Sie hatten sich sehr nah gefühlt, auch eine ganze Weile, nachdem sie körperlich nicht dichter beieinander hätten sein können. Wenn Julian ehrlich war, fühlte es sich auch immer noch so. Leise und träge sprachen sie über die Erstaunlichkeit ihrer intensiven Empfindungen, dabei ruhte Henrys Kopf auf seiner Schulter und dessen Bein über seinen.
In diesem Moment, in dem es nur sie beide zu geben schien, in dem sie voller Vertrauen ihre Verletzlichkeit zeigten, fragte Henry zaghaft, ob Julian bestimmte Vorlieben hätte.
Ein stilles Lächeln huschte über Julians Züge. Die Hintergedanken Henrys dabei waren recht durchschaubar. Er drückte ihn an sich und küsste ihn aufs Haar.
»Nicht wirklich. Allerdings muss ich gestehen, recht interessiert zu sein und Abwechslung zu mögen.«
Henry schwieg, begann am Siegelring der Familie Wendridge, den Julian am kleinen Finger trug und dessen Hand, genau wie die seines Liebsten, auf seiner Brust ruhte, in Gedanken versunken herumzudrehen.
»Gibt es denn etwas, dass dir besonders gut gefällt?« Schon bei der ihm gestellten Frage war Julian neugierig geworden und dass dieser jetzt wie selbstverständlich Julian nutzte, um seine Nervosität zu kompensieren, fand er ganz allerliebst.
»Nun …« Jetzt war es Henry doch aufgefallen, was er tat und zog seine Finger zu einer Faust zusammen. »Ich mag es ganz gern, hin und wieder in verschiedene Rollen zu schlüpfen.« Völlig bewegungslos wartete er auf Julians Reaktion, stellte dabei sogar das Atmen ein.
Da Julian sich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht hatte, welche Neigungen es sein könnten, fand er es interessant davon zu hören und sich vorzustellen, wie es dem süßen, anständigen Mann, der sich aufgeregt an ihm festhielt, ausgerechnet im Schlafzimmer gefiel, verschiedene Identitäten anzunehmen.
»Das verspricht allerdings wirklich abwechslungsreich zu werden. Eine glückliche Fügung, wenn ich es recht bedenke.« Mit den Fingerspitzen unter dessen Kinn bat er Henry sein Gesicht zu heben. Den kleinen Rest Unsicherheit, den sein Liebster noch nicht hatte abschütteln können, küsste er zart fort.
»Wenn du möchtest … Wir könnten … Ich hätte …« Henry lachte über sich selbst. »Für den Fall, dass du es mit mir einmal versuchen möchtest, habe ich etwas dabei.«
Julian wartete. Erst hatte er es sich auf dem Bett bequem gemacht, die Beine ausgestreckt und sich ans Kopfteil gelehnt. Gar nicht lange und seine Aufregung wurde zu groß und er setzte sich an den Rand des Bettes, sah hinab und beobachtete abwesend, wie er unruhig seine Zehen bewegte. Vielleicht hätte er nicht drauf bestehen sollen, sich überraschen zu lassen. Jetzt machte ihn die Ungewissheit doch nervös.
Vorhin, auf dem gemeinsamen Spaziergang mit Andrew, war er noch völlig entspannt gewesen. Ungeniert hatte dieser beide mit der Lautstärke ihres Liebesspiels aufgezogen, vorgeschlagen besser die Fenster geschlossen zu halten, damit die Vögel nicht vom ständig erschrockenen Aufflattern flügellahm werden würden und wohl möglich noch erschöpft vom Himmel fielen. Nicht auszudenken, was passieren würde, bekäme das ein diensteifriger Geistlicher zu Gesicht. Mit Fackeln und Mistgabeln würde das halbe Dorf in der Dämmerung vor der Jagdhütte auftauchen und was sollte er, Andrew dann tun? Sie hatten nicht annähernd genug Wein dabei, um die Leute durch ein Delirium zu besänftigen.
»Du könntest für sie tanzen«, schlug Henry grinsen vor.
»Ja, vielleicht nackt, mit Blut bemalt. Das würde für genug Ablenkung sorgen«, konnte sich Julian nicht verkneifen zu sagen.
Zweifeln sah Andrew ihn an. »Und wo bitte, soll ich das Blut herbekommen? Wenn ich mein eigenes nehme, werde ich wohl kaum noch in der Lage sein zu tanzen.«
»Ich sprach auch nicht von einem großflächigen Gemälde. Ein paar kleine Symbole würde es doch auch tun«, hielt Julian dagegen.
