Ohne jemandem, der ihnen den Weg wies, war es Julian und Andrew nicht möglich in dem verwinkelten Gebäude das Frühstückszimmer aufzuspüren.
Da es draußen immer noch trüb war, wirkte der Raum leicht düster.
»Guten Morgen, ihr Lieben. Schön, dass ihr schon wach seid«, begrüßte sie Lady Wendridge. Josephine und Lord Wendridge folgten ihr. Sie hatten gerade ihre Mahlzeit beendet. »Ich habe mir überlegt, wir könnten im Laufe des Vormittags aufbrechen. Lady Langley ist so gütig, uns Proviant mitzugeben, nur für den Fall, wir hungrig werden sollten.«
»Euch auch einen guten Morgen. Giles und Timothy sind schon fast fertig mit dem Packen«, versicherte Julian.
Die Worte seiner Mutter bedeuteten nichts anderes, als: »Beeilt euch, Jungs. Wir fahren bald los.«
Beim Eintreten stellten beide ernüchtert fest, sie waren nicht nur nicht allein, was bei den vielen Hausgästen ein Wunder gewesen wäre, sie würden auch noch einigen Herren Gesellschaft leisten. Unter anderem Coverstone Jr. Dieser hatte sich zwar bisher recht unauffällig benommen, aber etwas an seinem kleinen, verkniffenen Lächeln zur Begrüßung erweckte Julians Wachsamkeit. Dass es Andrew nicht anders ging, konnte er an der scheinbar wohlwollenden Begrüßung samt zuckersüßem Lächeln ausmachen.
Kaum hatten sie sich, in einem annehmbaren Abstand gesetzt, begannen Coverstone und seine Begleiter zu lästern. Sie hatten Andrew im Visier wegen seinem unvorsichtigem Verhalten am Vortag.
Völlig gelassen, lehnte sich sein Freund zurück und nippte am Tee. »Lady Willson hat mir eine Einladung ausgesprochen. Du weißt nicht zufällig, ob deine Familie für irgendetwas zugesagt hat?«
»Da bin ich überfragt. Meine Mutter oder auch Reginald haben den besseren Überblick.« Julian juckte es in den Fingern, Rührei nach diesen lästernden Kretin von Mensch zu werfen. Coverstone zu ignorieren, war die bessere Alternative, wie seine kurzen Blicke in ihre Richtung verrieten. Er konnte seinen Ärger nur schlecht verbergen, so wie seine Nasenflügel bebten und sein Mund ganz klein wurde.
»Habt ihr schon gehört?«
Da war etwas in der Art, wie Coverstone sprach. Etwas, dass Julian ein ungutes Prickeln im Nacken bescherte.
»Die Polizei hat tatsächlich eine geheimen Treff von Sodomiten in der Travin-Street aufgespürt. Mitten in der Stadt. Das muss man sich mal vorstellen«, tönte Coverstone reißerisch.
In Julian zog sich etwa zusammen, das ihm Übelkeit bescherte. Er zwang sich ruhig weiter zu atmen, konzentrierte sich einzig auf seinen Toast, seine Tee, darauf, dass seine Bewegungen nicht fahrig wurden.
»Stimmt. Ich habe es heute morgen in der Zeitung gelesen. Diese degenerierten Perversen mitten unter uns. Es ist unglaublich.«
Julian sah nicht auf, wusste nicht wer gesprochen hatte. Sein Herz klopfte viel zu schnell und es rauschte unangenehm in seinen Ohren.
»Wer weiß, ob man diesen Schweinen nicht schon einmal begegnet ist. Bei einem Spaziergang im Park vielleicht, mit Frau und Kind.«
»Oh mein Gott«
»Es muss ein richtiger Club gewesen sein. Wie ein Herrenclub, in dem sie ihrem abartigen Treiben nachgegangen sind. Richtige Orgien sollen stattgefunden haben, an Widerlichkeit kaum zu überbieten. Habt Ihr auch davon gehört, Lord Andrew?«
Julian konnte es nicht verhindern, dass sein Blick seinem Freund zuflog.
Andrew hob gemächlich den Blick von seinem Frühstück. Die Augen waren schmal und funkelten besorgniserregend. Seine Mundwinkel kräuselten sich zu einer Art Lächeln. Alles in allem macht er den Eindruck, als wolle er, bei einer falschen Bewegung seines Gegenübers, diesem die Kehle herausreißen.
»Wie bitte? Ich habe Euch nicht zugehört, Robert.« Seine Stimme war auf unheimliche Art ruhig.
Auch Coverstone bemerkte etwas. »Die Polizei hat einen Verein von Sodomiten festgenommen.«
»Nein, davon hörte ich bisher nicht.«
Selbst Julian bekam gerade Gänsehaut bei Andrews Tonfall.
»Seid Ihr nicht der Meinung, die Polizei tut gut daran, diese Perversen dingfest zumachen?« Einer von Coverstones Freunden war die Stimmung entgangen und er sprach auf die gleiche empörte Art, wie vor Andrews Gesprächsteilnahme.
