Ein Sonnenstrahl schob sich durch eine kleine Lücke zwischen den safierblauen Vorhängen und ließ herumschwebenden Staub funkeln. Julian starrte benommen darauf. Er fühlte sich nicht besonders gut. Vom wenigen Schlaf war sein Kopf schwer und pochte, seine Augen brannten.
Abends hatte er schlecht einschlafen können. Immer wieder waren seine Gedanken von Henry angezogen worden. Das musste aufhören - unverzüglich. Er verstand seine starke Reaktion nicht im Ansatz. Schon früh hatte er gelernt sich zu kontrollieren. Wenn es vielleicht am Ende der Saison gewesen wäre und er seit Wochen keinen sinnlichen Vergnügungen nachgehen hätte können, vielleicht hätte das eine gewisse Anfälligkeit hervorgerufen. Nur war das nicht der Fall. Kurz vor der Abreise war er Randy über den Weg gelaufen und nutzte die Gelegenheit. Im Atelier hatte es kaum fünf Minuten gedauert, bis der aufgeschlossene Zwanzigjährige vor ihm auf die Knie ging. Einen gehörigen Schrecken hatte er allerdings bekommen, als auf einmal Will im Raum stand. Die Nase in die Luft gereckt in dem kläglichen Versuch seine Eifersucht zu verbergen. Ehe sich Julian überhaupt äußern konnte, ergriff Randy die Initiative. Und Randy konnte ausgesprochen charmant sein - charmant, überzeugend und sehr aufgeschossen. Auf seine unnachahmliche Art, in diesem Fall bestand sie aus süßen Worten, zärtlichen Küssen und sanftem Drängen, animierte er tatsächlich Will dazu sich ihnen anzuschließen. Was als kurzes prickeldes Intermezzo vor seinem Landaufenthalt geplant war, artete in ein hocherotisches und schweißtreibendes Sinnesvergnügen aus, weswegen er auch schließlich zu spät zum familiären Dinner erschien war.
Nein, an seinen unbefriedigten Gelüsten konnte es wirklich nicht liegen, nicht jetzt schon. Trotzdem hatten seine kurz vor dem Einschlafen verselbständigten Gedanken, Bilder aus Henrys Worten geformt. Besonders faszinierte wohl sein übermüdete Hirn die Überlegung des gutaussehenden Nachbarn ihm Reitstunden zu erteilen.
Kaum dachte Julian wieder daran, blitzten Bilder vom splitterfasternacken Henry vor seinem geistigen Auge auf, der sich sichtlich erregt auf seinen Hüften amüsierte.
Das konnte auf keinen Fall so weiter gehen. Er musste seine Beherrrung wiedererlangen. Wie sonst sollte er Henry mit dieser Art von Eingebungen unter die Augen treten? Denn wiedersehen würde er ihn, bei mehr als einer Gelegenheit.
Fast fiel er stolpernd die Treppe herunter, als Julian in die Halle eilte. Aus dem Fenster heraus, hatte er eine Kutsche auf dem Weg nach Seashell Castle bemerkt. Nah genug heran, erkannte er dann auch das Familienwappen der Willfords. Andrew war hier und damit hoffentlich auch Hilfe für sein nervenaufreibendes Problem.
Vor dem Abendessen am vergangen Tag hatte er noch gehofft, alles würde sich als einmalige Angelegenheit herausstellen, dass er bei einem weiteren Aufeinandertreffen mit Henry wieder seine bekannte Fassung wiedererlangt hatte. Doch nichts dergleichen war der Fall. Jetzt wurden langweilige Abendessen zu einer noch persönlicheren Hölle für ihn. Es schaffte es kaum den Blicken standzuhalten. Die Wärme, die darin lag, hatte eine Hitze in ihm entfacht und ihm damit jegliche Konversation erschwert. Er bekam kaum mit, was es zu Dinner gab. Hatte er überhaupt etwas gegessen? Er wusste es nicht. Nach dem Essen genemigte er sich mit den Herren einen Drink. Dabei glaubt er zu spüren, wie Henry ihn ansah. Die Enttäuschung, dass es sich als Irrtum herausstellte, entsetzte ihn.
»Andrew. Ich freue mich, dass du kommen konntest.« Julian hatte vor Murry die Tür erreicht und sie für seinen Freund geöffnet.
Beim Eintreten reichte Andrew dem Butler, ohne diesem groß Beachtung zu schenken, Gehstock und Hut.
»Ich freu mich auch, mein Lieber.« Er fasste Julian am Arm und zog ihn von dem Bediensteten weg. »Bist du mir entgegengerannt, um mich zu begrüßen? Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass du im Haus deiner Familie etwas anderes tust, was diese nette Röte auf deinen Wangen erklären könnte.«
»Gerannt«, gab Julian freimütig zu. »Soll ich dich auf dein Zimmer bringen, damit du dich ausruhen und frisch machen kannst?«
»So schlimm, ja?« Andrew grinste und wand sich, wie selbstverständlich, der Treppe zu. Er war bei Weitem nicht das erst Mal zu Gast.
