Wann immer Kaèl in der Nacht aufgewacht war, hatte er sich in Bendix’ Armen wiedergefunden und war beruhigt wieder eingeschlafen. Aber jetzt war der Platz neben ihm leer. Bendix fehlte ihm.
Es war merkwürdig. Wann hatte er zuletzt mit jemanden das Bett geteilt und keinen Sex gehabt?
Kaèl setzte sich auf und streckte sich, was seine Gelenke ohne Murren zuließen, ein gutes Zeichen. Oder ein Schlechtes, denn wie es sich anfühlte, war er gesund genug, um heute die Heimreise anzutreten.
Die Sonne schien durchs Fenster und es roch köstlich, nach Gewürzen und Gemüse. Bendix stand am Herd. Er kehrte ihm den Rücken zu, also nutzte Kaèl die Gelegenheit, um rasch sein wirres Haar mit dem Fhaarbulöszauber zu ordnen und seine schlafdurchknautschte Tunika glattzustreichen. »Guten Morgen!«
»Morgen?«, fragte Bendix mit leichtem Spott in der Stimme. »Die Sonne ist vor zwei Stunden aufgegangen.« Er drehte sich um und musterte Kaèl. In seiner engen Tunika sah er zum Anbeißen aus, aber Kaèl versuchte, nicht zu auffällig zu starren. »Aber es freut mich, dass es dir besser geht.«
Kaèl lächelte. »Das liegt an deiner liebevollen Pflege!«
»Ach was, von wegen liebevoll«, nuschelte Bendix, »das hätte jeder getan.« Er wandte sich wieder dem Kochtopf zu und rührte heftig darin herum.
Nein, verdammt, dachte Kaèl. Das hätte nicht jeder so getan.
Weder die Pflege, noch die Umarmung nachts. Warum redete Bendix das klein?
Kaèl rückte nach hinten, bis er die Wand im Rücken hatte und zog die Decke über seine Knie. Mit geschlossenen Augen lauschte er, wie Bendix vor sich hin summte. Dafür, dass er nicht musikalisch war, sang er oft, dieser Hexenjäger. Kaèl lächelte. Er mochte Bendix’ jungenhafte Stimme, und die paar falschen Noten verzieh er ihm gern.
»Essen ist fertig«, sagte Bendix nach ein paar Minuten.
»Essen wir im Bett?«
»Ähm.« Unschlüssig blickte Bendix auf die beiden Schüsseln in seiner Hand.
»Ich bin noch nicht vollständig gesund«, sagte Kaèl. »Und hier ist es bequemer.«
»Na gut.« Bendix stellte die beiden Schüsseln auf die Holzkiste und setzte sich im Schneidersitz neben Kaèl. Leider nicht so nah, wie Kaèl es sich gewünscht hätte.
Er rückte näher an Bendix heran, so nah, dass sich ihre Knie streiften. Bendix starrte auf ihre Knie, dann in Kaèls Gesicht, als würde er nicht glauben, dass das gerade geschah.
Kaèls Stimmung sank. War das derselbe Bendix, der ihn die ganze Nacht gehalten hatte? Bereute er es? Kaèl hatte sich nicht sonderlich viel Hoffnung gemacht, aber es war dennoch ernüchternd, nach der letzten Nacht.
»Ist dir das zu nah?«, fragte Kaèl.
»Ich weiß nicht ... es ist ... ungewohnt.« Bendix’ Miene hellte sich auf. »Aber so kann ich uns beide zudecken, das ist praktisch.« Er wies auf die Decke neben sich.
›Praktisch‹, dachte Kaèl. Sicherlich.
Das war interessant. So lange dieser prüde Mönch einen ›logischen‹ Grund vorschieben konnte, schien er zu allem bereit.
Kaèl kommentierte das aber nicht. Eifrig half er, als Bendix die Decke über sie beide ausbreitete. »So ist es viel gemütlicher«, sagte er.
»Ja«, gab Bendix zu.
Daraufhin schwiegen sie.
