Schon von Weitem waren Pferd und Reiter unweit der Überreste der kleine Abtei zu sehen.
Julian umspülten seichte Wellen des Glücks bei der Aussicht Henry gleich gegenüberzutreten. Er lächelte bei der Überlegung, wie es sich wohl nach mehrtägiger Trennung anfühlen würde.
Noch bevor sie die Ruinen erreichten, rief Josi Henrys Namen. Es war als wäre die Zeit zurückgedreht. Er stieg ab und winkte ihnen zu.
Endlich bei dem Überbleibseln des alten Gebäudes angekommen, begrüßte Henry sie, trat zu Josie, um ihr beim Absteigen behilflich zu sein. Genau wie früher, wedelte sie lachend mit ihrer Hand weg und sprang aus dem Sattel.
Schicksalsergeben zuckte er mit den Schultern. »Braucht vielleicht sonst wer Hilfe?«, fragte er resigniert jedoch grinsend.
»Sprich mich doch in dreißig Jahren noch einmal darauf an, dann darfst du mich gern aus meiner Kutsche tragen«, witzelte Andrew zu ihm herab, stieg dabei ebenfalls von seinem Pferd. Unbedachterweise auf einen Stein, der ihn umknicken ließ. Henry bewahrte ihn, am Oberarm fassend, vor einem Sturz.
»Oder aber du beginnst schon heute damit mich aufzufangen. Danke.« Andrew bewegte probehalber den Fuß und entschied, dass an seinem Knöchel kein ernsthafter Schaden entstanden war.
Als hätten sie sich abgesprochen, sahen beide Männer zu Julian, der alles mit gerunzelter Stirn beobachtet hatte, und nun, da ihm seine Regung bewusst wurde, ebenfalls schnell vom Pferd sprang.
Vor sich selbst konnte Julian zugeben, etwas wie Eifersucht verspürt zu haben, auch wenn es keinen Anlass dafür gab, da Henry ihn arglos mit großen Rehaugen ansah und Andrew wissend schmunzelte.
Sie sahen sich ein wenig um, schwelgten in Erinnerungen und versuchten Veränderungen am Zustand der steinernen Überreste festzustellen. Auch wenn Andrew nur selten hier gewesen war, beteiligte er sich an den Gesprächen, lotste Josi schließlich von Henry und Julian weg. So geschickt, wie er es anstellte, hätte Julian sich als Bruder Sorgen machen müssen. Bloß war er in das zweifelhafte Vergnügen gekommen, seinen Freund beim Ausleben seiner Neigung überraschen zu können. Wenn ihm vorher nicht schon klar gewesen wäre, was Andrew bevorzugte, dann spätesten als er Zeuge wurde, mit welch hitzigem Verlangen in den Augen Andrew den niedlichen Burschen vor sich aufs Bett drückte.
So sah er ohne Befürchtungen seiner Schwester an der Seite seine Freundes hinterher, bevor er sich seinem Liebsten zuwand.
»Ist das denn in Ordnung?«, flüsterte Henry.
»Mit Andrew? Ja«, erwiderte Julian.
Etwas in seiner Stimme veranlasste Henry noch einmal zu dem davon schlendernden Mann blicken. »Oh.«
Julian indes bewunderte das hübsche Profil seines Gegenübers, dann beugte er sich zu ihm und flüsterte in dessen Ohr: »Wenn du mich rasend eifersüchtig machen möchtest, flirtest du in meiner Gegenwart mit ihm.«
Henry kicherte, ging noch einmal sicher unbeobachtet zu sein und ergriff Julians Hand. »Magst du diese Art von Spielchen?«, erkundigte er sich.
Diese Frage überraschte Julian dann doch. Er hatte seine Bemerkung ganz sicher nicht als anregendes Vorgeplänkel gemeint. Henrys Kenntnisse schienen indes weitreichend. »Ich denke nicht. Solltest du es allerdings darauf anlegen, sehr energisch darauf hingewiesen werden zu wollen, wen du damit weh tust, kannst du es probieren.«
»Was habe ich mir denn unter sehr energisch vorzustellen?« An dem Interesse in Henrys Augen und der Art, wie er fragte, konnte Julian die Sündhaftigkeit von dessen Gedanken erahnen.
