Noch vor wenigen Tagen hatte sich Julian vor dem Moment gefürchtet, an dem sie ihren Aufenthalt beenden würden. Nun sah er eine Zukunft. Sie würden sich treffen können, wann immer sie wollten, konnten in Julians bevorzugtem Club essen gehen, im Park ausreiten. Sie mussten lediglich den Anschein einer Freundschaft wahren. Keinen würde es wundern, würde er Henry in seiner Wohnung besuchen oder Henry ihn im Atelier. Er könnte auch selbst aus seinem Elternhaus ausziehen. Alles zusammengenommen, war es eine sehr erfreuliche Aussicht.
So schnell würde er ihren Aufenthalt in dem Jagdhaus nicht vergessen. Die Veränderungen und Erkenntnisse, die sich ergeben hatten, waren höchst willkommen. Wie sehr sie das Andrew zu verdanken hatten, war beiden klar. Sie würden ihm in Zukunft keinen Gefallen mehr abschlagen können, ganz besonders jetzt, da er seine Schießkünste durch Henrys Hilfe erheblich verbessert hatte.
»Du bist ausgesprochen ambitioniert«, stellte dieser bei ihrer letzten Lehrstunde fest. »Und talentiert. Müssen wir uns Sorgen machen?«
»Wenn ich behaupte, ich möchte mich auf eventuelle Duelle vorbereiten, wäre das vermutlich unglaubwürdig.«
»Mit einem Jagdgewehr? Das kommt eher selten vor«, stelle Henry amüsiert fest.
Julian saß unweit entfernt, zeichnete und lauschte. In Ermangelung abwechslungsreicher Motive, begann er eines der Gewehre zu zeichnen, das angelehnt an einem nahen Baum stand. Verwundert bemerkte er, dass ihm sowohl die Komposition als auch das Motiv selbst erstaunlich gut gefiel. Er begann weitere kleine Ausschnitte zu skizzieren und war verblüfft von der Wirkung.
»Da du ein alter Geheimniskrämer bist …«, hörte er gerade seinen Liebsten zu Andrew sagen, »biete ich dir gern an, dir auch den ausführlichen Gebrauch von Pistolen zu zeigen. Und für den unwahrscheinlichen Fall, denn dafür bist du einfach nicht der Typ, dass du ein Duell ausfechten musst, biete ich mich als dein Adjutant an.«
»Äußerst zuvorkommend von dir.« Andrew grinste. »Allerdings hast du recht. Ich halte tatsächlich nicht viel von diesem ganzen Ehrenkodexduellblödsinn. Wenn jeder jemanden bei jeder Kränkung fordern würde, wäre halb London versucht einander niederzustrecken. Und was genau wäre die Moral? Der bessere Schütze, oder Fechter, was auch immer, ist im Recht? Himmel, und ich hasse es im Unrecht zu sein.«
»Sieh es einmal so. Du bekommst die Möglichkeit dem, nennen wir ihn, Idioten wehzutun, der dir, in der Regel in aller Öffentlichkeit, wehgetan, ich meine natürlich, dich beleidigt hat. Und weil wir ja alle Gentlemen sind, muss man dem Gegenüber die Möglichkeit sich zu verteidigen einräumen.« Henry verdrehte die Augen. »Es hat schon seine Gründe, warum das untersagt wurde. Es ist kindisch und, wie du sagst, beweist es gar nichts. Abgesehen davon, gibt es effektivere Methoden jemandem eine Abreibung zu verpassen.«
»Dein Denken gefällt mir, Henry Evans.« Andrew legte wieder an. »Ich werde dich mir warm halten, wenn es recht ist.«
Am Morgen des letzten Tages packten sie noch einige verbliebene Sachen zusammen, unter anderem auch Henrys Kleid. Andrew nahm es Julian, der es, so gut wie er es eben verstand, zusammenfalten wollte, aus den Händen und hielt es sich an.
»Möchtest du es einmal anprobieren?«, fragte Henry spitzbübisch nach.
Andrews Grinsen ging nicht breiter und schon schälte er sich aus einem Teil seiner Kleidung. Er ließ sich in das Kleid helfen. Sie schlossen es nicht ganz, da seine Schultern etwas zu breit waren. Dann zog er sich auch noch die Hose aus und schwang die Röcke hin und her. Er freute sich wie ein Kind über dieses ungewöhnliche Gefühl, drehte sich kichernd im Kreis.
Hufgetrappel ließ sie alle zusammenzucken.
»Oh, verflixt«, kam es von Andrew.
Es war schwer ruhig zu bleiben, als sie alle gemeinsam Andrew vorsichtig aus dem Kleid befreiten, um es nicht aus Versehen zu beschädigen. Hüpfend zog sich er sich danach die Hose wieder an, während Julian ihm nervös das Hemd entgegenstreckte. Henry rollte das verfängliche Kleidungsstück mit wenigen Handgriffen zusammen und stopfte es eindeutig bedauernd in einen kleinen Leinensack, den er wiederum in ein einer Tasche verstaute.