Stocksteif saß Bendix da, während sein warmes Knie gegen Kaèls glühte. Die Stille war Kaèl unangenehm. Mit etwas Pech würde Bendix ihn heute ziehen lassen, und sie würden sich nie wieder sehen. Was war, wenn Kaèl sich gestern zu verletzlich, zu weinerlich präsentiert hatte? Er sollte, nein, er musste etwas tun, das Bendix von ihm überzeugte, das ihm zeigte, dass Kaèl Hotàru immer noch ein Fang war. Ein Fang war nicht anhänglich, ein Fang wurde begehrt.
Er sollte irgendetwas sagen, eine geistreiche Bemerkung, die gleichzeitig humorvoll und verlockend war. Etwas, das endlich diese angespannte Stimmung löste.
Kaèl deutete auf die Schüsseln. »Hast du das selbst gekocht?«
Am liebsten hätte er sich weit, weit fortgehext.
Was plapperte er da? ›Hast du das selbst gekocht‹? Ja, wer denn sonst? Die Eichhörnchen? Einer von Bendix imaginären Bediensteten?
»Ähm ja.«, sagte Bendix. »Offensichtlich?« Er wies zum Herd, wo die Holzscheite noch glühten.
Offensichtlich.
»Du wirktest nervös«, murmelte Kaèl. »Da wollte ich die Stimmung aufheitern.« Sein Blick haftete sich fest auf seine Hände. Zehn Jahre Ausbildung in der höfischen Konversation, für nichts. Akàri sollte ihr Geld zurückverlangen, die Lehrerin hatte offensichtlich versagt.
»Das hat doch geklappt«, sagte Bendix, und Kaèl hörte ein Lächeln in seiner Stimme.
Lachte er ihn aus? Kaèl hob den Blick. Nein, er lächelte freundlich.
Er wurde aus Bendix nicht schlau. Bendix reagierte nicht, wie die Leute, mit denen Kaèl sonst zu turteln pflegte. Immer wenn Kaèl glaubte, die Oberhand zu gewinnen, war es falsch, und immer, wenn er das Gefühl hatte, sich lächerlich zu machen, schien es Bendix zu gefallen.
Und jetzt dieses Lächeln. So offen, wie Kaèl ihn noch nie hatte lächeln sehen. Es war ansteckend, auch Kaèl musste lächeln. Sie schauten sich an. Langsam lehnte Bendix sich vor, bis sein Gesicht direkt vor Kaèls war.
Kaèls Herz flatterte. Muriel, dachte er. Es passiert.
Er schluckte. Bendix war so warm, und er roch so gut, derselbe Geruch, in dem sich Kaèl die gesamte Nacht versenkt hatte. Er schloss die Augen. Wartete. Einen Atemzug, zwei.
Als nichts passierte, öffnete er die Augen wieder.
Bendix starrte ihn an wie ein verschrecktes Kaninchen. »Kaèl«, er keuchte leicht, »wir … sollten das nicht tun.« Er drückte Kaèls Hand weg und rückte ein Stück von ihm ab. »Bitte, lass uns einfach essen.«
»Natürlich«, murmelte Kaèl enttäuscht. Er lachte, unangenehm berührt. »Natürlich.«
Es war nur ein Missverständnis ... nur ein kleines Missverständnis.
Um die Situation zu entspannen, griff er nach den Schüsseln und reichte Bendix die seine, ohne ihn anzublicken. Die andere nahm er auf seinen Schoß. Sie war schwer und warm und er versuchte, sich allein darauf zu konzentrieren. Allmählich normalisierte sich sein Herzschlag wieder.
Kaèl beäugte die gelbe Pampe, die Bendix gekocht hatte. Das war schon etwas anderes, als die erlesenen Gerichte, die seiner Familie kredenzt wurden, aber er gab sich einen Ruck und nahm ein kleines Bisschen auf den Löffel. Vorsichtig pustete er den Dampf fort und probierte. »Das ist lecker«, sagte er erstaunt. »Wirklich lecker.«
»Ich habe dafür das letzte bisschen Kurkuma genommen, das ich noch hatte«, sagte Bendix. Zu Kaèls Erleichterung klang er wieder normal.
»Und das Gemüse?«
»Steckrüben und Kartoffeln aus meinem Garten.«
»So etwas habe ich noch nie gegessen.«
»Du kennst keine Steckrüben? Was isst du denn in Winter?«
»Äh, Wild oder …«
»Tiere also.« Bendix rümpfte die Nase.
