Es war, abgesehen von einem ungesund klingenden Schnarchen, ruhig im Haus und recht dunkel. Eine Kerze diente ihm als Lichtquelle für den unwahrscheinlichen Fall, dass er sich plötzlich gar nicht mehr hier auskannte. Julian nahm gleich den Personalaufgang, was wesentlich kürzer war, als einmal das halbe Haus zu durchwandern. Er bog am unteren Ende der Treppe auf den Flur ab und ließ vor Schreck beinahe die Kerze fallen als wenige Meter vor ihm eine Gestalt im wenigen Licht aufschimmerte. »Himmel«, keuchte er auf.
Mit einem kleinen spitzen Schrei wirbelte Lady Evans herum.
»Julian, Junge! Hast du mich erschreckt.« Sie kam auf ihn zu und berührte ihn sicherheitshalber am Arm.
»Verzeiht, ich wollte Euch nicht erschrecken.«
»Schon gut. Mein Herz scheint noch zu schlagen.« Sie lachte leise. »Was machst du denn hier?«
»Ich hatte Durst und kein Wasser mehr. Da dachte ich, ich könnte in die Küche schleichen.«
»Ach so.« Sie beugte sich zu ihm und wisperte: »Du hättest den Krug mitnehmen sollen, nur für den Fall der Fälle.« Und dann entschuldigend: »Bei den vielen Hausgästen sind wirklich alle Krüge auf die Zimmer verteilt worden.«
Julian seufzte. »Das wäre wirklich klüger gewesen. Ohne Giles, der mir mein Überleben sichert, ist es schlecht um mich bestellt.«
»Ach, Schätzchen.« Lady Evans tätschelte ihm kichernd den Arm. »Ich wünschte, ich könnte sagen, du wärst eine Ausnahme. Weißt du, dass ich heute kaum etwas gegessen haben? Ich war zu beschäftigt und die Dienerschaft auch. Niemand da der mich erinnern hätte können. Dazu kam die Aufregung und das ist der Grund, warum ich zu nachtschlafender Zeit noch auf den Beinen bin. Wollen wir schnell zurück in dein Zimmer den Krug holen?«
»Nur keine Umstände«, wiegelte Julian ab, dem es unangenehm war, die müde und hungrige Lady noch einmal die Treppe hochzujagen.
»Ach was. Das sind doch keine Umstände. Ich habe vielleicht auch ein klein bisschen die Hoffnung, dass mich die zusätzliche Bewegung ermüdet. Außerdem kommt mir deine Anwesenheit gelegen. Sie wird verhindern, dass ich mich in der Küche häuslich einrichte, um mich über sämtliche Reste herzumachen. Außer dem Hering.«
»Wenn das so ist, stehe ich Euch selbstverständlich zur Verfügung. Und wenn Ihr den Verdacht habt, ein paar der Überreste könnten bis morgen früh nicht mehr bekömmlich sein, würde ich mich dazu bereiterklären, einige davon persönlich vor dem Verderben zu retten.« Es war eine Erleichterung, dass Lady Evans ihn wie immer behandelte und weil es sich so vertraut anfühlte, hatte sie sich schon zurück hinauf in Julians Zimmer gemacht.
Sie unterhielten sich flüsternd über die Hochzeit, wobei Henrys Mutter ihn mehr oder weniger ihr Leid klagte. Die kurzfristige Organisation hatte ihr nicht nur einige Nerven abverlangt, sondern, und das war für sie, bei genauem Zuhören, viel schlimmer, ihre Träume von einer großen, romantischen Hochzeit ihrer jüngsten Tochter zerstört.
»Ach, nun ja. In der kleinen Kapelle war es auch wirklich hübsch und ohne so viele Menschen, auch sehr entspannt«, sinnierte sie schließlich als Julian die Zimmertür öffnete.
»Wie wahr. Die Trauung war angenehm privat. Viel netter, als wenn man sich als Freund die Eheleute mit Mengen an entfernten Bekannten teilen muss. Lillian sah bezaubernd und rundum glücklich aus. Mir schien, sie hat sich auf ihr neues Leben gefreut.«
»Da kannst du darauf wetten. Ich meine, sie ist begeistert.«
Sie mussten beide lachen. Der Braut war es schwergefallen, nicht zu deutlich zu zeigen, wie sehr sie sich die Hochzeitsnacht herbeisehnte. Wohin die Gedanken ihres Angetrauten gingen, wenn sie ihn sinnlich anlächelte, zeigten seine sich rötenden Ohren.
