Beklommen sahen sie kurze Zeit später der davonfahrenen Kutsche hinterher.
Reginald seufzte tief, doch schien er es selbst nicht mitbekommen zu haben. Als er seine kleine Familie zurück ins Haus führte, berührte er seinen Bruder kurz am Arm.
Alles, was Julian nun noch in dieser Angelegenheit tun konnte, war abwarten. Und hoffen. Beides fiel Julian schwerer als sonst. Die Vorstellung, die Beziehung zu Henry beenden zu müssen, rief einen noch nicht gekannten Schmerz in ihm hervor. Sein Leben vor Henry kam ihm entfernt und fad vor, blass wie der neblige Morgen. Er war sich sicher, die Freude, die er einst über sein leichtes, unstetes Dasein empfunden hatte, würde nicht mehr zurückkehren. Durch ihre Liebe zueinander hatte er sich verändert und er mochte diese Veränderung. Sie war, trotz aller aufregenden Dinge, die Henry und er taten, mit einer inneren Ruhe und Zufriedenheit einhergegangen.
»Wollen wir hineingehen?«, kam Andrews Simme von hinter ihm und auf einmal hatte er das Bedürfnis, sich anlehen zu müssen.
Nach einer Weile nickte Julian lediglich. Er fand es bedrückend, zurück ins Haus zu gehen. »Könnte ich dich vielleicht zu einem Spaziergang überreden?«, wisperte er seinem Freund zu.
Josi war noch zu nah und er wollte nicht den Eindruck erwecken, sie auszuschließen. Doch gerade eben brauchte er jemanden um sich, der ihn besser verstand, dem er sich anvertrauen konnte.
»Du kannst.« Andrew lächelte aufmunternd. »Allerdings nur, wenn du mir gestattest, mich ein wenig präsentabler herzurichten. Bei meinem ledierten Auftreten lassen wohlmöglich noch eure Rosen die Köpfe hängen. Und vielleicht auch der Gärtner.«
Julian sah ihn zweifelnd an. Er rang sich ein Lächeln ab. »Ich muss dich enttäuschen. Wenn Murphy den Kopf hängen lässt, dann ausschließlich der traurigen Rosen wegen.«
Gemeinsam gingen sie hinauf in Andrews Zimmer. Auch nur für einen Moment allein sein zu müssen, fand Julian gerade ganz entsetztlich. Noch war er nicht völlig in seiner Melacholie versunken, als dass er nicht bemerkt hätte, wie sein Freund als Erstes, nach Betreten des Raumes, den Tisch ansteuerte und die darauf befindlichen Briefe und Blätter umsortierte. Genaugenommen bedeckte er ein Schreiben, das ganz zu oberst lag.
Nachdenklich beobachtete Julian seinen Freund beim Anziehen. »Hast du Post von zu Hause bekommen?«, riet er.
Andrew drehte sich ihm zu. Er wusste sofort, worum es ging. »Ja.«
»Hat man dich zurückbeordert?« Julian bemerkte zu seinem Unmut, wie bitter er geklungen hatte.
»Beordert? Nein.« Die Mundwinkel seines Freundes kräuselten sich amüsiert.
»Wohl gemeinte Ratschläge?« Fest biss Julian die Zähne zusammen. Er kannte das nur zu gut. Sich gegen Befehle aufzulehen, war um Längen einfacher, als sich gegen etwas zu stellen, das nur so vor Liebe und Wohlwollen triefte.
»Etwas in der Art, ja.« Jetzt stand sein Freund vor dem Spiegel und warf Julian mit Hilfe des selbigen einen Blick zu, der aussagte, für wie wenig verbindlich er das Schreiben hielt.
»Ich möchte nicht, dass du meinetwegen Ärger bekommst«, kam es verzagt zurück.
»Mache dir keine Sorgen. Ich habe schon begonnen eine Antwort zu schreiben, in der ich meine Beweggründe für mein Bleiben ausführe. Allerdings denke ich, dass das gar nicht nötig ist. Sie wissen es auch so.« Verzweifelt versuchte Andrew eine seiner Locken in einer bestimmten Art zu den anderen zu sortieren.
»Heißt das, du könntest mir noch ein wenig beistehen?« Bitte sag ja, flehte Julian stumm.
»Genau das heißt es. Ich nahm an, du würdest das gebrauchen können.« Mit einem resignierten »Mhm« stopfte er die Locke unter die andern und verhakte sie sicherheitshalber auch noch mit einer. »Ich beneide dich um deine Haare. So, jetzt ist es gesagt.«
»Ich glaube, das erwähntest du schon einmal.« Zum Teil konnte Julian das auch nachvollziehen. Der andere Teil geriet immer mal wieder in Versuchung, die Finger in das unbändige Haar zu graben.