»Oh«, entfuhr es Kaèl. Ihm fiel ein, dass Bendix kein Fleisch aß. »Wir sind schon sehr verschieden«, sagte er lahm. »Kein Wunder, dass du Abstand von mir halten willst. Ich scheine dich ja immer nur zu drängen, deine Gelübde zu brechen.«
Dazu sagte Bendix nichts. Er stocherte in seiner Schüssel herum, ohne den Blick zu heben.
Schweigend aßen sie weiter. Hin und wieder äugte Kaèl zu Bendix, nur um ihn dabei zu erwischen, wie er Kaèl anlinste und dann wieder wegschaute. Fast erinnerte es an einen einstudierten Tanz.
Den weiteren Vormittag über unterhielten sie sich mit einer bemerkenswerten Ausdauer über Eichhörnchen, Essen oder sonstige ›harmlose‹ Themen und sparten das aus, was sowohl Kaèl als auch wahrscheinlich Bendix am meisten interessierte. Sie lachten ein paar mal, aber insgesamt war es surreal.
Kaèl bat Bendix um eine Schüssel Wasser, um sich die Zähne zu reinigen, etwas, wonach er sich bereits seit mehr als einem Tag sehnte.
»Komisch, dass ihr dafür keine Zauber habt«, sagte Bendix.
»Es gibt für viele Alltagshandlungen keine Zauber. Sie sind den Leuten seit Jahrhunderten in Fleisch und Blut übergegangen, und der Leidensdruck war nie groß genug, dafür eine magische Lösung zu entwickeln. Ich habe beispielsweise erst vor ein paar Monaten einen Zauber entdeckt, mit dem man seine Haare richtet.«
»Deshalb sehen deine Haare immer so gut aus – selbst nach unseren Kämpfen!«
»Das ist dir aufgefallen?«, fragte Kaèl. »Ich dachte immer, du achtest nicht auf solche Dinge.«
Bendix errötete, und das war Kaèl Antwort genug. Er grinste zufrieden. Fhaarbulös!
Er griff nach dem Leinentuch, befeuchtete es und reinigte sich damit die Zähne, aber ihm fehlte das mit Veilchenöl und Minze aromatisierte Bimssteinpulver. »Zahnpulver hast du nicht zufällig?«
»Nein«, sagte Bendix, »ich nutze immer solche Hölzchen.« Er kramte in seiner Kiste und hob einen kleinen Zweig in die Höhe. »Damit reinigst du deine Zähne, schau«, Bendix kaute auf dem Ende des Holzstiftes herum, bis es faserig war, »so wird ein Bürstchen daraus, mit dem du deine Zähne putzen kannst.«
»Interessant«, sagte Kaèl. Innerlich seufzte er. Sie kamen, wie bereits den ganzen Vormittag lang, vom Hölzchen aufs Stöckchen, im wahrsten Sinne des Wortes, und die Zeit verrann, ohne das etwas geklärt wurde.
»Und das Praktische daran ist, dass du es immer wieder nutzen kannst, dafür musst du nur regelmäßig die Spitze abschneiden.« Er hielt es Kaèl hin.
Kaèl nickte abwesend, ohne das Hölzchen weiter zu beachten. »Ja, wenn ich hier öfter wäre, dann wäre es nützlich. Aber willst du überhaupt, dass ich wiederkomme? Es wirkt nicht so.« Er blickte Bendix direkt ins Gesicht.
Bendix Züge versteinerten. Seine Hand krampfte sich um das Hölzchen, und er zog es an seine Brust, starrte darauf, als könne es eine Antwort auf die Frage liefern, die seit Stunden im Raum stand. »Ich mag dich wirklich, Kaèl«, sagte er nach einigem Zögern. »Aber das, was wir da gemacht haben, fühlt sich wie ein Verrat an meinen Brüdern an. Ich hätte das niemals zulassen dürfen.«
»Das gestern Nacht?«
»Nein … also das vielleicht ein bisschen. Aber ich meine das, wonach ich weggelaufen bin.« Bendix’ Stimme zitterte. »Meine Brüder wären enttäuscht, wenn sie wüssten, was ich getan habe. Und das, nachdem ich bereits damals so versagt habe.«
»Ich verstehe«, sagte Kaèl, obwohl er nichts verstand. Aber Bendix sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen, und er wollte mit seinen Nachfragen nicht alles noch komplizierter machen.