Andrew sah ihn an, freundlicher als Coverstone. Als er seinen Gegner dann wieder ins Visier nahm, blickte er ihn unverwandt in die Augen, eine frostige Zufriedenheit zierte seine Züge. »Aber natürlich sollte sich die Polizei um Perverse kümmern.«
Coverston schluckte, doch noch ehe er etwas erwidern konnte, vernahmen sie weibliche Stimmen aus dem Flur. Keiner der Herren würde es wagen in der Gegenwart der Ladies ein derartiges Thema auch nur anzuschneiden.
Die eintretenden Damen wurden freundlich begrüßt. Andrew schien wieder der Alte.
Krampfhaft versuchte Julian noch einige Bissen herunterzuwürgen. Er fühlte sich auf schreckliche Weise losgelöst von seinem Körper.
Wie durch einen Nebel ging er an der Seite seines Freundes zurück auf sein Zimmer. Andrew blieb bei ihm.
»Giles? Würdest du uns bitte allein lassen?
Seine Stimme kam ihm so frei von jeglichen Emotionen vor, leer wie er sich fühlte.
Kaum war Giles gegangen, lehnte sich Andrew, der kaum einen Schritt in den Raum gemachte hatte, gegen die Tür. »Mein Gott, Julian ...«, mehr brachte er nicht hervor. Er atmete hektisch und war unnatürlich blass.
»Setzt dich. Komm.« Eben noch hatte sein Freund ihn vor der unbeabsichtigten Offenlegung seiner Gefühle bewahrt, so war er es jetzt, der sich um ihn kümmern musste.
Er nahm in bei der Hand, zog ihn von der Tür weg. Den Arm um die Schultern gelegt, schob er ihn zu einem Sessel. Einen zweiten zog er hinzu und setzte sich ihm gegenüber.
»Kanntest du jemanden dort?«, fragte Julian leise. Ihm war der Club fremd, doch eigentlich spielte es auch keine Rolle.
»Ich war vor ein paar Jahren ein oder zwei Mal dort. Also vermutlich, nein.«
Julian sah ihn an. Sah die Wut und Hilflosigkeit, die Angst und die Verzweiflung, als würde er in einen Spiegel schauen. Es gab keine Worte, um es erträglicher zu machen.
Andrews tränengefüllte Augen richteten sich auf ihn. Zitternd erhob er sich, ging einen Schritt und sank vor ihm auf die Knie. Die Arme seines Freundes umschlangen ihn, das Gesicht an Julians Brust verborgen, bebte er in dem Versuch nicht vollkommen die Beherrschung zu verlieren.
Es war nicht möglich für Julian ihn zu trösten. Er umarmte ihn selbst haltsuchend, die Wange auf die weichen Locken gelegt, schmerzte sein Hals im Versuch nicht zu weinen.
»Wir können uns jetzt nicht gehenlassen«, murmelte er, nicht zu letzt zu sich selbst.
Andrew hob sein Gesicht, Wimpern und Wangen feucht. Julian wischte vorsicht über die gerötete Haut. Sie mussten sich nichts sagen, da sie wussten, was das alles bedeutet. Zum einen hatte es einen Informanten oder Spitzel in den Räumlichkeiten gegeben, in denen sich diese Männer für kurze Moment so geben konnten, wie sie waren, sie selbst sein konnten ohne Repressalien zu erwarten. Ein kurzes Durchatmen von einer Welt, in der sie als das, was sie waren, gar nicht existieren durften.
Zum anderen landeten die aufgegriffenen Männer, die nicht die Mittel hatten sich freizukaufen, geradewegs im Zuchthaus. Als verurteilter Sodomit rangierte man in der Regel am unteren Ende der Hackordnung.
In seiner diffusen Angst konzentrierte sich Julian auf Andrew. Sein Freund war hier, in Sicherheit, genau wie er selbst. Coverstone wollte nur stänkern. Er wusste gar nichts.
»Henry!«, sprach er einen erschreckenden Gedanken an.
So wie Andrew verstand, nahm er Julians Hände in seine. »Es wird ihm gut gehen. Wieso sollte er dort gewesen sein? Er war jahrelang im Ausland und kennt sich hier kaum aus.«
»Du hast recht.« Nur langsam beruhigte sich sein rasender Herzschlag.
Noch einmal drückte Andrew seine Hände bevor er aufstand. »Wir werden jetzt unsere restlichen Sachen packen und zurück nach Seashell Castle fahren. In etwas über einer Woche wird Henry wieder bei dir sein und ich werde, wenn ich Coverstone das nächste Mal sehe, ihn rupfen wie eine verfluchte Weihnachtsgans«, prophezeite Andrew finster. Er wand sich zum Gehen, zögerte jedoch schon beim ersten Schritt. Er sah noch einmal zurück. »Weißt du, Julian?« Da war so viel Schmerz. »Manchmal hasse ich mich für das was ich bin.« Ein winziges Lächeln so zart und voller Zuneigung durchdrang die Düsternis. »Und dann seh ich dich.«
Julian wusste nicht einmal, dass er aufgestanden war. Bewusst war ihm nur, wie er Andrew fest an sich drückte, eine Hand im Haar auf seinem Hinterkopf, die andere auf dem Rücken.
»Nichts, aber auch wirklich nichts an dir ist hassenswert«, schaffte er es gerade so noch zu sagen, bevor er aufschluchzte.