Seashell Castle verfügte über einen großzügigen jedoch schlichten Ballsaal, den seine Mutter und Vivianne nett mit frischen Blumengebinden dekorieren lassen hatten. Bedauerlicherweise ging der zarte Duft in den hochkonzentrierten Parfumschwaden, die sich trotz geöffneter Terrassentüren, hartnäckig hielten, komplett unter.
Begonnen hatte das Fest im Garten, wo auch jetzt noch zwei Streicher zur musikalischen Untermalung der lauen Sommernacht spielten und kleine Laternen die nähere Umgebung erhellten.
Unglaublich, aber Julian hatte es über zwei Stunden geschafft Henry nicht nur aus dem Weg zu gehen. Er war geflohen sobald es den Anschein machte, die schönen dunklen Augen wollten sich auf ihn richten. Andrew war ihm gefolgt und hatte darauf geachtete, dass es nicht danach aussah, sie würden ausschließliche zu zweit den Abend verbringen. Zu vier Tänzen konnte er Julian überreden und jedes Mal konzentrierte sich Julian verbissen auf die jeweilige Frau vor sich, nur um nicht aus Versehen in den Bann des gutaussehenden Nachbarn zugeraten.
»Ich würde gern ein wenig frische Luft schnappen«, seufzte er nachdem er Lady Victoria, seine altjungferliche Tanzpartnerin zu ihrer Tante zurück gebracht hatte.
»Wenn ich mit dir, nachdem wir schon den ganzen Abend miteinander verbracht haben, jetzt auch noch in den dunklen Garten hinaus entschwinde, könnte das etwas zu intim wirken, mein Lieber«, merkte Andrew an und nickte einem alten Bekannten der Familie zu. »Wie wäre es stattdessen, wenn wir das Buffet nebenan in Augenschein nehmen würden?«
»Mir ist nicht nach Essen.« Julian blickte sich kurz um.
Als Andrew auffällig mit unüberhörbarem Schweigen antwortete, richtete er seine Aufmerksamkeit auf seinen Freund. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah dieser ihn fragend an.
Einen Moment brauchte Julian. »Entschuldige. Du hast Hunger?«
»Ich könnte ein wenig zu Essen vertragen.« Andrew lächelte ihn ehrlich aufmunternd an, etwas das nur wenigen vorbehalten war. »Wir werfen einen kurzen Blick in den Raum und schauen, ob sich nur die richtigen Leute darin befinden. Wobei ich gestehen muss, deinen Angebeteten gern einmal richtig zu Gesicht bekommen zu wollen, also mehr als eine aus dem Augenwinkel bemerkte Silhouette.«
Julian verstand durchaus diese Neugier, nur irgendwie gefiel ihm der Gedanke nicht, sein Freund könnte einen ähnlichen Gefallen an Henry finden wie er selbst.
Nachdem er unauffällig den Nebenraum auf Henry abgesucht hatte, drängte er sich mit Andrew auf seinen Fersen zum Buffet vor. Offenbar war sein Freund nicht der Einzige, den plötzlicher Hunger überfallen hatte. Als Julian zusah, wie sich Andrew an Häppchen und Früchten bediente, bekam er doch so etwas wie Appetit.
Da alle Sitzgelegenheiten besetzt waren oder nach dem Freiwerden bevorzugt von älteren Ladies und Gentlemen vereinnahmt wurde, blieben sie mit ihrem Tellern am Rand des Gedränges nahe der Wand stehen. Für Julian ein Vorteil, da er so das Kommen und Gehen gut im Augen behalten konnte.
Auch Josi trat in Begleitung von Lady Lincolnshire und Großtante Mildred, denen sie schon eine ganze Weile Gesellschaft leistete, in den Raum. Mit Mildred war es ein Leichtes für die drei an die lange Tafel zu gelangen, da die jüngste Schwester der bereits verstorbenen Großmutter mütterlicherseits, ihre robuste Erscheinung vorzugsweise opulent ausschmückte. Genauso laut wie ihr Aufzug war ihre Stimme. Sie war nicht zu ignorieren und wer es doch wagte, wurde recht unverblümt auf seinen Platz verwiesen.
So schaffte sie es auch für alle drei einen Tisch zu erbeuten. Sie komplimentierte kurzer Hand einen Baron und seinen Bruder von ihren Stühlen, zog einen dritten unter den erstaunten Blicken einer Countess noch hinzu und platzierte sich zufrieden zwischen Lady Lincolnshire und Josi. Die junge Frau fühlte sich sichtbar wohl in der Gesellschaft der rüstigen Damen, interessiert lauschte sie dem schier unerschöpflichen Redefluss.
»Deine Schwester sieht heute wirklich entzückend aus.«, stellte Andrew fest.
Julian schmunzelte. »Haben sich deine Interessen etwa verlagert?«
»Ich honorierte lediglich gutes Aussehen gepaart mit ansprechendem Charakter.«, gab sein Freund spitz zurück.