Die Bediensteten waren langsamer als gedacht. Es hatten noch nicht einmal geklopft, da war Andrew halbwegs präsentabel.
»Du siehst aus, als wäre jemand über dich hergefallen«, kommentierte Julian dessen Aussehen.
Sofort flüchtete der Angesprochenen zum nächsten Spiegel. »Da nur ihr beide hier anwesend seid …« Er versuchte seine Haare in eine annehmbare Form zu zupfen.
»Immerhin sahst du ganz entzückend in dem Kleid aus. Die Farbe steht dir«, neckte Julian weiter.
Empört drehte sich Andrew um, sah von einem seiner breit grinsenden Freunde zum anderen. »Böse Jungs, ganz böse Jungs.«
Zu Julians Überraschung war Andrew errötet. »Andrew? Du wirkst erhitzt bei dieser Vorstellung«, konnte es nicht lassen. »Es waren doch nicht etwa Fantasien über deine teuren Freunde der Grund dafür, dass dir Mitten in der Nacht zu warm in deinem Bett geworden war?«
Kläglich scheiterte Andrew bei dem Versucht entrüstet wirken zu wollen, musste stattdessen lachen. »Nein, nicht wirklich.« Ein Gedanke entstand daraufhin in seinem Kopf. Das Lachen verklang, zurückblieb ein feiner Gesichtsausdruck. Ein kleines Lächeln, ein inneres Strahlen, Aufregung und Vorfreude, leise und stark.
Die Emotionen übertrugen sich sofort auf Julian. Sein Herz schlug schneller. Da war etwas Schönes und sein Freund war bereit es zu teilen.
Vor Spannung hielt er die Luft an, als Andrew den Mund öffnete.
Es klopfte laut an der Tür und der Moment war verloren.
Julian musste sich wie selten zuvor zusammenreißen, um nicht laut zu fluchen.
Bald rückte der Gedanke an Andrews süßes Geheimnis in den Hintergrund. Vor anderen konnte Julian nicht darauf zu sprechen kommen, so widmete er sich vorerst anderen Überlegungen, sehr angenehmen, um genau zu sein. Natürlich drehte sie sich größtenteils um Henry. Er wollte mit ihm London unsicher machen, das Leben genießen. Sein liebeskrankes, von Euphorie benebeltes Hirn, ließ negativen Gedanken kaum zu oder schwächte sie zu etwas in ferner, unbekannter Zukunft ab.
Deshalb musste Andrew ihn immer wieder darauf aufmerksam machen, nicht allzu offensichtlich seine Gefühle zur Schau zu tragen. Zusätzlich bekam er ein schlechtes Gewissen als Reginald ihn an das versprochene Familienporträt erinnerte. Und da sich ihre Zeit auf Seashell Castle dem Ende zu neigte, machte er sich unverzüglich an die Arbeit.
Er malte bis Mittag, jedoch nicht ohne zuvor mit Henry ausgeritten zu sein. Josi und Andrew begleiteten sie, doch damit konnte er zu Zeit sehr gut leben. Zwei der drei Tage, in denen er sich bisher mit dem Bild beschäftigt hatte, leistete Henry ihm beim Malen Gesellschaft. Er hatte es sich in einem herbeigebrachten Sessel in dem kleinen Frühstückszimmer, dass durch seine guten Lichtverhältnisse als Atelier auserkoren worden war, bequem gemacht, plauderte mit ihm oder beobachtete schweigend sein Arbeiten.
»Stört es dich denn gar nicht, wenn ich dir auf die Finger schaue?«, fragte Henry am zweiten Tag.
»Nicht wirklich, nein.« Julian nahm Abstand von der Leinwand. Irgendwie sah die Kontur von Viviannes Kleid , dem bisher, wie auch allem anderen, die Feinheiten fehlten, falsch aus. Es war ein Glück für alle Beteiligten, dass er nicht ununterbrochen ein Model brauchte. Nur dieses Kleid machte ihm gerade zu schaffen, allerdings bezweifelte er, eine vor ihm sitzende Vivianne hätte dieses Problem gelöst.
»Als mein Vater uns porträtieren ließ, durften wir erst das fertige Gemälde sehen.«
Immer noch bescherte die Stimme seines Liebsten Julian ein warmes Gefühl. »Ich kenne auch einig Maler, die das so handhaben. Mir ist es eigentlich egal. Es ist ja kein großes Geheimnis daran, wie so ein Bild entsteht.« Irgendetwas stimmte mit diesem Kleid nicht. Er kratzte sich am Nacken. »Außerdem habe ich dich gern um mich«, fügte er hinzu und riss seinen Blick von der Leinwand los, um sich umzudrehen.
»Ist das so?« Henrys Augen funkelten.