Julian schlüpfte in sein Zimmer, während Lady Evans ihrerseits an der Tür stehend die mitgebrachte Kerze höher hielt.
»Weißt du eigentlich, dass es in diesem Zimmer hier eine Verbindungstür gibt? Dort hinter dem Schrank.« Sie wies auf das Möbelstück.
Julian grinste, als er hinübersah. »Zu schade, dass ich zu alt bin, um meine Eltern des Nachts als Geist erschrecken zu wollen.« Als Kind hätte er sicherlich versucht mit Hilfe von Verbündeten den Schrank zu verrücken, damit er seine Eltern einen Streich spielen konnte. Aus unerfindlichen Gründen, hat er lange gebraucht, um zu verstehen, warum auch Elternpaare allein in ihren Schlafzimmern sein wollten.
Wieder hinab in Richtung Küche, glaubten dann beide ein Geräusch gehört zu haben, was nicht zu Lord Stantons Schnarchen gehörte. Wobei das Repertoire des Mannes, was die Bandbreite an Tönen betraf, erstaunlich vielfältig war. Es war nicht verwunderlich, dass seine Lady auf getrennte Schlafzimmer bestand. Bei Besuchen, wie diesem hier, teilte sie es sich mit ihrer Tochter.
Endlich in der Küche konnte Julian seinen Durst stillen, danach inspizierten sie die essbaren Überbleibsel des Festes.
»Willst du etwas mit hinaufnehmen? Nur um dein eventuell schlechtes Gewissen zu beruhigen: Ich werde das tun.« Sie war schon dabei sich einen Teller zu holen und als Julian nickte, kam ein zweiter hinzu. Sie suchten sich heraus, worauf sie am ehesten Appetit hatten und Julian fühlte sich mit Lady Evans mütterlichen Art, junger als er war.
In eigene Gedanken abschweifend, bemerkt er erst als sie seufzte, dass sie aufgehört hatte zu sprechen. Ihre Stirn in Falten gelegt, sah sie ihn mitfühlend an. »Wie geht es dir, mein Junge?«, fragte sie.
Er konnte ihr nicht folgen.
»Dieses schreckliche Gerede über dich und Henry und eure Freundschaft.« Noch einmal seufzte sie.
Der Schreck war wie ein unerwarteter Schlag. Julian konnte nicht sofort reagieren. »Es tut mir leid diese Schwierigkeiten zu verursachen«, kam es von ihm, so ehrlich wie man es war, wenn der Verstand vor Müdigkeit und geistiger Erschöpfung nicht mehr auf Floskeln ausweichen wollte.
Sie sah ihn überrascht an. Ziemlich lange sogar. Dann wandte sie sich mit einem wehmütigen Lächeln den Pastetchen zu. »Weißt du, Henry hat dich schon immer gemocht und bewundert, aber der Altersunterschied … Wobei vermutlich lag es wohl mehr an seiner Zurückhaltung. Er war oft in sich gekehrt. Als er damals gegangen ist, habe ich mir solche Sorgen gemacht.« Sie versank für einige Momente in der Vergangenheit, das herzhafte Gebäck schwebte derweil über ihrem Teller. »Du passt auf ihn auf, ja?« Sie legte es ab.
Sein Herz klopfte zu schnell. Das Thema ging ihm zu nah. »Natürlich«, brachte er leise hervor.
Mit einem warmen Lächeln sah sie zu ihm auf und strich mit den Fingerrücken über Julians Wange. »Bist ein guter Junge.«
Das verschlug ihm endgültig die Sprache.
»Hast du alles?«, fragte Lady Evans mit einem Blick auf ihrer beiden gefüllten Teller und Julian bestätigte. »Dann lass uns herausfinden, ob wir in dieser Nacht noch Schlaf finden oder nur der Völlerei hingeben.«
Die Mutter seines Liebsten war so freundlich und begleitete ihn wieder zurück, was wirklich sehr zuvorkommend war, da er nur unter Schwierigkeiten Teller, Kerze und Krug hätte transportieren konnte.