»Und schon zeigst du deutlich, inwiefern du anders bist.«, wisperte Julian schelmisch.
»Bitte? Ich hoffe, du willst mir damit nicht zu verstehen geben, dass dir das Eine oder Andere an deiner Schwester missfällt.« Das Entsetzten war gespielt.
»Als ihr Bruder habe ich gelernt mit ihren Eigenheiten zu leben und gebe zu, sie auch zu schätzen. Was ihr Äußeres betrifft ... Sie ist vermutlich hübsch.«, sponn Julian ein wenig weiter, fügte dann sanfter hinzu. »Viviannes Zofe hat sich um sie gekümmert. Sie hat ein Talent dafür den Menschen nicht einfach nur hinter einer hübschen Fassade zu verbergen.«
»Dann bewahre Gott, dass sie mich je in die Finger bekommt.«, meint Andrew mit einer guten Portion Besorgnis in der Stimme und Julian kicherte.
Schon den ganzen Abend lenkte Andrew ihn mit seinen kleinen Albernheiten ab, auch wenn es ihn nicht immer leichtgefallen war darauf einzugehen.
Reichlich schrilles Lachen lenkte seine Aufmerksamkeit auf eine Gruppe junger Leute. Alle waren ihm einigermaßen bekannt. Mit zwei der Männer waren sie gemeinsam auf die Schule gegangen. Beide gesegnet mit reichen Eltern, was ihren nur mäßig ausgeprägten Verstand, bei den zu erbringenden Leistungen, wettmachte.
Eine der drei jungen Damen war die Tochter des Viscount, deren Namen ihm immerzu entfiel. Als sie seinen Blick bemerkte, wurde aus ihrer Anspannung offenes Unbehagen. Das wiederum brachte ihn dazu genauer hinzuhören.
»Da hast du vollkommen Recht.«, lachte gerade Matthew Coverstone, einer seiner unintelligenten ehemaligen Mitschüler. »Es gibt kaum etwas unattraktiveres als eine Frau, die sich weigert ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen.«
»Oh, doch«, meldete sich Prudence Winklesteen, bei deren Namensgebung leider auch lediglich der Wunsch ausschlaggebend gewesen war, zu Wort. Die ansehnliche junge Dame hatte dem Champagner schon großzügig zu gesprochen, was ihre Aussprache ein wenig schwammig machte. »Wenn sie versucht Männern, deren Platz streitig zu machen.«, biederte sie sich unverblümt bei den Herren an.
»Eigentlich erbärmlich. Oder vielleicht einfach nur nicht Frau genug, um den Anforderungen zu genügen.«, kicherte ein Anderer.
»Aber selbst wenn ...«, trumpfte Prudence auf, »wäre es doch angebracht über diese Unnatürlichkeit zu schweigen und nicht auch noch darauf aufmerksam zu machen.« Mit einem gut inszenierten Augenaufschlag sah sie unschuldig zu Josi.
Julian durchzuckte es heißkalt. Seine Schwester saß steif da, bemüht weiterhin zu lächeln in Anbetracht dessen, dass die Schmähungen auf sie gemünzt waren. Er konnte sich gut vorstellen, was passiert war. Vermutlich hatte sie ihren Verstand spielen lassen und unbedachterweise den einen oder anderen dieser Idioten vorgeführt.
»Möglicherweise geht ja diese, nun ja ... Andersartigkeit mit einem Mangel an Verstand einher.« Matthew dieses Würstchen brach in Gelächter aus und ein Teil der Gruppe stimmte mit ein.
In weiser Voraussicht zog Andrew Julian den Teller aus den verkrampften Fingern.
Da es kein direkter Angriff auf Josi gewesen war, konnte Julian keinen von ihnen zur Rede stellen ohne den Leumund seiner Schwester erst recht mit Füßen zu treten.
Ihm fiel nichts besseres ein, als sie schnellst möglich aus der Schusslinie zu bringen. Doch kaum ging er einen Schritt in ihre Richtung, tauchte wie aus dem Nichts Henry auf.
Sanft lächelnd verbeugte er sich vor ihr und bat um einen Tanz.
Benommen sah er den beiden hinterher und fand keine ihm passende Erklärung, warum er sich so verletzt fühlte.
Andrew rückte näher zu ihm, kniff ihm schmerzhaft in den Arm.
»Was zur Hölle ...«, begann er unbedacht, verstummte wieder bei Andrews ernstem Gesicht.
»Der Ausdruck von Eifersucht auf deinem Gesicht, gibt Grund zu unguten Spekulationen« beschwor ihn sein Freund eindringlich.
Gespielt erheitert wand sich Julian ihm zu. Sein Innerstes war in Aufruhr geraten, so dass seine Magen gegen das wenige Essen rebellieren wollte.
»Lass uns gehen.« An Andrews Stimme konnte er das entgegengebrachte Verständnis hören. »Ich sehe da zwei verwaiste Damen, die sicher nichts gegen unsere Gesellschaft einzuwenden haben.«