»Ich hätte damals nicht überleben dürfen«, flüsterte Bendix. »Das habe ich nicht verdient.« Er setzte sich auf den Boden, mit dem Rücken an den Bettpfosten gelehnt und zog die Knie an seinen Körper. »Ich bin ein Feigling.«
»Bendix. Bitte hör auf, so über dich zu sprechen!«
»Du kennst mich nicht! Du weißt nicht, was ich getan habe.«
Unschlüssig blickte Kaèl auf Bendix herab. Er hätte ihn gern in den Arm genommen, aber das hätte alles wahrscheinlich nur schlimmer gemacht. Deshalb setzte er sich zu ihm, mit gebührendem Abstand und wartete darauf, dass Bendix weiter sprach.
Es dauerte einige Zeit, bis Bendix wieder die Stimme hob: »Als sie meine Brüder zu Tode gefoltert haben mit ihrer widerwärtigen Magie … habe ich nichts getan, um ihnen zu helfen. Ich war stocksteif vor Angst und habe mich versteckt.« Er atmete tief durch. »Ich habe zugesehen, wie einer nach dem anderen ermordet wurde. So bin ich. Ich hab nicht verdient, jetzt zu leben.«
»Du warst kein Feigling. Sie waren zu Viele. Was hättest du tun sollen?«
»Kämpfen?« Bendix schluchzte heftig. »Immerhin haben die Mönche mich das Kämpfen gelehrt. Das war ich ihnen schuldig.«
»Shhh«, sagte Kaèl. Er hatte keinerlei Idee, was er tun oder sagen sollte. In seiner Verzweiflung nahm er das Eichhörnchen und drückte es Bendix in die Arme. Der starrte es perplex an.
»Vielleicht tröstet es dich ja?«
»Ich bin doch kein Kind mehr«, protestierte Bendix, aber dann zitterte seine Lippe, und er umklammerte das Tierchen wie ein Ertrinkender.
»Dir wurde etwas Schlimmes angetan, und du versuchst, damit umzugehen. Bitte sei nicht zu streng mit dir.«
»Warum nicht?«, sagte Bendix leise. »Gib es zu, du willst mich auch nicht mehr in den Arm nehmen, weil ich ein Versager bin.« Er brach wieder in Tränen aus, heftiger als zuvor.
»Bendix! Ich will nichts lieber, als dich in den Arm zu nehmen! Ich dachte nur, du wolltest das nicht.«
Er erhielt keine Antwort, nur eine Reihe an Schluchzern. Kaèl rückte dicht an Bendix heran und legte einen Arm um ihn. Bendix bebte am ganzen Körper, und Kaèl zog ihn enger an sich, wiegte ihn, bis er sich beruhigte.
»Bevor ich dich kannte«, sagte Bendix, »war es einfach. Ich wollte mich rächen, bis entweder ich sterbe, oder keiner mehr von ihnen da ist. Und jetzt … zweifle ich an allem, was ich getan habe.«
»Es ist gut, zu zweifeln. Wenn wir alle mehr an uns zweifeln würden, wäre die Welt ein besserer Ort.«
»Das hat der Meister auch gesagt.«
»Na siehst du«, sagte Kaèl.
Sie schwiegen eine Weile und Kaèl strich langsam über Bendix’ Rücken. Draußen hatte es angefangen zu hageln, und die Hagelkörner prasselten auf das Dach der kleinen Hütte.