»Wenn dir das bisher noch nicht klar war, bestätige ich dir das gern immer wieder.« Julian vergewisserte sich, dass die Tür geschlossen war, ging dann, aufmerksam in den Garten schauend, hinüber zu seinem Liebsten. Er setzte sich auf dessen Schoß und küsste ihn – nur kurz, um nichts zu riskieren.
»Das passiert also in deinem Atelier«, kicherte Henry, als Julian wieder zurück an seine Arbeit ging.
»Julian?«, kam es nach einer Weile leise und um einiges ernster, sodass sich der Angesprochene sofort umdrehte.
»Gibt es dort jemanden, der auf dich wartet?«
War Will jemand, der auf ihn wartete? Weder ein klares Nein, noch ein Ja wären die ehrliche Antwort darauf. »Es ist nichts Ernstes. Aber ich werde mit ihm reden müssen.«
»Danke.« Und dankbar sah Henry auch wirklich aus. »Es ist ja nicht so, dass ich nicht gern teile, doch einiges möchte ich lieber für mich allein haben.«
Ein einzelnes Klopfen kündete Besuch an, und da es sich um Andrew handelte, steckte er ohne abzuwarten neugierig den Kopf herein.
»Darf ich stören?«
»Du darfst.« Julian sah auf die Leinwand und glaubte, nun endlich den Fehler gefunden zu haben.
»Dein Bruder lässt fragen, ob du, ohne das Vivianne heute Model sitzt, weiterkommst.« Andrew blieb an in der Tür stehen.
»Geht es ihr nicht gut?« Sie hatte sich schon am Vortag unwohl gefühlt, deshalb überraschte es Julian wenig, wenn es auch etwas ungelegen kam.
»Deine Mutter hat ihr geraten, sich auszuruhen. Reginald würde jedoch zur Verfügung stehen.« Angelehnt an den Rahmen, wartete er auf eine Entscheidung.
Julian seufzte. »Ich wollte heute eigentlich die Kleine weiter malen. Irgendwie war ich davon ausgegangen, dass eher sie unabkömmlich werden könnte.«
»Notfalls könnte sie doch auch jemand anderes halten und so klein wie sie ist, wird es doch auch nicht zu lange dauern. Oder?«
»Bietest du dich hier gerade freiwillig an?«, kicherte Henry aus dem Hintergrund.
»Ich dachte eher an das Kindermädchen«, erwiderte Andrew trocken.
»Becky hat heute Vormittag frei und ist im Dorf. Du könntest sie also heute ersetzen. Wenn du möchtest«, fügte Julian schnell hinzu, da sein Freund die Stirn runzelte.
»An mir soll es nicht liegen.« Andrew winkte ab. »Nur wird Reginald der Gedanke gefallen, dass ich Platzhalter für seine Frau spiele?«
»Kommt immer darauf an in welcher Hinsicht.«
Andrew zuckte sichtbar zusammen, als er hinter sich im Flur die Stimme von genau dem Mann vernahm, von dem sie gerade sprachen.
»Um Brianna beim Malen zu halten«, beeilte er sich zu sagen. »Bei vielem Anderen könnte ich zu anstrengend werden.«
»Ach, tatsächlich? Ich bin mir da gar nicht so sicher.« Um Reginalds Mund zuckte es verräterisch.
»Na gut. Du willst Beweise?« Andrew sammelte sich, legte dann seine Fingerspitzen geziert auf die Brust seines Gegenübers. »Darling, gestern bei meinem Stadtbummel mit Millicent habe ich einen unglaublichen Hut entdeckt. Nein, warte. Bevor du mir sagst, ich besäße schon so viele. Dieses ganz besonders außergewöhnliche Stück würde schrecklich perfekt zu deiner pflaumenfarbende Weste passen. Jeder würde sofort unsere innige Verbundenheit erkennen können. Sag ja. Bitte.« Er neigte seinen Kopf, sah versuchshalber mit großen flehenden Augen zu Reginald hinauf, obwohl es keinen nennenswerten Größenunterschied gab. »Ach ja, und dieser komische kleine Schimmel ist heut morgen von der Klippe gefallen. Mitsamt dem Stallburschen. Da müsstest du auch für Ersatz sorgen.« Ein affektiertes Kichern setze dem Ganzen die Krone auf.
Mehr als Andrews Vorstellung amüsierte Julian der Kampf seines Bruders. Reginald versuchte es mit aller Macht und doch brach sich ein kleines Lachen immer wieder Bahn. Er hob den Zeigefinger, bat damit Andrew um Geduld, bis er endlich die Kontrolle wiedererlangt hatte. Als er die fast anfallartigen, kaum zu unterdrückenden Lachkrämpfe überwunden hatte, nahm er zart Andrews Fingerspitzen, beugte sich darüber. »Du weißt doch, dass ich dir keinen Wunsch abschlagen kann, mein Schatz.«
Auch Andrew musste kichern. »Also wenn das so ist«, begann er ernst mit möglichst tiefer Stimme, »lass uns gleich einmal über die Haushälterin reden.«