»Tatsächlich? Dann ist es wohl ernster als ich annahm.« Andrew stellte sich vor ihn. »Vorzeigbar?«
»Ganz bezaubernd«, koketierte Julian aufrichtig und sein Freund bekam die Ausstrahlung einer zufriedenen Katze.
Es war zu dunkel, als dass man hätte erkennen können, dass es schon morgen war. Die Wolken waren von einem schweren, dunklen Grau und es regnete unaufhörlich. Den riesigen, seegleichen Pfützen nach, schüttete es schon seit der Nacht. Julian trug das alte Ungetüm vom Regenschirm geschultert. Die Hoffnung, halbwegs undurchweicht an seinem Ziel, dem alten Pavillon im Garten, anzukommen, hatte er selbst zunichte gemacht, als er unaufmerksamerweise nach knapp zehn Schritten aus der Tür hinaus in ein knöcheltief mit Wasser gefülltes Loch getreten war.
Zu dieser frühen Stunde eilten gerade die ersten Bediensten umher. Und Julian selbst, der noch schlechter schlief, seit sein Vater sich vor neun Tagen verabschiedet hatte. Das Warten zermürbte ihn. Genauso, nein vielleicht sogar noch mehr, machten ihm die Gedanken an Henry zu schaffen. Die beiden Gelegenheiten, bei denen er ihn gesehen hatte, schlug die Trauer seines Liebsten langsam aber sicher in Verzweiflung um. Seine Anspannung war so deutlich, dass Lillian ihn unter einem Vorwand von den Gästen weglockte. Am Abend des gleichen Tages fand Julian ein Stück abgerissenes, gefaltetes Papier in seiner Tasche. Ein hektisch geschiebenes »Ich liebe dich« befand sich drauf.
Er behielt es in der Hand, bis er in einen unruhigen Schlaf fiel. Henry hatte Angst, ihn zu verlieren, und Julian tat es schrecklich leid, wie sein Liebster schon wieder wegen ihm leiden musste. Wäre doch nur einer von ihnen eine Frau, so hätte Julian keinen Moment gezögert, duchzubrennen. Wobei das ja dann eigentlich gar nicht mehr nötig gewesen wäre.
Die Umrisse des steinernen Pavillons verschwammen bei den Wassermassen, die aus dem Himmel stürzten. Rinsale liefen vom Dach, wie wässrige Schnüre. Die unzähligen Tropfen veranstalteten einen Lärm beim Auftreffen auf Blätter und Beton, laut genug, um Julians wanderende und drehende Gedanken zu übertönen. Er ließ sich im dunklen Innern auf eine der Bänke nieder. Den Schirm hatte er einfach geöffnet auf dem Boden liegen lassen. Ihm waren einige Dinge so furchtbar egal geworden. Das Essen schmeckte immer fader, also nahm er weniger zu sich. Seine Müdigkeit hielt ihn im Bett. Im Grunde stand er nur noch seiner Familie und Andrew wegen auf.
Es war bitter, dass ihn ausgerechnet etwas, das mit dem Finden seiner Liebe zu tun hatte, so unglücklich machte. Er wusste nicht so recht warum, doch fiel es ihm von Tag zu Tag schwerer, daran zu glauben, es würde sich auch nur irgendetwas zum Besseren wenden. Leise hatte sich die Befürchtung eingeschlichen, ihre Zuneigung würde zerfallen, wenn sie sie nicht in einem ausreichenden Maß pflegen konnten. Er wusste, ihre beiden Herzen würden brechen, wenn ihre Liebe durch die vorherrschenden Umstände zu einer traurigen Erinnerung verkam.
»Mylord?«
Julian öffnete die Augen. Willi, einer der Laufburschen, nahm wieder Abstand, dessen leichtes Rütteln an seiner Schulter, Julian erwachen hatte lassen. Verwirrt sah er sich um. Helle Sonnenstahlen fanden ihren Weg ins Innere des Pavilonns. Noch während er seine Orientierung wiederfand, erschien Andrews Silhouette im hell erleuchteten Eingang.