Bendix atmete tief durch. »Es tut mir leid, dass alles mit mir so kompliziert ist.«
Kaèl lächelte. »Denkst du allen Ernstes, ich hätte geglaubt, mit einem Hexenjäger wäre es einfach? Und trotzdem habe ich mich in dich …« Er errötete. »Ich meine, trotzdem finde ich dich anziehend.«
»Ich finde dich auch anziehend«, sagte Bendix leise. »Dabei bist du alles, was ich verachte. Du bist ein Magi und stolz drauf. Du bist reich und genießt deinen Luxus, und die Leute die für dich schuften, sind dir egal.«
»Das stimmt«, sagte Kaèl zögerlich. »Ich bin egoistisch.« Er senkte den Kopf. »Ich habe jahrelang ignoriert, was mit den Menschen in Fukuòka passiert, obwohl ich etwas hätte verbessern können. Heute tut mir das leid.«
Er ballte die Faust. »Aber jetzt will ich die Dinge anders angehen. Ich habe dem Rat der Zwölf vorgeschlagen, dass an den Akademien neben den gängigen Vorlesungen auch verpflichtende Ethikkurse eingeführt werden sollten. Und sie haben meinen Vorschlag angenommen.«
»Was ist der ›Rat der Zwölf‹?«
»Die Runde der Erzmagi, wir treffen uns einmal im Monat, tauschen Erkenntnisse der Zauberkunst aus und besprechen notwendige akademische Veränderungen.«
»Und … was ist ›Ethik‹?« Bendix errötete.
»Ethik bedeutet, dass man sein Handeln nach moralischen Gesichtspunkten überdenkt. Die Studierenden sollen lernen, ihre Magie nicht zu missbrauchen und alle Lebewesen, Menschen wie Magi zu achten.«
»So etwas hast du vorgeschlagen?«
»Denkst du, du beeinflusst mich nicht? Das, was in deinem Kloster vorgefallen ist, macht mich sprachlos, und ich hoffe, so etwas wird nie mehr geschehen.« Kaèl hauchte Bendix einen Kuss auf die rasierte Schläfe. Die Stoppeln kitzelten auf seinen Lippen. Am liebsten hätte er weitergeküsst, über die Wange zu Bendix’ Mund, aber er löste sich von ihm. Er schluckte schwer. »Ich könnte nachvollziehen, dass du mich nicht mehr sehen willst, weil du mich egoistisch oder arrogant findest. Aber wenn der einzige Grund ist, dass ich ein Magi bin, dann machst du einen Fehler. Wir Magi sind nicht alle gleich, und ich bin nicht grausam.«
Bendix starrte auf das Eichhörnchen, ohne etwas zu erwidern.
Es wurde allmählich dunkel. Wahrscheinlich wurde Kaèl längst von Mister Taryòn an der Fahrstraße erwartet, aber er wollte sich nicht von Bendix lösen. Eine Weile bleiben sie schweigend nebeneinandersitzen, und Kaèl lauschte den Geräuschen draußen. Der Hagel ließ nach, bis er nach einer Weile ganz aufhörte. »Ich sollte jetzt los«, sagte er widerwillig. »Kommst du allein klar?«
»Ich habe doch Nuri.« Bendix lächelte schief.
Sie lösten sich voneinander. Bendix öffnete seine Hand, und darin lag immer noch das Zahnhölzchen. »Oh, das hatte ich fast vergessen. Das kannst du benutzen, wenn du nächstes Mal zu Besuch bist.«
»Wenn ich zu Besuch bin?«, wiederholte Kaèl.
Bendix lächelte scheu. »Wenn du zu Besuch bist.«
Irgendwie rührte Kaèl diese Geste. Es war eine so lächerliche, simple Sache, und doch so unendlich bedeutsam für ihn. Für sie. Mit der Zahnbürste hatte er einen Platz bekommen, in Bendix‘ Hütte und in Bendix‘ Leben.
Als Kaèl nach seinem Mantel griff, schnürte Bendix seine Schuhe. »Ich begleite dich ein Stückchen.«
Zusammen stapften sie durch die Mischung aus Eis und Matsch, und der Wind wehte ihnen vereinzelte Graupelkörner ins Gesicht. Bendix wirkte nervös, er kaute auf seiner Lippe und warf Kaèl hin- und wieder verstohlene Blicke zu, so als wisse er nicht, was er nun mit ihm anfangen sollte.
»Was für ein ekliges Wetter«, sagte Kaèl, um das unangenehme Schweigen zu brechen.
