»Ich würde Euch die taubengraue Weste ebenfalls einpacken.«
Nur am Rand seiner Wahrnehmung bekam Julian mit, dass Giles mit ihm sprach. Abwesend stand er an der Kommode und drehte seinen Siegelring zwischen den Fingern. Seit vier Tagen, also seit dem Tag der Abreise Henrys, überfiel ihn in unregelmäßigen Abständen Schwermut. Es hatte begonnen, als ihm bewusst wurde, Henry entfernte sich langsam aber beständig weiter und weiter von ihm.
Sie würden in kaum zwei Stunden die Reise nach Driftwood House antreten, um am morgigen Tag am Ball der Langleys teilzunehmen.
Vor seiner Begegnung mit Henry, wäre ihm es eine willkommene Abwechslung gewesen, dieses opulente Fest zu besuchen. Jetzt jedoch, hätte er auch nichts dagegen, einfach nur auf seinem Bett liegend, die Zeit verstreichen zu lassen.
Reginald stand statuenhaft still, da Vivianne ihm mit tapferem Lächeln den Kragen zurechtzupfte. »Ich wünsche dir viel Spaß.« Sie legte ihm die Hände auf die Brust. »Du wirst dich amüsieren, versprochen?!«
Gerade wollte er widersprechen, da verschloss sie seinen Mund mit einem Kuss. »Versprochen?«
Julian erkannte diesen vertraulich gurrenden Ton seiner Schwägerin. Sein Bruder würde ihr nachgeben.
»Du verlangst recht viel von deinem Ehemann«, brachte er leise hervor und räusperte sich. Der öffentliche Austausch von Zärtlichkeiten machte ihn verlegen, was Vivianne gnadenlos auszunutzen wusste.
»Das ist alles nur zu deinem Besten, mein Schatz.« Sie strich ihm über den Arm, nahm seine Hand und drückte sie. »Und ihr ...«, wand sie sich an die restlichen herumstehenden jungen Leute. »werdet für mich mittanzen und -essen.«
»Das werden wir«, antwortete Andrew mit aufgesetztem Ernst und wären nicht so viele andere Personen anwesend, hätte er womöglich vor ihr salutiert. »Oder wir fragen, ob man dir nicht etwas mitgeben könnte.«
»Untersteh dich!», schimpfte sie lachend. »Ich wünsche euch allen eine vergnügliche Zeit.«
Es gab keinen, der es nicht bedauerte, Vivianne zurücklassen zu müssen.
Zum Abschied umarmte Julian seine Schwägerin. »Und du wartest mit dem Baby bis wir zurück sind», flüsterte er. Es war nicht so, dass er unbedingt einer Geburt, wenn auch nur außerhalb des Raumes, beiwohnen wollte. Eher fand er die Vorstellung grausam, Vivianne müsse sich den Strapazen ganz allein, in dem Wissen ihre Familie nicht in der Nähe zu haben, stellen.
Die Fahrt nach Driftwood House war lang und ermüdend. Es war unangenehm schwül, obwohl der Himmel fast wolkenlos war.
So ruhig, wie nur irgend möglich, versuchte Julian zu atmen, dabei sich bestenfalls kaum zu bewegen, was auch gut auf den größtenteils ebenen Straßen gelang. Er konnte sich gerade noch davon abhalten, die Finger erneut unter das Krawattentuch zu schieben, in der unsinnigen Hoffnung, es würde danach nicht mehr versuchen, ihn zu erdrosseln.
Das Gesicht seiner Schwester, die neben ihm saß, war gerötet. Sie wirkte erschöpft mit ihren gläsernen Augen und dem schwerer gehenden Atem.
»Es ist nicht mehr weit«, versuchte er sie aufzumuntern. »Möchtest du dich ein wenig anlehnen?«
»Ich weiß nicht«, kam es dünn von ihr zurück, dabei kippte sie schon gegen seine Schulter.
Andrew, ihm gegenüber, wischte sich unauffällig einen Tropfen Schweiß mit dem Daumen von der Schläfe. »Ich frage mich gerade, was peinlicher für mich wäre. Ohnmächtig auf Driftwood House anzukommen oder nackt.«
»Warum denn gleich nackt?« Eigentlich fand Julian beide Vorstellungen amüsant.
»Keine halben Sachen, Julian. Keine halben Sachen.« Jetzt zog Andrew doch ein Taschentuch hervor, um sich die Stirn abzutupfen.
»Dann müsste ich Josi die ganze Zeit über die Augen zuhalten.« Zu gern hätte er ebenfalls sein Taschentuch bei der Hand gehabt. Dafür benötigte er allerdings den Arm, an dessen Schulter Josi lehnte und seine Erziehung verbot es ihm, ihr Unannehmlichkeiten zu bereiten, nur um seine eigenen zu verkürzen.
Andrew bemerkte seine Angespanntheit.
»Warum denn das?«, fragte Josi träge.
»Weil es für dich, in dieser Situation, unanständig wäre einen nackten Mann anzusehen«, antworte Julian unangenehm berührt, nickte gleichzeitig Andrew zu, der mit fragendem Blick auf sein Taschentuch deutete.
»Anständig hat mich bisher nicht wirklich weiter gebracht. Vielleicht sollte ich es mal mit unanständig versuchen.« Josi seufzte.
Andrew beugte sich hinüber, schob Julian langsam die Hand in die Fracktasche und sah ihn verrucht lächelnd an. Zwinkernd drückte er ihm das blütenweiße Tuch in die Hand. Wieder zurückgelehnt, meinte er an Josi gerichtet: »Um diesen Luxus einigermaßen genießen zu können, müsstest du erst einmal einen Ehemann unter die Erde bringen, Liebes.«
»Mhm ... Wenn es doch nur nicht der eigene sein müsste«, sinnierte sie.
Auch wenn er die Überlegung seiner Schwerster, weniger Wert auf ihre Benehmen zu legen, nicht gut hieß, musste er dennoch über den Verlauf der Unterhaltung schmunzeln.
»Nun, wenn du dich geschickt darin anstellst, andere Ehefrauen von ihren Angetrauten zu befreien, könntest zumindest finanzielle Freiheit erlangen«, schlug Andrew übermütig vor.
Josephine kicherte glücklich und Julian hatte erschreckenderweise, sofort das Bild seiner dunkel gekleideten Meuchelmöderschwester vor Augen.