»Wie vorausschauend von dir, die Tür offenzulassen«, freute sie sich.
Julian hingegen sackte das Herz bis zu den Fußsohlen hinab. Er war sich sicher, sie geschlossen zu haben. Ein Stoßgebet gen Himmel schickend, hoffte er, dass sich nicht Henry in sein Zimmer geschlichen hatte, sondern er sich selbst nur falsch erinnerte. Vielleicht hatte Henry auch nur hineingesehen, gemerkt, dass sich niemand im Raum befand und war, ohne die Tür zu schließen wieder gegangen.
Er hielt die Luft an, als er die Tür weiter öffnete. Für den Moment schaffte er es nicht die Situation zu erfassen, verstand nicht, was es zu bedeuten hatte, dass Lady Susanna Stanton am Fußende
seines Bettes stand.
Die junge Frau bemerkte die Bewegung und zuckte heftig zusammen. Nur in ihrem züchtigen Nachthemd gekleidet, in das sie mit panischem Ausdruck auf ihrem blassen Gesicht ihre Hände krallte, kam sie einer unheimlichen Statue gleich.
Er stand ebenfalls nur da, sah sie verwirrt an.
»Was hast du denn, Ju… Ach du meine Gute.« Lady Evans war eingetreten. Schnell stellte sie Teller und Kerze ab und ging zu Lady Susanna, die vor Scham beide Hände vors Gesicht hielt und dabei leise schluchzte.
»Komm, Mädchen. Zurück ins Bett mit dir.« Sie legte den Arm um sie und nahm sie mit sich. Gerade zur Tür hinaus, kam Lord Wendridge aus seinem Zimmer. Er hielt beim Zuschnüren seines Morgenmantels inne, sah verwundert auf die sich bietende Szene und dann nur noch fragend zu Julian. Durch und durch hilf- und planlos hob dieser kopfschüttelnd die Schulter. Lady Evans dirigierte das leise weinende Mädchen über den Flur, hin zu dem Zimmer, hinter dessen Tür sich eine andere Frau womöglich gerade ins Fäustchen lachte. »Und sage deiner Mutter: In meinem Haus verbiete ich mir derart unrühmliche Kuppelversuche.« Sie schnaubte empört, öffnete die Tür und gab Lady Susanna einen Schubs.
»Darf ich fragen, was hier vor sich geht?« Lord Wendridge hatte seine Stimme auf ein Minimum gedämpft.
»Sie stand auf eimal in meinem Zimmer«, brachte Julian hervor und war sich im selben Moment bewusst, wie wenig sein Vater mit dieser Aussage anfangen konnte.
»Und du warst nicht in dem selbigen?«, hakte er nach.
»Nein. Ich war mir etwas zu trinken holen.« Julian hob seine Hände höher. »Und etwas zu essen.«
»Und in der Zwischenzeit ist sie in dein Zimmer geschlichen?«
»So muss es gewesen sein.« Julian konnte es selbst kaum fassen. Annäherungsversuche kannte er, keine Tricks, um ihn zum Ehemann zu machen. Nur war bisher keine der heiratswütigen jungen Damen auf die Idee gekommen in sein Zimmer zu schleichen.
»Das kann ich bestätigen,« Lady Evans kam zurück. »da ich zuvor mit Julian zusammen in seinem Zimmer war.«
So hoch hatte sein Vater noch nie seine Augenbrauen gezogen. Er zwinkerte zweimal. Unter anderen Umständen wäre dieser Anblick der Verwirrung zum Lachen gewesen. »Das … Warum?«
Vielleicht etwas zu hektisch klärte Henrys Mutter die Situation. »Somit kann ich also bestätigen, dass Julians Zimmer leer war als er es verlassen hat«, schoss sie.
»Da frage ich mich, ob diese Situation jetzt neue Gerüchte streuen wird«, meinte Lord Wendridge trocken.
Als Lady Evans begriff, worauf der Nachbar anspielte, riss sie die Augen auf. »Was? Der Junge und ich? Das ist …« Sie sah zu Julian, betrachtete ihn von oben bis unten. Mit gerunzelter Stirn wurde ihr in dem Augenblick klar, wie wenig Kind Julian mittlerweile eigentlich war. » abwegig.«
Julians Wangen fingen an zu glühen. Immerhin war die Lady die Mutter seines Liebhabers.