»Ich hörte, man hat antike Malereien von erigierten Penissen gefunden. Vielleicht wäre das ja etwas für dich.« So wie es Henry sagte, hätte man meinen können, er spräche über ein neues Buch, ein nettes Theaterstück.
Es dauerte nur einen Bruchteil einer Sekunde und in Andrews Kopf hatte sich wohl ein gewisses Bild geformt. Er lachte hemmungslos, musste sich über die Augen wischen, dann blieb er stehen. Den Blick hinauf in den Himmel gerichtet, das Gesicht gerötet, die Augen noch feucht, meinte er immer noch kichernd, mit gequältem Ausdruck: »Oh, bitte, wenn ich das nächste Mal einen Vollrausch habe, lass mich nicht an dieses Gespräch denken.«
Julian musste lächeln, nicht nur über Andrew, sondern auch über Henry. Er hatte so ein Gefühl, dass seinem Liebsten der Gedanke in Verlegenheit gebracht hatte, Andrew könnte Ohrenzeuge seines wiederholten Flehens nach mehr geworden sein.
Sofort drängten sich einschlägige Erinnerungen in sein Bewusstsein. Er konnte es kaum erwarten, wieder zu zweit zu sein.
Die Tür des Zimmers, die Henry vorhin geschlossen hatte, nervös, mit unsicherem Lächeln, öffnete sich und Julian zuckte zusammen.
Hatte er etwas erwartet? Etwas Bestimmtes? Nicht wirklich und vermutlich lag das schlicht an seiner Unerfahrenheit auf diesem Gebiet.
Jetzt stockte ihm der Atem. Sein Liebster stand, die Hände züchtig gefaltet, den Blick demütig gesenkt, auf der Schwelle und trug die Kleidung eines Zimmermädchens.
Anfangs brauchte Julian etwas, um herauszufinden, warum ihn dieser Anblick betroffen machte. Derweil wagte Henry es, ihn anzusehen. Es war ihm unmöglich, diesen Ausdruck auf Julians Gesicht nicht zu bemerken. Vor Scham lief er rot an. Um sich nicht vollkommen die Blöße zu geben, brachte er zaghaft, mit kaum unterdrückter Angst in den Augen hervor: »Kann ich noch etwas für Euch tun, Mylord?«
Schnell besann sich Julian, schüttelte jeden Gedanken an das tragische Ende von Giles Neffen ab. Er winkte Henry, um ihm anzudeuten, hereinzukommen und bewunderte dessen schlanke Gestalt. Das Wissen, dass sich unter dem Kleid die von ihm bevorzugte Körperform eines Mannes verbarg, erregte ihn. Um so mehr, da es der Mann war, den er liebte.
»Schließ bitte die Tür«, forderte er leise.
Zögernd folgte Henry.
»Mhm, du befindest dich allein mit einem Gentleman in seinem Schlafzimmer und ich bin mir recht sicher, dass du nicht mein Kammerdiener bist. Was also hattest du im Sinn, als du mich fragtest, ob du etwas für mich tun kannst?«
Henry sah ihn verblüfft an, öffnete ein wenig seinen Mund und hauchte damit Julians Fantasie Leben ein.
»Ich wollte nur nachfragen, ob Ihr vielleicht noch etwas braucht.« Henry hatte im Allgemeinen keine besonders tiefe Stimme. Jetzt sprach er ganz sanft, nicht höher, nur leise und weich.
Oh Gott, und ob ich etwas von dir brauche, schoss es Julian ungehörig durch den Kopf. »Woran hattest du dabei gedacht?«, fragte er rau nach.
»Einen Drink vielleicht?«, kam es stockend zurück.
Wie in aller Welt konnte ein Mann in Frauenkleidern nur so verwirrend verführerisch unschuldig aussehen?
»Ist das so? Du bist hier bei mir, allein und ich bin …« Julian sah an sich hinab. »mit nur sehr gutem Willen leidlich angemessen gekleidet.«
Henrys Blick huschte zu dem offenstehenden Hemd. Dabei nagte er ausgiebig an seiner Unterlippe.
»Komm her«, forderte Julian ihn leise auf.
Mit leisem Rascheln der Röcke kam sein Liebster näher. Er sah verunsichert aus und Julian war sich recht sicher, dass nur ein Teil davon gespielt war. Ein klein wenig ließ Henry auf dem kurzen Weg die Hüften schwingen. Es zuckte Julian in den Fingern, ihn dort zu berühren, die Bewegung unter seinen Händen zu spüren.
Knapp vor ihm stehend, wandte Henry vorgeblich besorgt den Kopf zur Tür.
»Du bist wirklich hinreißend«, murmelte Julian und meinte seinen Liebsten jetzt und sonst sowieso.
