Grimmig starrte Lord Julian vor sich hin. Zu gern hätte er, sein Kinn auf die Hand aufstützend, auf eben genannte Art aus dem Fenster gesehen, was jedoch die Bauart der Kutsche nicht zuließ. Also versuchten seine Blicke Löcher in das lederbespannte Holz gegenüber zu brennen. Wenn er nicht aufpasste, würde seine jüngere Schwester Opfer seiner Stimmung werden.
Sie saß ihm gegenüber, mit seligem Lächeln auf ihrem ovalen Gesicht, die Wangen in freudiger Erwartung gerötet. Und auf was? Ein altes Gemäuer inmitten von nichts. Langeweile für Wochen.
Bisher war er nicht dahinter gekommen, weshalb ihn sein Vater als auch sein älterer Bruder genötigt hatten die Stadt zu verlassen. Er störte sich nicht an der Hitze und es brachte einen gewissen Vorteil, wenn sich der Großteil der feinen Gesellschaft aufs Land zurückzog. So stand nicht mehr zu befürchten, dass er an jeder Ecke auf ein bekanntes Gesicht stieß. Nichtsdestotrotz blieb er auch dann stets auf Diskretion bedacht. Seiner Familie und seiner eigenen Gesundheit zuliebe.
Er konnte nicht sagen, was ihm mehr zu schaffen machte, belanglose Tischgespräche mit Familie und Freunden über Pferde, Landwirtschaft oder die Jagd oder die erzwungene Enthaltsamkeit.
Nicht das er besonders promiskuitiv war, da gab es weit Schlimmere, nur würde er es vermissen. Genauso wie er sein Atelier vermissen würde. Nun ja, und den süßen Will, der sich so bereitwillig auszog, um für ihm als Aktmodel zu posieren. Noch williger ließ sich dieser dann unter Küssen auf das Tagesbett am Rande des lichtdurchfluteten Raumes ziehen. Wie er es liebte, wenn Wills schlanke, geschmeidige Beine ihn umschlangen …
Julian blinzelte. Was war nur in ihn gefahren, so ausgiebig im Beisein seiner Familie über seine Bettgeschichten nachzudenken. Es musste an dieser Einöde liegen. Wiesen, Felder, Wälder, was nichts anderes hieß als für eine schier unendliche Anzahl von Tagen keine rauschenden Bälle, exklusiven Soireen, kurzweilige Opern- und Theaterbesuche, keine Ausfahrten im Park, keine Lästereien mit Freunden im Club, kein Will und auch kein Randy mit seiner flinken Zunge. Verflucht. Schon wieder.
»Warum?«, gab er laut von sich und wandte sich dabei seinem Vater zu.
Lord Wendridge döste mit verschränkten Armen neben ihm vor sich hin. »Es wird dir gut tun, meine Junge.« Der alte Mann wusste sofort um was es ging und machte sich nicht einmal die Mühe die Augen zu öffnen.
Julian biss die Zähne zusammen. Der Duke schaffte es mit seiner Art immer noch, dass er sich wie ein Kind fühlte. Das würde sich wohl auch nicht so schnell ändern, befürchtete Julian, weder jetzt mit 26 noch in 10 Jahren.
»Ich weiß wirklich nicht, was ich in Seashell Castle soll? Regi wird deinen Titel erben und alles übernehmen.« Er bemerkte, wie sich seiner Schwester Josephine ein Grinsen aufs Gesicht schlicht. Sein Bruder Reginald hasste es, wenn er so genannt wurde. Allerdings war Julian auch der Einzige der es wagte. »Wenn er sich mit Landwirtschaft und den Leuten hier auseinandersetzten muss, ist das verständlich und wichtig. Aber ich?« In der Gegenwart seiner Eltern war er bemüht seine snobistische Art zurückzunehmen, denn wenn er dann eine ruhige, respektvolle Antwort erhielt, bekam er weit mehr ein schlechtes Gewissen, als hätte ihn sein Vater lautstark zurechtgewiesen.
»Es ist auch für dich wichtig und es wird dir zu Gute kommen.« Lord Wendridge nickte ihm mit einem kleinen Lächeln zu. »Du erbst vielleicht nicht den Titel, aber du bist auch ein Teil dieser Familie.«
Schnell wand Julian den Blick ab. Der Duke war weder dumm, noch naiv. Obwohl es in keinster Weise je zur Sprache gekommen war, ging Julian davon aus, dass seine Neigung zumindest diesem Teil der Familie bekannt war. Ausgerechnet die Worte vom Familienoberhaupt zu hören, ungeachtet der Tatsache, wie seine Vorliebe allgemein als widernatürlich und ekelhaft deklariert war, darüber hinaus sogar strafbar, führte ihm wieder seine Privilegien vor Augen. Seine Familie behandelte ihn mit Respekt und ermöglichte ihm seinem Leben in dem größtmöglichen Maß nachzugehen. Die Bedingungen waren Diskretion und gelegentlich Gehorsam. Doch auch das hatte stets seine Gründe, wie er schon früh verstanden hatte. Das wiederum brachte ihn auf einen anderen Gedanken.
»Ist mit Reginald alles in Ordnung? Und Vivianne? Geht es ihr gut?«
Sein Bruder und dessen schwangere Frau waren schon früher im Jahr aufs Land gefahren. Seine Schwägerin zog in ihrem Zustand die Ruhe und die frische Luft, der Aufregung in der Stadt vor.
»Soweit ich weiß, geht es den beiden gut«, beruhigte ihn sein Vater, rückte ein wenig herum bis er wieder bequem saß und lehnte den Kopf zurück.
Julian war erleichtert. Er hätte augenblicklich, vermutlich sogar schreiend, das Land verlassen, bei der Aussicht Titel und Verwaltung übernehmen zu müssen.
»Ich verstehe überhaupt nicht, wieso du dich so aufregst«, kam es von seiner Schwester. »Endlich in Ruhe ausreiten und das nicht nur in diesem beengten Park.«
»Du wirst noch selber irgendwann zum Pferd«, neckte Julian sie und bekam dafür, sehr passend, einen Tritt vors Schienbein.
Empört sah er Josi an. »Die ist von Ede & Ravenscroft und nagelneu.«
Ein sehr undamenhaftes Schnauben kam von seiner Schwester. »Du wärst wahrscheinlich die bessere Tochter geworden.« Sofort bereute Josi ihre unbedachten Worte. »Vielleicht auch nicht«, lenkte sie ein. »Du liest mindestens genauso viel wie ich. Das würde deiner Beliebtheit ebenso schaden.«
»Alles dumme, unreife Jungs«, urteilte er rigoros über die albernen Gecken, die seiner Schwester aus dem Weg gingen, nur weil sie kein dümmliches Ding war.
»Vielleicht solltest du mich einem deiner Freunde vorstellen.« Sie wollte es leicht klingen lassen.
Als Julian sie fragend ansah, senkte sie den Blick und er glaubte zu verstehen. Sie wurde bald einundzwanzig und die Männer zeigten wenig Interesse an ihr. Aber sollte das wirklich die Lösung für sie sein? Er war sich nicht sicher.