Willkins, der Kammerdiener seines Vaters, trug einen kleineren Koffer an Julian vorbei aus dem Schlafzimmer seiner Eltern. Er machte Platz, bevor er zu seinem Vater in den Raum trat.
»Du wolltest mich sprechen?« Sein Magen fühlte sich vor Nervosität ganz und gar nicht gut an.
»Ja. Komm herein und schließ die Tür.« Lord Wendridge besah sich skeptisch einen loseren Knopf an seinem Jackett.
Unangenehm zittrig und feucht legte Julian seine Hand auf die Klinke. Gab es erneut besorgniserregende Nachrichten oder Ankündigungen?
Als er sich wieder seinem Vater zuwandte, bemerkte er die Nachdenklichkeit in dessen Gesicht, doch dann erhellte es sich. Er lächelte erfreut und liebevoll angesichts seines jüngsten Sohnes. »Du weißt, dass mir nichts ferner liegt, als dich zu drängen. Ich würde nur gern etwas von dir wissen.«
Das Gefühl, seine Beine würden unter ihm nachgeben, überkam Julian. Nachdem, was alles in letzter Zeit passiert war, ging er sofort vom Schlimmsten aus. »Was denn?«, hörte er sich matt fragen.
Lord Wendridge entging die Anspannung seines Sohnes nicht. Der Ausdruck seines Gesichtes wurde mild. »Hast du jemals dran gedacht zu heiraten?«
»Ähm.« Julian fing sich wieder, suchte jedoch einen Moment nach Worten. Was hatte er erwartet? Niemand in seiner Familie würde ihn offen auf seine Zuneigung Männern gegenüber anspreche oder gar auf eine mögliche intime Beziehung mit Henry. »Ich glaube, ich fühle mich noch nicht bereit dazu«, war seine ehrliche Antwort.
Sein Vater nickte. »Das konnte ich mir schon denken.« Er schlüpfte in seine Jacke, knöpfte sie vor dem Spiegel zu, bevor er hinüberkam. »Dann sollte das wirklich unsere letzte Option sein.« Er klopfte Julian auf die Schulter und öffnete die Tür. »Ich bin zuversichtlich, das sich alles klären wird.«
Das hoffte Julian sehr. Wenn er in einer Gesellschaft leben musste, in der jede seiner Taten und Worte auf Hinweise untersucht werden würde, musste er die Flucht die Abgeschiedenheit wohl in Kauf nehmen. Er glaubte nicht, sein Leben und wie er es bisher verbracht hatte, unter ständiger Beobachtung noch genießen zu können.
Er folgte seinem Vater in den Flur, die Treppe hinab, bis hin zur Eingangstür, an der schon der Rest der Familie wartete.
Vivianne hielt Brianna, Reginalds Arm war um sie gelegt. Sie hatten noch nicht vorgehabt Seashell Castle zu verlassen, doch nun würden sie zusätzlich die Gesellschaft von Josephine und Julian auf unbestimmte Zeit haben. Für seine Schwester wäre es sehr wohl eine Option gewesen mit zurück nach London zu fahren, doch hatte sie den Eltern gestanden, dass sie sich nicht so ganz ohne geschwisterliche Unterstützung den Auswirkungen der Gerüchte stellen wollte.
Andrew kam die Treppe heruntergeeilt, gerade als Lady Wendridge ihre Tochter umarmte. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung.« Er lächelte jungenhaft. Man konnte ihm das so eben erfolgte Aufstehen ansehen und das nicht nur anhand seines weniger geordneten Haares. Er trug Pantoffeln und sein Halstuch war für seine Verhältnisse erschreckend schlampig gebunden. Sämtliche Familienmitglieder mussten über ihren zerknautschen Dauergast schmunzeln und natürlich verzieh man ihm.
Auch ihren jüngsten Sohn nahm die Dutchess fest in den Arm. »Mein kleiner Sonnenschein«, hörte er so leise, dass er sich nicht sicher war, ob sie es tatsächlich gesagt hatte.