Er atmete tief durch. Hier und jetzt war nichts möglich. Eine Antwort bekam Henry trotzdem. »Nun, je nach Laune und zur Verfügung stehenden Zeit, du unbekleidet und demütig in meinem Bett oder mit entblößtem Hinterteil über meinen Knien«, teilte er freundlich lächelnd mit.
Mindestens eine der beiden Vorstellungen gefiel Henry. In einem Anflug von Erregung rötete sich sein Gesicht. Er biss sich auf die Unterlippe, um sein erfreutes Grinsen zu zügeln. Es gelang ihm nicht und so senkte er seinen Kopf. Als er die kleine Verlegenheit überwunden hatte, meinte er rau: »Gut zu wissen.«
Schnell sah sich Julian um. Er umfasste Henrys Kinn und näherte sich ihm. »Du brauchst mich nicht eifersüchtig zu machen. Es genügt schon, mir deine Wünsche mitzuteilen.« Jetzt gestattete er sich endlich diesen verlockenden Mund zu küssen.
Es erfüllte ihn mit einer gewissen Genugtuung, wie Henry fast augenblicklich gegen ihn sank, die Arme um ihn schlang und seine feucht-warme Zunge in Spiel brachte.
Zu bewusst hörte Julian die, von der anderen Seite der wenigen verbliebenen Mauern, herübergewehten Wortfetzen der Unterhaltung zwischen seiner Schwester und seines Freundes. Es tat ihm leid, sich von Henry lösen zu müssen, besonders bei dessen verklärten Blick danach, der anfangs Schwierigkeiten hatte, sich auf etwa bestimmtes zu fixieren.
»Ein andermal mehr, versprochen.« Er zog die Hände seines Liebsten von sich, nahm sie in seine und küsste von beiden die Fingerknöchel ohne Henry dabei aus den Augen zu lassen. Dieser schaute ihm atemberaubend verliebt dabei zu.
Die Stimmen wurden wieder lauter, was darauf schließen ließ, sie würden demnächst nicht mehr allein sein.
Henry entzog ihm schnell seine Hände und suchte hektisch in der Innentasche seiner Jacke nach etwas. Schließlich reichte er Julian schüchtern ein gefaltetes Blatt Papier.
Viel zu verwundert, um darüber nachzudenken, wollte es dieser sofort öffnen.
»Nein, bitte ...« Henrys Wangen glühten kirschrot. »Könntest du es später lesen?«
Julian verstand. »Natürlich. Wie nachlässig von mir.« Eine freudige Aufregung überfiel ihn beim Anblick des Briefes. »Ich danke dir. Etwas persönliches von dir wird mir die Zeit bis zu unserem Wiedersehen ungemein versüßen.« Er verstaute das Schreiben in einer seiner Taschen und überlegte. Dann zog er seine Taschenuhr hervor, löste sie von seiner Weste und hielt sie Henry hin. »Nimm sie mit. Als Wiedergutmachung dafür, dass ich ganz egoistisch den vergangenen Abend über in Träumen an dich geschwelgt habe, statt mich um eine Aufmerksamkeit für dich zu kümmern.«
»Das kann ich nicht annehmen. Sie ist ein Geschenk deines Vaters«, warf Henry dem Entsetzten nahe ein.
»Ich sage, ich habe sie verloren und du hast sie gefunden. Wenn du wieder zurückgekehrt bist, gibst du sie mir wieder.« Julian musste ihm Recht geben. Es wäre unverschämt dieses Geschenk weiterzureichen.
Vorsichtig nahm Henry die Uhr an sich. »Also gut. Ich werde mich beeilen, schnell heimzukehren.«
»Nein, nicht beeilen«, warf Julian ein und verunsicherte damit Henry. »Du wirst dir die Zeit nehmen, die du brauchst und nichts überstürzen, denn ich will dich heil wiederhaben.« Noch einmal in die Richtung sehend aus der jeden Moment Josi mit Andrew kommen würde, berührte er leicht Henrys Wange. »Du erledigst deine Aufgaben und ich werde hier auf dich warten.» Er konnte es nicht lassen und stahl sich einen weiteren kleinen Kuss.