»Schlimmer.« Noch war sich Julian nicht sicher, wann er dieses gewisse Thema zu Sprache bringen sollte. Obwohl es ihm arg zu schaffen machte, kam er sich albern vor, es sofort vor seinem Freund auszubreiten, als wäre er ein liebestoller Jungspund.
Andrew kicherte amüsiert. »Interessant.«
»Was?«
»Ich bin gespannt zu erfahren, was dich so aus der Fassung gebracht hat«, meinte Andrew leise lachend.
Julian blieb stehen. »Es ist so offensichtlich?«
Kameradschaftlich tätschelte sein Freund ihm die Schulter. »Du bist mir nicht einmal als Junge in unserer Schulzeit entgegengerannt.« Dann schob er ihn, die Hand auf den Rücken gelegt, weiter die Treppe nach oben. »Außerdem zupfst du die ganze Zeit über nervös an deinen Ärmeln herum.«
»Oh.« Julian ließ die Hände sinken. »Verdammt.«
Ein weiteres Kichern kam von Andrew. »Auf diese Geschichte bin ich wirklich gespannt.«
»Ich weiß selbst, das es albern ist.« Julian hielt bei seiner Wanderung auf dem weichen, orientalisch anmutenden Teppich in Andrews Zimmer inne. Sie hatten seinen Kammerdiener aus dem Raum verbannt, was dieser mit trotzig zusammengepressten Lippen und den Worten »Dann möchte ich aber auch keine Beschwerden über Falten in Eurer Kleidung hören« quittiert hatte.
Kaum war die Tür geschlossen meinte Julian grinsend: »Immer noch die kleine Diva.«
»Klein?« Andrew lachte trocken. »Kleine ist nur seine Statur.«
Jetzt saß sein Schulfreund zurückgelehnt auf dem Bett. Schweigend hatte er Julians Monolog über dessen Dilemma gelauscht.
»Und? Was hältst davon?« Krampfhaft versuchte Julian nicht all zu verzweifelt zu klingen.
Andrew grinste schief. »Du hast dich halt in den Nachbarsjungen verguckt. Das passiert schon mal.«
»Das ist doch .... Das kann aber nicht sein. Es ist Henry. Ich kenne ihn schon als Kind.« Wieder begann Julian auf und ab zu gehen.
»Nun, ein Kind ist er schon eine ganze Weile nicht mehr und deiner Beschreibung nach hat er sich sehr zu seinem Vorteil entwickelt.« Nachdenklich sah Andrew an seinem Freund vorbei in Richtung der großen Rundbogenfenster, dann begannen sich seine Mundwinkel katzengleich zu kräuseln. »Ich kann es kaum erwarten, diesen Prachtburschen bald aus nächster Nähe in Augenschein zunehmen.«
Ohne es beeinflussen zu können, schnappte Julian hörbar nach Luft und bereute ein wenig die zur Schaustellung seiner Gefühle bei den daraufhin gekicherten Worten Andrews: »Ein Anflug von Eifersucht? Jetzt hast du mich wirklich überrascht.«
Julian hielt inne, ging zum Bett und ließ sich neben seinem Freund nieder.
»Wie, in aller Welt, soll ich nur die nächsten Wochen durchstehen?« Seufzend ließ er sich auf den seidenen silbergrauen Überwurf fallen.
Über seine Schulter hinweg sah Andrew ihn an. »Wenn es dir eine Hilfe ist, bleibe ich so lange du mich brauchst.«
»Du wirst nicht zurückerwartet?« Julian setzte sich wieder auf. Er wäre ganz und gar nicht böse darüber ihn den Sommer über hier zu wissen.
»Mhm ...« Gespielt nachdenklich blickte Andres zum hölzeren Betthimmel hinauf. »Sagen wir mal so. Meine Familie wäre nicht unerfreut, wenn ihr persönlicher Plagegeist anderorts Unruhe stiftet.«
»Als ob.« Julian lachte. »Deine Familie ist dir regelrecht verfallen.«
Das Lächeln seines Freundes verblasste etwas. »Nun, nicht alle. Meine Großeltern sind den Sommer über zu Besuch. Warum auch immer.«
»Bei der Erinnerung an die kurze und einzige Begegnung mit besagten Personen, verzog Julian das Gesicht. »Konntest du entkommen, bevor sie eintrafen?«
»Fast ganze vierundzwanzig Stunden mussten wir einander ertragen. Aber nun bin ich ja hier. Und jetzt lass uns doch bitte über erfreulichere Themen sprechen.«