Mit seinen Worten beschwor er Erleichterung herauf und ein Lächeln voller Zärtlichkeit.
Er beugte sich nach vorn, ergriff einige Falten des Rockes und zog zaghaft daran, bis Henry zwischen seinen Knien stand.
»Sag mir, kann nur ich diese Anziehungskraft zwischen uns fühlen?«, flüsterte er, als wäre es ein Geheimnis.
Die dunklen Augen, so warm und voller Liebe, antworteten ihm noch bevor es ein zögerliches Kopfschütteln tat.
Julian musste sich zur Ruhe zwingen und seinen verlangsamten Verstand bemühen. Wenn er jetzt einfach seinen Impulsen gefolgt wäre, hätten sich seine Hände recht schnell unter diese schwingenden Schichten aus Stoff verirrt. Nie war er auf die Idee gekommen, dass er sein Vergnügen unter Röcken suchen würde. Aber die Vorstellung Stück für Stück diese schlanken Beine zu enthüllen. Seine Hände langsam immer höher … Trug Henry eigentlich Schuhe und Strümpfe? Er widerstand dem Drang, sofort nachschauen zu wollen.
Das Schwerste jedoch war, sich zu überlegen, wie er sich in einer solchen Situation verhalten würde, da Bedienstete für ihn aus verschiedenen Gründen ein Tabu darstellten. Wie also wäre sein Verhalten, wenn es zu einer gegenseitigen Verliebtheit geführt hätte? Da er allerdings nicht einmal annähernd Zeit hatte, ausführlich darüber nachzudenken, musst er wohl oder über improvisieren.
»Möchtest du dich einen Moment zu mir setzten?«, fragte er Henry vorsichtig und löste widerwillig seine Finger aus dessen unüblicher Kleidung.
Zögerlich ließ sich sein fürs Schauspiel begabte Liebster auf die Bettkante nieder und es war wirklich lediglich die Kante.
Julian seufzte innerlich, ein wenig enerviert über sich selbst. Alles, was Henry gerade tat, animierte ihn dazu, ihn berühren zu wollen, zu küssen. Kleine zarte Berührungen, um ihn nicht zu erschrecken, was eigentlich absurd war, und Küsse, ganz zaghaft, verteilt auf Wangen, Stirn, Kinn, ganz zum Schluss erst vorsichtig auf die einladenden Lippen. Doch wenn er das sofort tun würde, wäre das zu überstürzt. Vermutete er zumindest. Himmel, er war nervös und wollte auf jeden Fall alles richtig machen, wobei es höchstwahrscheinlich kein Richtig gab.
»Hast du schon Erfahrungen mit Männern?«, entschied er sich zu fragen, ergriff dabei sanft Henrys Hand.
Irgendwo zwischen schamhaft und hoffnungsvoll, Henry beherrschte das wirklich ausgezeichnet, war die Antwort: »Nun ja, ein wenig, Mylord.«
Wäre diese Aussage außerhalb eines Spiels gefallen, hätte sich Julian gezwungen gefühlt nachzufragen, was genau dieses ein wenig umfasste. So allerdings erwiderte er nur: »Das ist gut« und tat das, was er sich zuvor vorgestellt hatte.
Nach jedem Kuss sah er Henry zärtlich lächelnd an, bis sich dessen Mundwinkel ebenfalls amüsiert kräuselten.
Auf den Mund küsste er ihn besonders bedächtig, als hätte er tatsächlich eine sehr unerfahrene Person vor sich. Henrys Hand schloss sich fester um seine. Das wertete er als gutes Zeichen und fuhr fort, sein Können zu demonstrieren. Mehr und mehr gab sich sein Liebster ihm hin, löste dann ihre Finger voneinander und legte seine auf Julians Wange. Dessen freigewordene Hand blieb, auf dem sich durch das Kleid abzeichnende Oberschenkel liegen, begann leicht darüberzustreichen.
Da zog Henry ihn näher zu sich und Julian ließ sich nach hinten auf das Bett sinken, zog seinen entzückend seufzenden Schatz mit sich.
Wie auch immer sich Henry sich ihre kleine Abwechslung vorgestellt hatte, zum Sprechen waren sie nun beide kaum noch in der Lage, besonders als Julian begann den Rocksaum langsam höher zu ziehen. Er fuhr über das entblößte Bein, stellte fest, dass es mit einem Strumpf bekleidet war, der bis über das Knie reichte. Ein fest gebundenes Strumpfband hielt ihn an Ort und Stelle und Julian verlagerte die Überlegung, warum er es plötzlich anregend und interessant fand, wortwörtlich unter Röcke kriechen zu wollen, auf später.