?«
Bendix lächelte. »Du.«
»Natürlich«, murmelte Kaèl. Er verkniff sich ein Lächeln. »Wer auch sonst.« Er malte ein Glühwürmchen in seine Handfläche, hauchte ihm Leben ein und ließ es um Bendix’ Kopf fliegen. Aus seinen Flügeln sprühten silbergrüne Funken.
Bendix’ Augen leuchteten wie die eines Kindes, das auf ein Sortiment aus Süßigkeiten starrt. Er drehte sich, um dem Flug zu folgen. Als er Kaèls Blick bemerkte, versteifte er sich und setzte eine neutrale Miene auf, die Kaèl nicht täuschen konnte. »Jetzt trödel’ hier nicht rum!«
»Ja, ja«, rief Kaèl. »Dann raus mit dir, ich muss mich konzentrieren!« Mit einer ausladenden Handbewegung wedelte er Bendix hinaus.
»Ich warte im Bett auf dich.« Bendix senkte die Stimme. »Wir haben da noch eine Rechnung offen.« Er nickte mit Nachdruck und verschwand im Bad.
Als er gegangen war, lächelte Kaèl. Bendix hatte recht: Es war egal, wie eloquent seine Formulierungen waren, Hauptsache, er brachte ein wenig von dem, was er fühlte, zu Papier.
Und er fühlte eine Menge: Bendix und er lebten hier, in dem kleinen Haus am Rande der Stadt. Es war nicht pompös, und sie hatten es auch nicht im modernsten Stil eingerichtet. Das meiste ihres Interieurs war Tand, den Bendix hübsch gefunden hatte – Akàri hätte es als billig bezeichnet.
Aber Kaèl mochte jedes kleinste Detail davon: den kleinen Garten mit dem knorrigen Kirschbaum, sein Lesezimmer mit der mittlerweile beträchtlichen Auswahl an Büchern, die Kritzeleien in der Küche. Bendix bezeichnete es zu Recht als ›heimelig‹.
Und das Beste war, dass Bendix hier war. Sie schliefen jede Nacht zusammen ein und wachten jeden Morgen zusammen auf, und Kaèl bekam so viele Umarmungen, wie er brauchte.
Er war glücklich.
Leise summend griff er nach dem leeren Zettel. Er schrieb:
Liebe Mutter,
wenn Dich interessiert, was im letzten Jahr passiert ist, dann lese bitte den beigelegten Brief, er ist im selben Stil verfasst wie das, was ich Dir jedes Jahr schicke.
Auf Bendix’ Anraten schreibe ich Dir jetzt etwas Persönliches.
Es war die schwierigste Entscheidung meines Lebens, Euch zu verlassen. Ich habe an Status eingebüßt, meine Heimat und Euch verloren.
Ich vermisse Fukuòka. Ich vermisse das Meer, den Duft der Orangen, die schattigen Plätze unseres Parks, wo es immer nach Pinien roch. Ja, ich vermisse sogar das verdammte Dracheneifest, über das ich mich immer so beklagt habe, sonst würde ich nicht jedes Jahr genau zu diesem Zeitpunkt schreiben.
Vor allem vermisse ich Dich.
Und ich weigere mich zu glauben, dass du das nicht auch tust, auch wenn du mir nie antwortest. Denn egal wie hasserfüllt deine Blicke, wie undurchdringlich deine Mauer aus Schweigen, wir beide waren und sind uns ähnlicher, als es Dir wahrscheinlich lieb ist.
Und dennoch -- auch hier führe ich ein gutes Leben, ich habe eine Aufgabe, die mir gefällt, und in der ich etwas bewegen kann. Aber das ist nicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist, dass ich nicht allein bin. Bendix ist hier.
Ich weiß nicht, ob Du das kennst, aber wenn er mich in den Arm nimmt, fühlt es sich richtig an. Dann bin ich mir sicher, dass ich mich damals richtig entschieden habe.
Denn ich bin glücklich.
Warst du jemals wirklich glücklich? Es ist mir nie so vorgekommen. Aber ich liebe dich, und ich wünsche Dir von ganzem Herzen, dass Du es irgendwann wirst.
In Liebe,
Dein Kaèl.
Kaèl faltete das Papier zweimal zusammen und steckte es in das Kuvert. Auch den ersten Brief strich er glatt und stopfte ihn dazu. Das alles verschloss er mit dem hotàru’schen Siegel.
Vielleicht ärgerte seine Mutter sich darüber, dass er das Familiensiegel nutzte, aber Kaèl hatte genug Zeit darauf verschwendet, sich über derlei Feinheiten Gedanken zu machen. Er hatte es satt. Kurzerhand öffnete er das Fenster, band den Brief einer der Brieftauben auf den Rücken und ließ sie fliegen.
Er fühlte sich leicht.
Kaèl trat in den dunklen Flur. Wie alle Häuser in Aomòri hatten sie Gaslampen, aber die brauchte er nicht. Sein Lichtzauber flog voran und leuchtete ihm dem Weg. Als er an der Schlafzimmertür vorbeikam, lauschte er kurz, aber innen schien alles still zu sein.
Wahrscheinlich schläft Bendix schon, dachte Kaèl mit leichtem Bedauern. Es war spät geworden.
Auf Zehenspitzen tapste er ins Bad, um sich zu waschen.
»Kaèl?«, hörte er Bendix aus dem Schlafzimmer, als er sich gerade seine Zähne sauber rieb.
Rasch spülte Kaèl sich den Mund aus. »Du bist noch wach?«
»Ich warte doch auf dich! Das haben wir doch besprochen!«
»Ich bin gleich da«, rief Kaèl. »Zwei Minuten!«
Auf einmal hatte er wieder gute Laune. Er griff nach dem Lappen und der guten Rosenseife, die Bendix so mochte und rubbelte sich in Rekordtempo über Gesicht und Hals.
»Ach, Kaèl?«, hörte er Bendix, als er sich abtrocknete.
Täuschte er sich, oder wirkte Bendix schüchtern? »Was ist?«
»Ziehst du die neue Glitzerrobe an?«
Ich wusste es, dachte Kaèl triumphierend. Er mag Glitzer!
»Aber nur, weil du es bist«, sagte er grinsend und griff nach der Robe. Die Nacht konnte kommen.
ENDE
******
Wow, jetzt ist es wirklich vorbei.
Ich bin glücklich und traurig zugleich. Eigentlich sollte das eine eher kurze, lustige Geschichte werden ^^ -- aber irgendwie haben sich die beiden Charaktere verselbstständigt!
Ich hoffe, es hat Euch Spaß gemacht, die Geschichte zu lesen! Mir jedenfalls haben Eure Kommentare sehr geholfen -- einerseits haben sie mir immer wieder neue Inspirationen gegeben, und vor allem haben sie mich motiviert, das hier durchzuziehen (trotz Arbeit, Studium und Baby) :D
Vielen Dank dafür!
Pixelpark -- Pia