»Da bist du ja.« Seiner Stimme war die Erleichterung anzuhören. »Komm schnell. Es ist ein Brief von deinem Vater angekommen.«
Julian richtete sich abrupt auf. Ein leichter Schwindel erfasste ihn. Ob seines Tagesschlafs wegen oder der nervenaufreibenden Nachricht, war nicht zu sagen. So wie er zu Andrew trat, nahm Julian ihn bei der Hand und wollte loslaufen. Verwirrt schüttelte er seinen Kopf und ließ wieder los. Sein Freund schenkte ihm daraufhin ein süßes und amüsiertes Grinsen.
Julian sah auf den Rücken des Diensers, der, den Schirm einem Gewehr gleich haltend, vorausgeeilt war.
»Weißt du schon, was in dem Brief steht?«, flüsterte er nervös.
»Nein. Reginald hat ihn gelesen und nach dir schicken lassen.« Andrew stieß ihn leicht an. »Du hast uns allen einen ziemlichen Schrecken eingejagt, als du nicht gleich zu finden warst.«
»Endtschuldige. Ich brauchte etwas Abstand.«
»Das haben wir uns gedacht. Oder zumindest gehofft.«
Julian sah seinen Freund fragend an.
»Nun, du warst sehr niedergeschlagen in den letzten Tagen und hast dich immer weiter in dich zurückgezogen.«
Als Julian dann verstand, beeilte er sich zu versichern: »Ich wollte wirklich niemanden ängstigen. Dieses Warten in Ungtätigkeit hat mir einfach zu sehr zugesetzt. Aber nicht so sehr, als dass ich über mein vorzeitiges Ableben nachgedacht hätte.« So wie er es aussprach, wurde ihm bewusst, er hatte die Hoffnung doch nie ganz aufgegeben.
»Gut zu wissen. Du würdest einige gebrochene Herzen zurücklassen.« Andrew ließ es leicht klingen, vermied jedoch, seinen Freund anzusehen.
»Schon allein der Gedanke an dein Herz, würde mich abhalten«, beteuerte Julian, dem durchaus klar war, wie wenig Andrew seine eigene Sentimentalität mochte.
»Wer sprach von mir?«, kam es prompt zurück. »Ich meinte, deine Familie und eine bestimmte Person.«
»Oh, natürlich. Du würdest nach dem Anblick meines kalten, leblosen Körpers unbekümmert mit den Schultern zucken und zum Tagesgeschäft übergehen«, spottete Julian liebevoll.
Sein Gegenüber holte tief Luft, um zu einer ebenso spöttischen Bemerkung anzusetzen, überlegte es sich jedoch anders. »Nein. Ich würde weinen, schreien, dich verfluchen. Und vermissen - für den Rest meines Lebens.«
Julian schluckte. »Das … war sehr deulich.« Dieses Mal griff er bewusst nach der Hand seines Freundes und drückte sie kurz und fest.
»Wir sollen uns in London mit ihm treffen?« Nicht London, nicht das Wir war das Merkwürdige an der Formulierung. Es war dieses Sich treffen. Wieder fühlte sich Julian so furchtbar unwohl, vielleicht sogar etwas panisch, wenn man bedachte, dass er in London lebte. Sein Vater beging keine Flüchtigkeitsfehler, schon gar nicht bei etwas so Wichtigem.
»So hat er es geschrieben«, betätigte Reginald. »Genau wie Lord Evans Henry dort erwartet, wenn ich es dem Schreiben richtig entnehme.«
Gern hätte Julian seinen Bruder gefragt, was dieser glaubte, wie es weitergehen würde. Doch er tat es nicht. Egal wie tolerant Reginald bisher gegenüber Julians Lebensstil gewesen war, würde er pragmatisch in seinen Antworten sein und vermeintliche Angelegenheiten das Herz betreffend zwischen Henry und Julian ignorieren. Er konnte es ihm nicht einmal verübeln. Und sein Vater? Hatten bei seinen Entscheidungen Julians Gefühle eine Rolle gespielt? Bewusster wie lange nicht mehr, wurde ihm die Abhängigkeit seiner Familie gegenüber, sowohl finanziell als auch emotional. Im wurde übel, als ihm seine negativste Seite das Bild von ihm selbst als gealterten, verarmten Künstler in den Sinn pflanzte, der sich ab und an mit einem jungen Prostituierten der Ilussion von Nähe hingab.
»Vater wird schon eine annehmbare Lösung gefunden haben«, versuchte Reginald ihn aufzumuntern, und als Julian ihn ansah, bekam er ein mitfühlendes Lächeln. Da war er sich nicht mehr sicher, ob sein Bruder vielleicht doch Verständins für die innige Zuneigung Julians einem anderen Mann gegenüber aufbringen konnte.