»Denkst du, es war feige von mir, nicht gefragt zu haben?«
Julian schüttelte den Kopf auf Josis Frage hin. Überlegte es sich anderes, lehnte sich zu ihr, um nicht die restlichen Anwesenden im Salon der Evans an ihrem Gespräch teilhaben zu lassen und wisperte: »Einmal abgesehen davon, dass keiner von dir verlangt, ständig deinen Mut zu beweisen, war die Situation auch ungünstig.« Er schenkte ihr ein zuversichtliches Lächeln, denn es war nicht der fehlende Mut, der ihre Augen verdüsterte, sondern die verpasste Gelegenheit den Männern beim Fachsimpeln zuzuhören.
Im Gegensatz dazu hatte es beide erstaunt, dass Andrew sich den erklärten Pferdekennern angeschlossen hatte. Bei Julian ging es sogar in Unbehagen über. Nicht weil Andrew sich über Pferde informierte, was absurd gewesen wäre. Bloß fühlte sich Julian auf einmal ausgeliefert und ungeschützt. Es war lächerlich, das wusste er, so zwischen Familie und Freunden. Sie würden sich nicht gegen ihn stellen, zumindest nicht so lange er es schaffte, nicht bei jedem Wort Henrys, schmachtend an dessen Lippen zu hängen. Was hatte dieser Mann nur aus ihm gemacht? Einen liebeskranken Dummkopf, würde er behaupten.
Unkontrolliert schweiften seine Gedanken hin zu ihrem heimlichen Tanz, immer und immer wieder. Es verlangte ihn in höherem Maße nach weiteren körpernahen Interaktionen mit ihm, was nicht unbedingt Tanzen einschloss. Um der Wahrheit genüge zu tun, er würde nehmen, was er bekam. Er war dem Mann verfallen - Hals über Kopf, so viel war ihm auch klar. Zu dumm nur, dass er niemand war, der sich damit begnügte, aus der Ferne leise zu leiden, entbrannt in sehnsüchtigem Verlangen für seinen Liebsten. Er wollte mehr. Und wenn nicht alles, dann so viel wie möglich.
»Ach was. Du reist ab? Noch vor dem Ball der Langleys? Wie schade.«
Julian wurde hellhörig bei der Frage seiner Mutter, denn sie war an Henry gerichtet.
»Ja, leider. Die Pflicht ruft«, erwiderte dieser lächelnd, dabei strich sein Blick rasch über Julian, wie er es schon so oft zu vor getan hatte. Doch diese Mal brachte er nicht ein aufgeregtes Prickeln an diversen Stellen seines Körpers mit sich. Stattdessen deutete sich dumpfe Angst in ihm an, brachte ein Gefühl von Verlust und Leere mit sich.
»Wir sind so stolz auf unseren Jungen.« Mit liebevoller Wertschätzung sah Lady Evans ihren Sohn an.
Bescheiden, mit geneigtem Kopf nahm Henry das Lob auf und sah wieder zu Julian.
Dieser hoffte inständig, das Gespräch würde fortgesetzt werden, da er, in seinen Gedanken versunken, den Beginn verpasst hatte. Nun hatte er keine Ahnung, wie lange Henry abwesend sein würde.
Zu seinem Verdruss begannen sie über etwas anderes zu sprechen.
Verdammt! Er war versucht sich die Stirn zu massieren bei den beginnenden Kopfschmerzen, die lediglich durch sein angestrengtes Nachdenken hervorgerufen wurden. Vielleicht konnte er aus den Informationen, die ihm bereits bekannt waren, darauf schließen, wohin Henry wollte und für wie lange. Redeten sie hier von Tagen oder Wochen oder hatte Henry gar vor seiner Verpflichtung im Ausland wieder nachzukommen?
Plötzlich erschöpft, lehnte er sich zurück.
»Geht es dir nicht gut?« Lady Evans saß ihm schräg gegenüber und hatte sein verändertes Befinden bemerkt. »Du siehst etwas blass aus.«
»Ja ... Es tut mir leid. Würdet ihr mich bitte entschuldigen?« Schon war er aufgestanden. Mit halbwegs empfundenen Bedauern sah er in die Runde, um noch einmal hin zu Henry schauen zu können, bevor er das Zimmer verließ.
Das Haus zu verlassen, wäre wahrscheinlich vernünftiger gewesen. Ein wenig frische Luft täte ihm ganz gut. Allerdings waren schon auf der Fahrt hier her schwere dunkel Wolken, einem Omen gleich, aufgezogen. Wenn es nicht schon regnete, würde es vermutlich jeden Moment beginnen. Darum entschied er sich langsam den Flur hin zur gut bestückten Galerie des Hauses zu gehen.
Erbaulich war, dass es sich bei den gezeigten Bildern nicht ausschließlich um Portraits von Vorfahren handelte. Die Evans ließen alles malen, was ihnen am Herzen lag, vom Pferd bis zum Schiff. Das wild aufgewühlte Meer war auch zwei Mal vertreten.
Stehen blieb er jedoch vor Bildern der aktuellen Familienmitglieder.
Er fühlte sich unbehaglich, als er daran dachte, wie er sich am Vortag in sein Zimmer zurückgezogen hatte. Mit Kohle hatte er angefangen aus dem Gedächtnis heraus, Henry zu zeichnen. Der erste Versuch war nicht wirklich schlecht geworden, trotzdem hatte es ihn nicht überzeugt. Es folgten etliche weitere und sie wurden von Mal zu Mal sinnlicher im Ausdruck. Irgendwann wurden aus den der Darstellungen des Gesichts Ganzkörperstudien, denen mit jeder Skizze ein wenig mehr Kleidung abhanden kam.
Es hatte sich etwas nach Besessenheit angefühlt, sich durch die gezeichneten Fantasien in Erregung zu versetzen. In der Hoffnung, Giles würde ihn nicht jeden Moment daran erinnern kommen, dass es Zeit war, Tee mit seiner Familie zu trinken, zog er sich auf sein Bett zurück, um seinem allzu offensichtlichen Zustand Abhilfe zu verschaffen.