»Das kannst du laut sagen. Ich wünsche mir mal richtigen Schnee.«
Darüber konnte Kaèl nur milde lächeln. Das heutige Wetter stellte für Fukuòka den Gipfel an Winterlichkeit dar – der letzte ›richtige Schnee‹ war Jahre her. »Dafür musst du nach Aomòri oder zurück nach Dinstermor gehen.« Er zwinkerte Bendix zu. »Oder ich zaubere dir ein paar Schneeflocken vor die Hütte.«
»Keine Magie!«
Bendix verzog das Gesicht dermaßen übertrieben, dass Kaèl lachen musste. Was war er leicht zu necken! »So?« Er hob die Brauen. »Daran solltest du dich in Zukunft besser gewöhnen. Aber keine Sorge, ich bin so gnädig und helfe dir dabei.« Mit einer raschen Handbewegung hexte er Bendix ein magisches Glühwürmchen auf die Schulter.
»Lass das!« Bendix versuchte, es wegzuwischen, aber es flog immer wieder zu ihm zurück. Irgendwann gab er auf und begnügte sich damit, Kaèl finstere Blicke zuzuwerfen, während das Glühwürmchen munter auf seiner Schulter blinkte.
So etwas sollte ich in Zukunft öfter tun, dachte Kaèl – das wütende Funkeln in Bendix’ Augen war einfach zu entzückend.
Bendix schien seine Gedanken zu erraten. »Wird das jetzt immer so weitergehen?«, stöhnte er.
Kaèl trat näher und drückte ihm einen Schmatzer auf die Wange. »Solange du es mir erlaubst?«
»Hmpf«, machte Bendix, aber sein Lächeln sprach eine andere Sprache. Nur zu gern hätte Kaèl diesen störrischen Esel an sich gezogen und ihn mit einem richtigen Kuss aus dem Konzept gebracht, aber er hielt sich zurück. Er würde nicht vorstoßen und Bendix zu etwas drängen, was er später bereute. Diesmal nicht.
Am Bach angekommen sprang Bendix mit dieser merkwürdigen Technik darüber, die Kaèl nach ihrem ersten Kampf beobachtet hatte. Es ähnelte eher einer Teleportation als einem Sprung, und Kaèl hatte immer noch nicht begriffen, wie er es zustande brachte. Für so ein kleines Hindernis war diese Technik natürlich vollkommen unnötig, – Kaèl vermutete, dass Bendix das nur tat, um ihm zu imponieren.
Aber Kaèl ließ sich nicht so schnell beeindrucken. Aus Prinzip nicht. Er verschränkte die Arme und mühte sich, nicht so auffällig zu starren.
Bendix streckte ihm die Hand entgegen, um ihm herüberzuhelfen, was Kaèl dankbar annahm. Seine Beine waren immer noch matt von der Erkältung. Zu seiner Überraschung ließ Bendix seine Hand auch nach der steilen Böschung nicht los. Er lächelte Kaèl offen an, selbst das Glühwürmchen schien heller zu blinken, und Kaèl konnte nicht anders, als zurückzulächeln.
Beinahe automatisch verlangsamten sie ihr Tempo, um die letzten paar hundert Meter, die ihnen bis zur Fahrstraße blieben, Hand in Hand auszukosten.
»Ich kann die Magie in deinen Fingerspitzen fühlen«, brach Bendix irgendwann das Schweigen.
Es erstaunte Kaèl immer noch, dass Bendix Magie fühlen konnte, wie ein Magiebegabter. »Findest du das … schlimm?«
Bendix schüttelte den Kopf. »Es fühlt sich nach dir an.«
Viel zu schnell erreichten sie den Waldrand, wo Kaèl die Kutsche hinter den Baumstämmen erkannte. »Dann werde ich jetzt …«, begann er, ohne Bendix‘ Hand loszulassen. Dazu war er noch nicht bereit.
»Ja …« Bendix wurde immer langsamer, bis er schließlich stehen blieb. »Du solltest …«
»Wann darf ich wiederkommen?«
Bendix überlegte eine Weile. »Wann immer du willst«, sagte er dann rau. Er blickte zu Boden.
Sein Haar, selbst seine Wimpern, waren voller Graupelkörner. Kaèl strich mit den Fingerspitzen über seine kalte Wange, wischte ein paar der Graupelkörner fort. Alles in ihm zog sich zusammen. »Du wirst mir fehlen«, flüsterte er.
Bendix schaute hoch. Seine Augen waren warm und voller Vertrauen. Er beugte sich vor und küsste Kaèl. Es war ein einzelner, scheuer Kuss, auf die geschlossenen Lippen, aber als sie sich lösten, lächelte Bendix, es wirkte so aufrichtig, so vollständig glücklich.
Dieses Lächeln machte merkwürdige Dinge mit ihm. Eine warme Woge erfasste ihn von Kopf bis Fuß, Kaèl fühlte sich, als würde er schweben. Was war nur los mit ihm? Es war nichts weiter als ein alberner kleiner Kuss, etwas, das er tausendmal gemacht hatte. Aber mit Bendix war alles anders.
Bendix beobachtete ihn aufmerksam. Auf einmal lachte er auf und drückte Kaèl einen Kuss auf die Wange. »Du bist niedlich, wenn du so verwirrt guckst.«
Bevor Kaèl reagieren konnte, hatte er sich umgedreht und verschwand in der Dunkelheit des Unterholzes. Das Glühwürmchen blinkte, bis auch sein Licht von den Bäumen verschluckt wurde.
»Sie sind wohlauf!«, rief Mister Taryòn, als Kaèl bei der Kutsche ankam.
»Natürlich. Bendix hat sich rührend um mich –«
»Aber Mylord. Ich würde eher vermuten, dass die Seeluft und die Ruhe Ihnen wohl bekommen sind.« Mister Taryòn half Kaèl in den Wagen und stieg auf der anderen Seite ein. Er musterte Kaèl kritisch. »So nass, wie Sie sind, holen Sie sich in Ihrem Zustand ja den Tod! Ein Glück, dass ich etwas zum Wechseln dabeihabe.«
»Das ist nicht nötig.« Kaèl war zu müde, um sich jetzt, mitten in der Kutsche, in eine hochgeschlossene Robe zu quälen, nur um zuhause wieder in seine Schlafkleidung zu wechseln. Außerdem gefiel es ihm, etwas von Bendix am Leib zu tragen.
»Wie Mylord wünschen«, murmelte Mister Taryòn, während er eine Reihe an Wärme- und Trocknungszaubern wirkte, die angenehm auf Kaèls Haut prickelten.
Die Kutsche setzte sich in Bewegung, und Kaèl starrte wehmütig den vorbeifliegenden Bäumen hinterher. Er riss sich los und wandte sich Mister Taryòn zu. »Um noch einmal auf diese Sache von vorgestern zurückzukehren«, setzte er an, aber Mister Taryòn schüttelte vehement den Kopf.
»Mylord, ich weiß von nichts. Und Mister Scott weiß bereits seit Monaten von nichts.«
Sie tauschten einen Blick, und Kaèl nickte. Wahrscheinlich war ein einvernehmliches Schweigen die Beste aller Lösungen.
»Die Wadenwickel haben besonders geholfen. Das habe ich auch Ihrem werten Vater per Hologramm erklärt, als Sie unpässlich waren.«
»Ich verstehe. Vielen Dank, Mister Taryòn.«
Kaèl schloss die Augen und lauschte dem Hufgeklapper. Ihm war wohlig warm, und er fühlte sich erschöpft und zufrieden.
Er war wohl eingedöst, denn als Kaèl die Augen wieder öffnete, hielten sie bereits im Hotàru’schen Schlosshof. Als er ausstieg, fiel ihm auf, dass es vielleicht nicht die beste Idee gewesen war, hier Bendix’ Kleidung zu tragen. Er zog den Mantel enger, aber ein Stück braune Hose lugte störrisch darunter hervor.
Hoffentlich treffe ich so niemanden, dachte er.
Mister Taryòn schien das ähnlichzusehen, zumindest linste er mehrfach zu Kaèls Beinen hinunter und kniff die Lippen fest zusammen.
Zum Glück wurden seine Eltern erst morgen wieder im Schloss erwartet, aber dem aufmerksamen Blick der Hausvorsteherin oder Myriam wollte er sich so nicht aussetzen.
Mister Taryòn und er schritten zu einem der Nebeneingänge, der direkt hoch in die Wohnquartiere führte. Er wähnte sich fast schon in Sicherheit, als sie durch die Galerie eilten.
»Kaèl’thas!«, rief jemand hinter ihm, und er erstarrte.